Herbst, Gans, Birne.

Oben ruft sie „Hallo“, im Schlaf, die ganze Nacht lang. Nach einem Sturz ein paar Tage Krankenhaus, das war im September. Wunden aufkratzen, immer nachts. Verwirrtheit, man wolle sie „ins Zuchthaus bringen“. Das ging zwei Wochen so. Jeden Morgen ein Blutbad, wegen der Wunden.

Im Fränkischen, ein paar Wochen später, erreichte mich die telefonische Nachricht der Kirschkern: „Du, ich glaube, Du solltest jetzt herkommen, Oma stirbt gerade.“ Nach drei Stunden traf ich sie friedlich im Bett liegend an. Die Pflegerin im Hause hatte schon einen Rosenkranz an ihre Füße gelegt gehabt. Der Pflegedienst hatte sie auf den Rücken gedreht und ihre Hände über der Brust gekreuzt. Sie lebte und atmete ruhig, als ich ankam. Die Mitarbeiterin vom Pflegedienst meinte am nächsten Tag, sie habe das in 25 Jahren noch nie erlebt. Der Herr Jesus habe zwei Tage gebraucht zum Auferstehen, die alte Dame schaffe das in 35 Minuten.

Es folgten Tage der Beruhigung und ihren 92. Geburtstag feierte sie sehr klar und schön in der Herbstwärme auf der Terrasse. Auch ihr trockener Humor war wieder aufgetaucht, dazu Appetitt auf Suppe und Saft. Achterbahn.

Abermals ein paar Wochen später hatte sie eine kleine Hautoperation an der Stirn. Bereits in der ersten Nacht zog sie sich fünf Fäden. Ärztliche Notdienste nächtens. Schließlich wurde das Blut knapp und sie war nun 3 Wochen im Krankenhaus. Genesene Rückkehr, an der Stirn nur noch ein Kratzer, an dem man auch notfalls knibbeln kann, ohne das alles rot ist. Wieso kann sie sich nicht mal einen Finger brechen einfach? Nein, es muss viel Blut fleißen. Soldatentochter eben.

Dazu der Abschied der Köchin aus der vertrauten und liebgewonnenen Gemeinde, eine neue Arbeit in der Nachbarstadt. Ein gemeinsamer Umzug dorthin. Vorangegengene Renovierung einer Wohnung. Vor allem aber der Auszug aus dem so geliebten Pfarrhaus.

Mein Atelier ist noch dort, am Waldrand, aber ich will ein neues suchen, am neuen Ort. Alles ist im Strom ohne Regen. Die Afghanen sind nun auch beide auf eigenen Wegen an eigenen Orten. Salman schon im Sommer, Bahram zu Anfang November. Auch diese schöne Zeit der „Big Family“ ist jetzt, in dieser Form jedenfalls, vorbei. Die Kirschkern studiert seit diesem Semester in altehrwürdiger Universitätsstadt am Neckar. Alles ist ausgeflogen. Geblieben ist das verbindende „Fau Mullah“. Das ist sehr schön so.

Vielleicht ist das alles schon etwas viel, derzeitig, gleichzeitig. Von vielem wussten wir ja, dass es kommen würde. Bei den Emotionen aber haben wir uns vielleicht einen Tick übernommen.

In zehn Tagen wird die alte Dame ins Pflegeheim ziehen. Zunächst in ein Doppelzimmer. Wie sehr ich ihr wünschte, den ganzen Sommer lang, sie möge endlich gehen können und sich diesen Schritt ersparen. Daher hatte ich einen bereits im Juni möglichen Umzug in ein angebotenes Zimmer seinerzeit nochmals abgesagt. Aber irgendeine Neugier schlummert wohl noch in ihr. Das ist eben so und das ist dann auch gut so.

Ihre Zimmernachbarin demnächst also wird eine alte böse vergrätzte Frau sein, die ich schon kennenlernen konnte. Noch recht mobil. Die nicht will, dass sich jemand „ihr“ Zimmer mit ihr teilt. Im Heim meinten sie aber, es würde wahrscheinlich nicht so lange dauern, bis ein Einzelzimmer verfügbar werden würde. Schließlich sei nun Winter und die Grippe ginge um. „Wir denken, spätestens im Januar oder Februar wird was frei.“

Eine herbstliche Einzelausstellung hatte ich auch noch gerne aus- und einzurichten. Sie gefällt mir gut und entspricht mir und meinen Vorstellungen von einer „interessanten“ Ausstellung, ganz egal, was man an den Wänden und auf dem Boden sieht und davon halten mag. Es gesellen sich zudem schon einige rote Punkte dazu. Die Eröffnung war sinnlich und schön, das hat mir überall gut getan, auch im Schritt.

Und auch die Brotarbeit lässt nicht nach und erfüllt mich nach wie vor. Bin dankbar. Eine Kirche, eine andere weitere Kirche, eine Untersuchung in den Weiten Mittelfrankens und eine solche hinter der schwäbischen Alb. Und demnächst noch Arbeiten auf einem Friedhof, wenn das Klima nicht zu sehr sinkt unter Null. Der reinigende Dampf soll in seinem Eindringen ins Steinmaterial nicht zu schnell zu Eis gefrieren, und damit, durch das einhergehende Vergrössern seines Volumens, Schäden verursachen. Dann noch die Aussicht auf die Bearbeitung eines einhundert Jahre alten Treppenhauses, bereits ab Mitte Januar des nächsten Jahres.

Ich bin wohl Soldatenenkel, aber blute eher selten. Sobald die alte Dame also ausgezogen sein wird, werde ich mich dringend der Herstellung der partiellen Vermietbarkeit des Waldrandhauses widmen müssen. Damit der Pflegeplatz auch überhaupt finanzierbar sein wird. Manchmal denke ich aber auch, alles sollte endlich weg sein. Oder verkauft. Gerne mit Schaden und möglichst schnell. Ohnehin ein Privileg. Alle Geschichten und alles Bewahrende der Altvorderen, bitte lasst mich endlich in Ruhe. Lange genug habe ich mich gesorgt, aufgesogen und gekümmert. Ich will diesen Haufen bald irgendwo liebevoll vergraben. Ich kenne alle Geschichten und habe sie schon mannigfach bewahrt, festgehalten und weitergegeben. Auch in beschrifteten wasserdichten Aluminiumkisten. Ich aber möchte nun gerne endlich frei sein davon.

00.56 Uhr: Oben schreit die alte Dame im Schlaf, während ich das hier hinschreibe. Nun ist sie aufgewacht. Wir setzen uns abermals zu ihr, reden und legen argumentativ trocken. Sie ist nicht dement. Vielleicht ist es besser, in solch einem Alter dement zu sein. Sie bemängelt und beschimpft uns ein bisschen, aber eigentlich ist sie unglücklich. Es gibt keine Argumente mehr. Für nichts und Niemanden. Ihr Nachthemd ist nass.

Ich mag nicht mehr.

Die Kirschkern hat ein Buch geschrieben. Ich freu mich sehr darauf.

Heute Abend traditionelles Gans-Essen in der Wirtschaft im Dorf. Zuletzt einen regionalen wundervollen Schnaps von Birne.