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Mein Vater hatte es wirklich blöd erwischt im letzten Jahrhundert. Das kann man so sagen. Geboren 1920 in Stuttgart, kurze Zeit nach der Flucht seiner elterlichen Familie aus Südrussland, aufgewachsen in Berlin und Weimar, war er gerade neunzehn Jahre alt, als er sich freiwillig meldete zur Wehrmacht. Manche sagen, er und seine Freunde hätten das Abitur geschenkt bekommen für diese Entscheidung zu Kriegsbeginn. Es folgten fünf Jahre Kriegsdienst, zunächst in Frankreich und dann in Russland. Dann fünf Jahre Kriegsgefangenschaft ebenda in Russland. Er bekam Typhus und allerlei Anderes, aber überlebte und kehrte 1949 zurück. Das waren also zehn wichtige Lebensjahre, die normalerweise zu anderen Identitätsfindungen benötigt werden.
Er heiratete schnell, wurde schnell geschieden und in den fünfziger Jahren dann studierte er Architektur am Weissenhof in Stuttgart. Seine Passion war die Malerei – oft großformatige Aquarelle, sehr expressive Landschaften und Blumenbilder. Er bekam eine Anstellung im Architekturbüro seines Vaters. Er heiratete erneut, mein Bruder wurde geboren, und er wurde erneut geschieden. Wobei er – damals ungewöhnlich – das Sorgerecht für meinen Bruder zugesprochen bekam.
1959 lernte er meine Mutter kennen und kurze Zeit später folgte die dritte und letzte Vermählung. 1961 wurde ich geboren, da hatte er bereits eine Anstellung am Universitätsbauamt der Stadt Tübingen bekommen. Im Malen war er manisch und versunken, so erzählte meine Mutter oft. Er wollte nur noch farbige und „schöne“ Dinge in Bilder fassen, Schlimmes habe er genug gesehen. Die Badewanne im Atelierbereich des Hauses am Waldrand zeugt noch heute davon, diese war nicht zur Hygiene, sondern allein zum Vorwässern der großen Aquarellpapiere eingebaut worden. Neben seinem Broterwerb beim Amt bekam er Kontakt zu einer großen und solventen Kölner Galerie, die ihn förderte und seine Bilder sehr gut verkaufte. Dies – so meine Mutter in Auskunft – war um 1963 der schöne Anlaß, im Geldsegen einen Hausbau zu wagen.
Bereits 1964 zog die vierköpfige Familie – die Eltern sowie mein Halbbruder und ich – ins schnell fertiggestellte neue Haus am Waldrand ein. Dort blieben ihm nur noch zwei weitere Jahre, bis er bereits 1966 im Januar an einem Krebs, von dem die Ärzte später sagten, er sei auf die Mangelernährung während seiner Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion zurückzuführen, mit sechsundvierzig Jahren verstarb.
Ich denke, er war ein Getriebener. Ein Gehetzter. Zuletzt ein Herausgerissener. In Windeseile musste er verlorene Zeiten nachholen, und sicherlich hat er das gewusst oder geahnt. Man spürt das in seinen Bildern. Auch ihn hat das letzte Jahrhundert letztlich um ein wenigstens halbes Leben gebracht. Im Haus, seinem Architektenhaus, entdecke ich auch heute immer noch Zeichen dieser Hast. Diese verweisen, ganz nebenbei, immer wieder auf diese seine Geschichte. Seien es seltsam verlegte Elektroleitungen oder die Wandstellungen in Holzbauweise, die manchmal wenig durchdacht scheinen in bestaunenswerter Machart. In der Nachschau.
Vieles im Hause ist zügig. Und die alte Dame hat später wenig dafür getan, dies zu ändern, wer will es ihr verdenken, sie war ja eine frühe Witwe, die zusehen musste, wie alles überhaupt zu bewahren war.
Sein bildnerischer Nachlass ist einigermaßen wohlgeordnet. Aber er war, aus heutiger Sicht, eben noch nicht genügend im Kunstmarkt etabliert, um seinem allzu frühen persönlichen Sterben seine Bilder hinterherzuwerfen. „Wenigstens“ möchte man dann sagen. Jedenfalls bis heute nicht. Jedenfalls kommt mir das so vor. Auch sein Oeuvre wurde ja jäh abgebrochen. Ich frage mich oft, wieviele solcher Schicksale es geben mag – auch künstlerischer Schicksale. Unentdeckt und irgendwann im besten Fall auf Dachböden und irgendwann vergehend. Wie viele Zufälle irgendwann dann sich hinzugesellen, ob nachgeborene Menschen gefundene Kisten wegwerfen oder öffnen. Wieviele Launen oder Tageszeiten oder Umstände. All diese, wenn überhaupt aufgefunden, zwischen den Seilen hängend von echter Wertschätzung, Auktionshaus oder Altpapier.
Ich will zusehen, dass sein Nachlass nicht verstreut wird irgendwann in alle Winde. Aber es ist eben so, er ist einfach zu früh gestorben. Wegen Hitler, diesem Arschloch.
Ich habe ja schon öfter mal über diese oder jene unwegsamen Familiensachen berichtet. Heute ist Karsamstag, gestern war Karfreitag. Und morgen ist Ostern. Ich glaube, der Karsamstag wird zunehmend mein Liebling dieser Kirchenjahre, wegen des „Dazwischen“. Wegen diesem einen Tag an größtmöglich ernster Bedenkzeit im Jahr. Die Passionsgeschichte mitsamt Ostern und ihre Bilder scheinen mir ohnehin vor vielen Jahren von sehr weisen Menschen so entworfen und niedergeschrieben. Das waren Menschenkenner und Schicksalskenner, die etwas Neues wagen und sagen wollten, um dem immerwährenden ewigen Meucheln der Blutrache endlich einmal etwas entgegen zu setzen. Im Grunde ganz einfach. Bis heute. Schaut man sich die Welt an. So interpretierte ich schon immer. Auch vor vielen Jahren gab es gewiss Kisten auf Dachböden, das beziehen wir sicherlich oft zu wenig ein in unsere Einschätzungen der unsrigen Istzeit. Und unserer Istschlauheit. Auferstehung? Unsere Bilder sind so knapp geworden. Und so angstvoll und unkünstlerisch.
Ich war heute an seinem Grab mit der Kirschkern, „Opa-Himmel“ hatten wir ihn früher immer genannt ihr gegenüber, wir haben die Winterabdeckung aus Nadelholz entfernt, es wachsen schon allerlei Blümchen, wir wollen das zusammen bald mal wieder richten und ein bisschen pflegen. Den Efeu schneiden, der den Grabstein überwächst und die in Granit gemeisselten Buchstaben wieder leserlicher gestalten, vielleicht sogar mit Farbe. Und da ich unter dem Namen meines Vaters in modernen Suchmaschinen noch nie etwas gefunden habe, so möchte ich also hier einmal seinen Namen kurz nennen, nur damit wenigstens ein einziges Mal ein kleiner Eintrag im Internet stattfindet und erinnert, sollte irgendjemand jemals nach ihm suchen. Harald Alexander Rogler war sein Name. Und wünsche herzlich frohe Ostern.