würd ich twittern

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Würd ich twittern, würd ich twittern: „Ist ja schon eine Hübsche, die Tochter von diesem russischen Doppelspion.“

Ich twitter aber nicht. Über Ostern pflege ich die alte Dame nun eine Woche lang. Sie wird immer schwächer. Manchmal bin ich jetzt ihr Mann, manchmal ihr Vater. Und manchmal ist meine Frau nun ihre Schwiegermutter. Aber nur manchmal. Meistens ist ihr Geist klar wie Glas und Kloßbrühe.

Sie kaut den ganzen Tag lang ungesalzene Erdnüsse, Butterkekse oder Weintrauben, die sie aus den kleinen Schälchen an ihrem Wohnzimmerplatz ertastet. Sie hat die Augen meist geschlossen, das Kauen ist eine Art Mantra für sie. Sie kaut auch, wenn sie eigentlich gar nichts im Mund hat. Und schaut dann ab und an mit ihrem verbliebenen einen Auge über die Terrasse hinüber zur blauen Mauer, den dunstig schimmernden schönen Linien der schwäbischen Alb in der Ferne. Vorbei an dem alten Vogelhäuschen, einst für sie gebaut vom Wagnermeister Gustav, der sich sogar noch erinnern konnte, dass die Leute im Dorf anfangs meinten, die Milch würde sauer und die Kälber missgebildet, wenn man die Kühe mit der neuartigen Eisenbahn transportieren würde. Das muss sehr lange her sein.

Denkt an Cuxhaven, ans Heidelberg nach dem großen Kriege, an Hamburg und an Pillau in Ostpreußen. Und an Kiel und an Berlin, dort vor allem an Lankwitz. Und wie ihr Papa, der Haudegen von der Marine, es nicht schaffte, ihre Lieblingspuppe aus dem zweiten Stock vor den Flammen zu retten nach einem vermutlich englischen Luftangriff auf die S-Bahngleise, bei dem auch das nahestehende Mietshaus abbrannte. Und wie ihm dann das Metall der vor Hitze schmelzenden Dachrinne auf die Marineschirmmütze tropfte und er nur deshalb davon kam, weil er eben diese Schirmmütze trug.

Viel später war ich oft mit der Kirschkern im Stadtbad Lankwitz, kaum zwei Steinwürfe vom damals abgebrannten Areal entfernt. Es heisst heute „Bernkastler Platz“ und ist ein Pärkchen. Früher hieß es „Im Rosengarten“. Dahinter die Bruchwitzstrasse. Man sieht noch vom Satellit aus, wo das Gebäude einst stand. Heute vielleicht ein kleiner Fussballplatz, wo einmal ein Kleinkind am Rattengift tragisch verstarb. Immer diese Orte.

Und denkt an ihren Mann, der schon seit zweiunffünfzig Jahren nicht mehr da ist. Sechs Jahre lang waren sie verheiratet gewesen. Richtige Mahlzeiten gibt es für sie nicht mehr. Höchstens, die Kirschkern und die Familie kommen hinauf zum Waldrand mit dem Essen aus dem Pfarrhaus, auf Rädern und aus Kisten. Schnell ist dann der Tisch gedeckt, damit nichts kalt wird. Sie isst auch dann kaum etwas, genießt aber die vielen Stimmen. Das ist das schönste, sagt sie, die Stimmen und das Palavern, gerne auch durcheinander.

Morgen früh fahre ich sie ins Krankenhaus, wo dann ihr Blut irgendwie aufgefrischt werden soll. Ihr Hämoglobin ließe zu wünschen übrig. Deshalb fällt mir das alles gerade wieder ein. Man weiss ja nie, was übermorgen ist. Und auch, weil es jetzt so oft so traurig ist alles. Dabei doch so reich.

Ich wiederhole mich mit diesen uralten Geschichten. Das ist nicht gut. Daher plane ich, bald auch einmal die Story dieses kleinen Glassplitters endlich aufzuschreiben, der mir seit bald einer Woche schmerzlos aus der rechten Hand wächst. Wie in fast jedem zweiten oder dritten Frühling.

Solche Vorgänge sind mir eher fremd und ungewöhnlich, weil ich ja schon als Kind, hinter der vorgehaltenen Hand einer Lieblingsnenntante ungeklärt halbadliger Herkunft, hörte, dass grausame Berichte über nach Jahren der Wanderungen im Körper wieder auftauchende Glassplitter schlicht Erfindungen von meist geheimen politischen, medizinischen oder religiösen Verschwörungen seien, die den klaren Fortgang der Welt mit solchen Erzählungen missbrauchend beeinflussen wollten.

Es war ein heisser Sommer im Ungarn von 1990, im kleinen roten Peugeot, als die Mineralwasserflaschen noch ausnahmslos aus Glas waren. Ich trug Sandalen und stolperte über eine Bordsteinkante am Donauknie mit zwei solcher Flaschen in den Händen. Würd ich twittern, ich würde jetzt also im Übersprung twittern: „Ist ja schon eine Hübsche, die Tochter von diesem russischen Doppelspion.“

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