29.1.2019/Andor

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Allmählich wird eine möglicherweise gemeinte Innenarchitektur wieder sichtbar. Die Klärung der Räumlichkeiten der 1960er Jahre hat etwas Reinigendes. Sodann die Kritik der 1960er Jahre, ästhetisch, dazu subjektiv und angewandt. (…) Und aber auch der Bezug zum „Neufertschen Versuchshaus“ im kleinen Dorf Gelmeroda bei Weimar, in dem der Architekt des Waldrandhauses, mein Daddy, der sich leider allzufrüh weggemacht hat und mir nie mehr persönliche Auskunft geben konnte, einen Teil seiner Jugend verbrachte (hier: x).

Bevor er sich freiwillig meldete in den großen Krieg, sei es zur Erlangung der Hochschulreife und oder aus verklärt ideologischen Gründen. Habe Skizzen und Entwürfe gefunden über ein für heutige Verhältnisse eher kleines Waldrandhaus, das es so allerdings nicht gibt. Wahrscheinlich wäre die Realisierung vieler ursprünglicher Ideen zu teuer gewesen. Auffällig ist eine – seine – Vorliebe für wechselnd geschossübergreifende unterschiedliche Raumhöhen. Ein Kinderzimmer, kaum 3×3 Meter in der Grundfläche, aber mit Luftraum über zwei Stockwerke. Geplant, aber nicht gebaut. Direkt daneben ein kleines Zimmer für’s geplante dritte Kind, die Raumhöhe misst gerade mal 2,10m. Daneben wiederum ein noch kleineres Kämmerchen, in dem die Kinder irgendwie Nachtruhe finden sollten, im engen Doppelstockbett. Und vom 1. Stockwerk aus kann man ein Fensterchen öffnen hinunter in die Küche.

Und der jeweiligen Köchin/dem Koch ein Küsschen hinunterwerfen. Das hat was, bis heute.

Überhaupt, die unterschiedliche Größe der Räume. Ich erinnere mich an studentische Mieter in den späten 1960ern in Kleinräumen mit Waschbecken im Zimmer, oder ohne. Wo geduscht wurde, ich weiß es nicht. Damals wurde offenbar selten oder nicht zu Hause geduscht, man wusch sich am Waschbecken, zur Not über den Flur. Oder eben woanders. Alle Mieter waren meist nett zu mir und zogen irgendwann aus. Oder um oder weiter. Um zu heiraten, zu promovieren oder weil sie weg vom Waldrand wollten. Wohin, ich wusste das nie, weil es mich nicht interessierte, da ich zu klein war. Aber es war auch egal, weil zu Weihnachten stets Grüße an meine Mutter kamen, dazu den Hund und mich. Das war wichtig.

Einer der Mieter hieß „Herr Ohmeyer“, ein anderer „Herr Walker“. Herr Walker war auch Panzerfahrer, das beeindruckte mich. Mir war es aber vor allem gelegen, daß sie sich mit meinem liebsten Hund, einem Boxerrüden mit Namen ‚Andor‘ („…von Lampertsrück“, so der Stammbaum, der der alten Dame überaus wichtig war) gut verstanden. Andor, dem stolzen Boxerrüden, musste das Bellen erst mühsam beigebracht werden. „Andor“ stünde für „Andreas“ auf Ungarisch. Ich habe nie verifiziert, mir gefiel der Name, der Rest war mir egal. Es war Professor Schiwago, auch ein Mieter, der sich nicht zu schade war, sich mit dem noch jungen Hund vor die gläserne Flurtüre hinzuknien und auffordernd bellende Geräusche in Richtung der Eingangstüre zu knurren. Ich erinnere gut, wie Andor ihn belustigt von der Seite her anstarrte und ihm dann – ohne lautzugeben – freundschaftlich grinsend (Andor konnte grinsen) das Gesicht ableckte.

So ging das Wochen. Monate.

Irgendwann bellte Andor dann eben. Aber eigentlich nie wirklich böse. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass es die Menschen glücklich machte, wenn er bellte. Und dass es offenbar dazugehörte zum stolzen Rüdendasein, zumal mit Stammbaum. Am liebsten aber zerkaute er Gummistiefel, die irgendwo vor Haustüren in der Nachbarschaft abgestellt waren. Oder auf den Baustellen der Erweiterung des Neubaugebietes die Schuhe der Handwerker. Meine Mutter hatte rechtzeitig eine damals noch neue „Hunderversicherung“ abgeschlossen.

Vorschreiben ließ er sich nichts. Wenn er beschloß, sich zwei Stunden lang im Wald herumzutreiben, dann machte er das eben. Meine Mutter konnte Kopfstehen, das war ihm egal. Das gefiel mir. Er lächelte das weg, schaute einen noch kurz entschieden und frech an und verschwand mit einem Sprung über den Zaun. Nach drei Stunden war er dann wieder da, freundlich, dreckig, offenbar voller Erlebnisse und froh. Wenn er einen Hasen sah auf den Wiesen frühmorgens bei der Hunderunde übers Streuobst, dann jagte er los und er hat mich oft meterweit hinter sich her geschleift. Die Leine wollte ich nicht loslassen. Meine Kleidung war grün und nass von der Wiese und ich musste immer so lachen. Er auch (er konnte ja lachen). Meine Mutter nicht, denn ich musste mich ja noch zur Schule umziehen, wie sie meinte.

Schon lange stehen auf diesen Wiesen Häuser, die jetzt auch schon alt sind und in denen die Leute reihenweise nun sterben, nachdem sie vorher verwirrt wurden.

Bis heute bin ich Andor für Vieles unsagbar dankbar. Er hat mir eine Menge beigebracht. Ich habe viel von ihm gelernt, wie man sich als Mann verhalten muss. Als stolzes Männchen. Er war auch sehr geduldig und verständnisvoll mit mir, wenn es um die Alphatierdinge und Rangfolgen ging. Wer Chef sei, das war ihm relativ egal. Fast würde ich daher sogar sagen, er war weise. Und einfach ein Geschenk des Himmels. Für mich. Kann gut sein, er hat mir etwas über wahre Liebe und Zuneigung beigebracht. Ich bin mir darüber sogar sicher.

Am 6.1.1969 wurde er geboren. An seinem Geburtstag bekam er immer eine große runde Wurst mit rotem Schleifchen. Er ist gestorben irgendwann im frühen oder mittleren Jahr 1981. Auf seinem Grab im Garten wächst stetig eine kleine Rose, die sich bis heute nicht unterkriegen läßt vom verwilderten Rasen, anderen Gräsern und Gewächsen und auch nicht von der Zeit.

parole EMIL

15.1.2019, Waldrand / Heute die halbhohen Schlupf-Timberlands von 2010 zur Neubesohlung gebracht. Teure Schuhe kaufen lohnt sich. Vorher im Baumarkt eine weitere Aluminiumkiste gekauft zur Archivierung. Jene soeben mit einer handgeschnittenen Zinkblechschablone aus alten DDR-Armeebeständen, erstanden billig vor 12 Jahren am Arkonaplatz, besprüht/beschriftet. Trocknet bis morgen. Alte Liebesbriefordner gestapelt, ebenso Scheidungsakten von 1959, alles nicht meins. Kommt alles in die Kiste, auch die Manuskripte zu „Die Pflege des gesunden Kindes“ von 1967. Eine Kiste wird nicht genügen. Nachmittags taute es, dann kam ein Gewitter und nun ist alles wieder verschneit und gefroren. Eben noch den öffentlichen Fußweg entlang des Grundstücks gestreut für die Zeitungsfrau, die morgen früh den Nachbarn die Zeitung bringt ans Haus.

Ein sehr schönes Wochenende in Schwäbisch-Hall haben wir verbracht. Zu zweit, in einem Hotel direkt am Marktplatz. Adelshof sein Name. Ich möchte das gerne empfehlen.

Sodann nach Berlin gefahren. Alles war grau dort, nass, dunkel, kalt und dreckig. Ich mag das. Viele gute Freunde getroffen und eine Menge aushäusig gewesen. Der Kohleofen im dortigen Atelier tut gute Dinge, ich hoffe, sie lassen ihn mir noch recht lange. Fünf mal ist mir der Bus direkt vor der Nase weg. Das war fast schon eine Serie, die ich aber annehmen konnte. Völlig gelassen. Ein schönes Geburtstagsfest in Moabit habe ich besucht, zwölf Jahre ist das Kennenlernen nun her. Schön, dass sich das alles schon lange verpuppt hat, diese Zeit. Sie nimmt mir niemand und ich kann alles in eine Kiste packen. Und klar wie Glas, Kloßbrühe und Klärchen.

Bin oft froh jetzt. Sowie erleichtert. Und habe viel vor. Das gefällt mir. Die neue Wohnung ist ein Nest, in dem ich gerne bin. Reutlingen ist eine äußerst verkannte Stadt, wie so viele halbgroße Städte. Das muss sich ändern. Außerdem werde ich nun Müll-Spezialist. Auf dem Wertstoffhof könnte ich gut arbeiten. Vielleicht sollte ich einen eigenen Wertstoffhof aufmachen. Ich liebe einfach: Die Dinge. Und ihre Aura. Und ihre Unschuld. Ganz gleich, welche. Fast alle.

Das Hohenlohische ist eine wunderbare Gegend./(Ebenso die Schwäbische Alb sowie der Nordschwarzwald sowie generell der Schwarzwald. Dazu das Allgäu und sowieso Oberschwaben. Und die Weiten Brandenburgs natürlich ebenfalls.)

In der Diskussion um den Dieselmotor erstaunt mich am meisten, dass verschiedenste Argumentationen sich kaum auf geklärte oder eindeutig nachgewiesene Fakten und Erkenntnisse berufen. Das macht mir Sorge und Runzeln. Es scheint der Wiedereinzug vorschnell emotiononal gefühlter Scheintatsachen zu sein in konkrete politisch weitreichende Entscheidungen. Das war vor zwanzig oder dreißig Jahren noch anders. Ich kenne das so nicht und vieles kann ich nicht nachvollziehen. Umso weniger, je mehr ich mich hie und dort konkret informiere, wie ich das so gelernt habe in der Schule. Ähnlich bezüglich des derzeitigen Schneewetters: Die Klimawandelleugner fühlen sich bestätigt und melden sich sogleich verächtlich in Sozialmedien zu Wort. Ohne vorher gründlich zu recherchieren. Geschweige denn, erst einmal abzuwarten. Man hält da doch als halbwegs Denkender lieber kurz erstmal den Mund, oder nicht? Wenn man nichts Genaues weiß. Die Ratio ist ein wertvolles Teil. Altmodisch.

Las im Mainstream vom mainstreamendem „Hodenlifting“. Kann das unbesorgt abhaken. Dafür allerdings rauche ich noch, mein letztes Problem. Weiss aber, was gemeint ist, aus gesamtdeutscher Sauna. Bin demutsvoll dankbar, solidarisiere mich aber auch mit allen Betroffenen, da ich nichts Schlimmes an hängenden Hoden finden kann. Stets wird ja die Vulva immerneu entdeckt. Seit ich denken kann. Da habe ich auch überhaupt nichts dagegen. Aber wieso nicht endlich auch einmal das Skrotum mitsamt angrenzendem Restgenital des wohlwollend und liebevoll friedlich sinnlichen Mannes, egal wie alt?

Ich solidarisiere mich daher frech mit allerlei „alten weissen Männern“. Nicht mit allen natürlich. Es ist aber ja nun nicht alles nur Mist, was von denen so kommt. Und niemals würde ich so etwas umgekehrt zurkenntnisnehmend gutheißen. Auch nicht, als ich jung war: „Alte weiße Frauen“ – fürchterlich diese Verortungen. Was soll das. Mein Vokabular und mein Verständnis kennt das nicht und kannte das auch nie. Egal, wer sich nun hoden- oder busenhängend auf solcherlei einschwenkt. Das ist ein wenig wie beim DIESEL oder der Energiewende. Wieso ist derzeit immer alles so hässlich formuliert und Ausschließlichkeiten zugewiesen? Dazu in höchst abwertender Weise. Abgrenzung ist die allseitige Devise, anstatt Gemeinwesen. Wie im Straßenverkehr.

Empörtheit oder Schockiertheit erspare ich mir. Viel zu sehr wird es ja nicht erst neuerdings darauf angelegt, zu empören oder zu schockieren. Wenn man darüber das „Schockiert-sein“ endlich mal abstellen würde, dann wäre schon viel dafür getan, dass die provozierende Blödheit endlich aufhört, sich ewig neu zu erfinden. Ist wie auf dem Spielplatz: Das Dorf erzieht die Kinder, notfalls und sogar auch die AfD.

9.1.2019, Berlin / Salman ist offenbar gut aufgehoben in seiner Firma. So sagt er. Die Ausbildung macht ihm Spaß. Männerladen, Maschinen, mehr und mehr Verantwortung, die ihm gut tut. Und die er gerne annimmt. Er legt sich ins Zeug und bekommt Anerkennung. Das Alleinewohnen funktioniert. Auch das frühmorgentliche Aufstehen. Er kann jetzt sogar monatlich etwas Geld ansparen, worüber er sehr stolz ist. Frau Mullah hat ihm das vorgelebt und beigebracht. Und er zahlt nun regelmäßig in die Sozialsysteme ein. Zudem werden ihm – so ist die Regelung – jeden Monat vom Gehalt Beträge seitens des Amtes einbehalten. Das ist sein Beitrag zur Rückerstattung der Kosten, die für ihn in den ersten zwei Jahren nach seiner Ankunft in Deutschland angefallen sind.

Er hat Anzeige erstattet gegen zwei albanische Jungs, die ihm im Regionalzug nachts sein Telefon abnehmen wollten, was denen natürlich nicht gelungen ist. Ein bisschen Blaues Auge. Einer ist vorbestraft und nun untergetaucht. Seither häufen sich Besuche bei ihm, von Gestalten, die ihn dazu bewegen wollen, die Anzeige zurückzuziehen. Jemand hat den Besuchern verraten, wo er wohnt. Mal wird ihm eine junge minderjährige Frau als Besänftigung angeboten, mal reden die Besucher von muslimischer Brüderlichkeit. Der Untergetauchte würde natürlich bestraft, aber doch bitte nicht von der Polizei. „Die waren sehr freundlich“ sagt er. „Natürlich sind die freundlich, erstmal“ sagen wir ihm. Hoffentlich geht das alles gut und ihm stößt nichts zu. Denn eigentlich will er einfach nur seine Ruhe.

Irgendwann will er nach Hamburg gehen. Dort gäbe es ja Arbeit genug für Leute mit seinem Beruf. Hamburg ist „meine Stadt!“, sagt er mit leuchtenden Augen. Die Firma beteiligt sich vielleicht demnächst an den Kosten seines Führerscheins, denn sie brauchen Leute mit Führerschein. Vielleicht ja sogar dann irgendwann für den LKW. Von seinen Kollegen mit Migrationshintergrund sei er derjenige, der fast am besten Deutsch sprechen würde, sagt er, nicht ohne Stolz. Und das, obwohl die Anderen ja schon viel länger da seien.

Das macht natürlich auch uns ein wenig stolz. Als Ex-Pflegeeltern. Nun ist er bald seit drei Jahren hier. Schon drei Jahre. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Erst drei Jahre? Alles war neu für ihn. Eine ungeheure Leistung seinerseits, was er in dieser Zeit gelernt und vollbracht hat.

Sein kleiner Bruder hat ihn im Internet entdeckt und sich gemeldet. Große Freude! Er ist nun wohl in der Türkei. Geflüchtet aus dem Heimatort in Afghanistan mit irgendeiner von dort ebenfalls flüchtenden Familie. Die eigene Familie gibt es ja nicht mehr nach dem gewaltsamen Tod des Vaters. Sein Bruder ist jetzt ungefähr elf Jahre alt und fragt ihn, Salman, seinen größeren Bruder, ob der Geld brauche. Er arbeitete wohl zunächst in einer türkischen Fabrik, nun aber in einer Landwirtschaft. So berichtet jedenfalls Salman, der nun alsbald unbedingt irgendwie in die Türkei reisen will, um dort seinen kleinen Bruder endlich wiederzutreffen. Was derzeit für ihn natürlich kaum möglich sein sollte.

/Was sind das alles für Geschichten? Und Lebensläufe? Und wer schreibt das alles irgendwann auf?

Heute (18.1.2019) wurde im Bundestag über die Einordnung einiger Mahgreb-Länder als „sichere Herkunfts-Staaten“ debattiert. Daher, um es einmal wieder anzumerken: Wann endlich wird das im Chaos versinkende Afghanistan als „unsicheres Herkunftsland“ eingestuft?

Und immer noch verbirgt er, Salman, oft schamhaft sein Lachen hinter seiner vorgehaltenen Hand. Wie ganz am Anfang. Das ist sehr schön, anrührend und sympathisch, das mitzubekommen. Ein geschlagener Charmeur, und oft noch ein kleiner Junge, mitten drin im Großwerden. Der sich garantiert nicht jünger gemacht hat bei seiner Ankunft in Bayern, sondern eher schon älter sein wollte und cool. Der nach wie vor hanseatischen Hip-Hop hört, weil er offenbar irgendetwas von sich darin gefunden hat. Und der immer wieder grinsend sagt: „Ey Bro, ab 20/20 ist Schwein halal!“

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wie leben denn so funktioniert. die alte dame ist nun im pflegeheim. sie hat das haus angefüllt über jahre mit größtmöglicher geschichte. und ich bin größtmöglich, dummerweise, auch immer wieder empfänglich dafür. nicht nur, aber auch. eine zeitaufreibende und fressende liaison, denn nun muss ich sichten und räumen, um diese ganzen jahre größtmöglich schnell und fair zu ordnen. die eine parole EMIL jagt die nächste, auch wenn diese bereits vorhergehende jahre zurückliegen mag. gern bin ich EMIL, aber ich heiße halt nicht so.