die Buben <3

nasim_baqi

„Von Peter Struck generiert sich der Satz aus dem Jahr 2002, genauer, am 4.12.2002 hat er gesagt „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Ich mochte Peter Struck Zeit seines Lebens immer, war er mir doch vertraut mit seinem Schnauzer und seiner, aus heutiger Sicht, noch wohltuend altmodischen sozialdemokratischen Geborgenheitsvermittlung in schnodderiger Art.

Er verstarb im Jahr 2012, leider, denn gerne würde ich ihn heute einmal zum grünen Tee einladen an den Waldrand. Zu einem Gespräch mit B. und N. aus Afghanistan. Nicht einmal wäre damit gemeint ein Vorwurf, er sollte nur einfach dabeisein im Beisein zweier Verlierer. Oder am Ende Gewinner? Wie auch immer man das beleuchten mag, aus einer Nachschau, die noch nicht zu Ende geschrieben ist im Heute.

Und ich bin mir auch fast sicher, es würde ein schöner und wohlwollend angenehmer grüner Tee sein zu fünft, ein Beleuchten der Zustände der Welt und auch der Sicherheitspolitiken, die ja selten so ganz nach vorne schauen. Man kann es auch so sagen: Der B. und der N. sind letztlich weltpolitische Früchte, auch, dieser damaligen Äußerung seitens eines bundesdeutschen Verteidigungsministers. Sie sitzen nun hier, bangen um die Zukunft ihrer Hoffnungen, haben Träume, die Sechzehnjährige eben gottlob haben, in einem süddeutschen Dorf im beschaulichen Waldrandpfarrhaus.

Mit Pflegeeltern, die die 50 schon erreicht bzw. überschritten haben. Schon beim ersten Kennenlernen in der Unterkunft, in der sie bis dahin gelebt hatten, konnten sie staunend hiesige Familiärzustände kennenlernen. Auf ihre Frage nach den Eckdaten erklärten wir ihnen ebenjene, nämlich dass jedes Pflegeelternteil schon einmal verheiratet gewesen war, dann geschieden, dass es eine Tochter aus erster Ehe gäbe, die jedoch nicht am Orte lebe, sondern bei ihrer Mutter und daher nur alle 3 Wochen einmal für ein Wochenende und in den Ferien anwesend sein würde. Nein, eigene Kinder gäbe es leider nicht, dafür aber eine alte Oma, die allerdings in einem anderen Haus lebe und von einer lieben Frau, die nicht der Familie angehöre, betreut würde. Der „Vater“ wäre oft beruflicherseits abwesend, die „Mutter“ eine Pfarrerin, ein weiblicher christlicher Mullah sozusagen. Und so weiter. Willkommen in Europa.

Die Kirschkern sprach schnell und zutreffend von zwei unterschiedlichen Strategien, die die beiden sich wahrscheinlich in Fluchtzuständen zugelegt hätten, ganz gemäß ihrer Persönlichkeiten. Der N. lacht immer, der B. hilft gerne tatkräftig. Was nicht bedeutet, dass der N. nicht gerne tatkräftig helfen würde und der B. nicht lachen würde. So ist es. Auch Glam berichtete mir ja von den „Kriegsrealitäten“ seiner Gäste, die die wahrhaften Realitäten verschieben können, gelinde gesagt.

Mittlerweile sind acht Wochen vergangen. Und beide sind ans Herz gewachsen, so unterschiedlich sie sein mögen, in ihrer Prägung, ihren Herkunften, ihren erkennbaren Problemen und Problematiken, ihren Träumen und Wünschen, ihren manchmal Alpträumen und ihren heimlichen Tränen, ihrem Heimweh und ihrer Zuversicht bei allem, und ihrem jugendlichen Alltag. Im Pfarrhaus am Waldrand.

Ich habe mal alles zusammengeschrieben, was ich verstanden habe, was ich ahne mittlerweile, es mag sein, manches habe ich nicht richtig verstanden und von manchem habe ich mir ein Bild zusammengestückelt, was ich heraushören konnte aus vielen kleinen Berichtfetzen, Tönen und Blicken und Körpersprachen. (…)“

./.

usw.

so habe ich wieder allzu kompliziert angefangen zu schreiben und das wird aber einfach zu lang und außerdem müsste man ja täglich aktualisieren. ich komme kaum hinterher und schliesslich hat man ja auch noch ein eigenes leben.

mit den schlimmen geschichten vor allem des B möchte ich auch nicht kokettieren. und wieviel kraft es für ihn bedurfte, nicht erst hier, sondern schon dort, diesen realitäten bewusst lebewohl zu sagen. um überhaupt überleben zu können. mit sechzehn. das ist ziemlich stark von ihm, auch wenn man immer wieder seinen inneren kampf beobachten kann zwischen hie und dort. und sein wissen um die verführungen und anfälligkeiten westlicher lebensweise, bier und rauchen beispielsweise. er ist sehr reflektiert, gesamtpolitisch. das ist schön und sicherlich ziemlich ungewöhnlich. in diesem alter und nach einem jahr fluchtgeschichten und immerhin sieben jahren schule. sein vater war polizist.

ganz anders der N, der – so scheint es – fast behütet aufgewachsen sein könnte in seiner familie. allein: er gehört einer schiitischen minderheit an, die seit einhundertzwanzig jahren immer wieder zur zielscheibe von massakrierungen wird und die bekannt ist für viel kultur und bunte kopftücher und musik. er ist ein lachender naseweis mit tiefgang und einem angeborenen verständnis für kommunikative doppelbrechungen, der seiner jugend – so scheint es abermals – bisher nicht in dem maße des B beraubt wurde. die stärke, die daraus resultiert, fühlt man.

der B wirft dem N immer wieder vor, eine familie zu haben, wo doch er, der B, keine mehr habe (weil sie von den taliban vernichtet wurde). der N will („vielleicht?“) schauspieler werden. er wäre ein guter. oder vielleicht zahnarzt? dann lacht er und sagt „Ich habe alles unter Kontrolle!“, das hat er gestern mitgebracht vom sprachkurs. N kann nicht schwimmen und ist auf lesbos angekommen. ob ihm klar ist, dass er leicht hätte ertrinken können, weiss ich nicht. er ist ja nicht ertrunken, das zählt. auch er war fünf jahre in der schule. bildung – so wird täglich klar – kann die welt retten. sein vater ist tagelöhner.

beide sind unterschiedlicher, wie sie nicht unterschiedlicher sein könnten. und die kirschkern, als gleichaltriges europäisches blondes junges fräulein ohne kopftuch, sie steht dabei und mittendrin und freut sich über die „zwei brüder, die sie sich immer gewünscht habe.“ na prima. die köchin ist jetzt die „Muttär“ und ich bin der „Vattär“. am waldrand. der B besteht auf dieser formulierung.

gestern hat B erzählt, man mache lieber keine fotos von frauen (auf die nachfrage, ob er denn kein foto seiner mutter auf dem mobil habe, oder von seiner vor drei monaten offenbar grundlos ermordeten älteren schwester). wenn man ein mädchen oder eine junge frau fotografiere, dann könnte es sein, sie könne nicht mehr verheiratet werden. der N hingegen bringt der kirschkern bei, wie man bunte kopftücher um die haare legt. danach wird mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. auf dem land in den bergen, so der B, tragen alle frauen diese dunkelgrüne burka.

ja, sie sind mittlerweile ans herz gewachsen und nun sehen wir mal, wie alles weitergeht. das wichtigste ist die deutsche sprache. letzte woche, in den bergen, da nahmen beide gerne mal ein fernglas in die hand und schauten in die weite der allgäuer alpen. dann sagten sie beide „ohlala, da hinten… ich sehe afghanistan…“ und zogen die augenbrauen dabei hoch und lachten (oder weinten) leise.

wie gerne – so ein rührend naiver impuls von mir – würde ich mit ihnen mal dort hin fahren, jetzt, wo ich doch täglich dinge erfahre über dies land und die leute. aber das geht natürlich nicht, wie ich nicht allein den lesenswerten reisewarnungen des auswärtigen amtes entnehme. dann fällt mir peter struck wieder ein und die hohe politik. sie sollte man auch mal einladen zum tee, dann könnten N und B geschichten erzählen, auch über sichere herkunftsländer.

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Nun aber, liebes Tagebuch, muss ich schließen, da es Neuigkeiten gibt in der Whatsapp Gruppe ‚Deutsch lernen‘. Die Buben sind aufgewacht.