je suis Billy Boy

speiß

In Raum 1.07, dem Vogelzimmer, ist das nun geklärt, der spätere Rauchabzug, der die Decke stört, wurde schon bald nach deren Erstellung geschaffen, oben am Rand habe ich geöffnet, wunderbarer Stuck läuft dahinter weiter, nur teilweise beschädigt durch die spätbarocke Ziegelhochmauerung. Darauf lediglich die erste farbige Deckenfassung, die Profile und Ornamentik dünn weiss gekalkt, dazu Deckenflächen in hellem zarten Rosa, Grün und Gelb, der Mittelspiegel hell Grau, die Höhungen der floralen Ornamente auf ockerfarbenem Anlegemittel blattvergoldet.

Da fällt mir ein, ich muss das Gold noch suchen an den Ornamenten im vom Kamin verdeckten Bereich, bisher habe ich das dort noch nicht gesehen, auch, weil ich dort noch nicht nachsah.

Morgen dies also, dazu nochmals begutachten die gestern ergänzte barocke goldene Schrift am Türfutter* vom Speißgang zum Turmgang sowie die mit Ölfarbe nachmarmorierten und retuschierten angrenzenden Bereiche. Das Türfutter zur Speiß ist fertig, ebenso die marmorierten Fußbodenleisten im Speißgang, wo die Schreiner die verkohlten Bereiche gekonnt ersetzt haben. Heute die neuen Fußbodenleisten mit Erstanstrich Öl versehen, hell-ocker, der Ton ist noch zu gelb, also dann beim zweiten Anstrich nachmischen, anpfeffern, ich bin ja Farbenfuzzi.

Die fußbodige Holzverkleidung der Wandtemperierungsstränge sollen neu maseriert werden, morgen dann hell unterlegen und trockenföhnen, so dass gleich danach die braune Ölfarbe auflasiert werden kann. Das Türfutter vom Wehrgang zum Turmstübchen heute mit Dammar-Bienenwachsfirnis eingelassen, ebenso das bereits fertig marmorierte bzw. retuschierte Türfutter von Raum 1.11 (Himmelbettzimmer) nach Raum 1.10 (Kabinettla). Dort das Türblatt heute fertiggeschliffen, nach Kittungen und Spachteln gestern, ebenso den Türstock, alles ist nun vorbereitet für die Lackierung in hellem Grau (Biedermeier), genauso wie dann die Türen zur Bibliothek bzw. zum Sternchenzimmer (1.08) bzw. wie das Türblatt und Futter von 1.08 zu 1.07.

Farbton ebendort nach Farbfächer und Absprache mit Besitzerin, Architektin und Denkmalpflege. Im „Sternchenzimmer“ sind die Fensternischen schon seit vergangener Woche fertig gestrichen, gebrochen weiss mit Emulsionsfarbe. Die Decke hatte ich trocken gereinigt, da der letzte weisse Anstrich wasserlöslich ist und hier keine große Maßnahme geplant ist, der jetzige Zustand mitsamt der um 1880 applizierten Makulatur mit von Hand aufgeklebten Bronzesternchen (seitens Urgroßonkel der Besitzerin) soll erhalten bleiben, ebenso die Wandtapete mit Floralmustern aus den frühen 1960er Jahren. Einige Risse an der Decke gekittet und zurückhaltend retuschiert.

Die zweiflügligen Doppelfenster hier ohnehin schon fertig, auch die äußeren Schlagladeneisen, alles in Leinölfirnis bzw. Ölfarbe, ich habe eigens dafür einen „Fensterplan“ angefertigt, damit man den Überblick behält, was noch zu bearbeiten ist. Das Leinöl stammt übrigens noch aus Beständen des Großvaters des Kollegen und ist seit mindestens 35 Jahren im Behältnis gereift. Die gemischten Farben passen, das ist schön. Den Meisen scheint der neue äußere Fensterkitt zu schmecken, überall an den vom Schreiner neu verkitteten Fenstern finden sich Knabberspuren. Hoffentlich ist das Material nicht giftig, was ich jedoch ein bisschen nicht ganz ausschließen würde.

Ich nächtigte in Raum 1.11, vergangene Woche, dem Himmelbettzimmer, auf einer französischen Matratze. Draußen stürmte es, ich war ganz allein im Anwesen, dem Schloß, besser: der Burg. Mit Mauer ringsherum und Wehrgängen. Ein paar Flügel der Fensterläden schlugen, da die Reiber sich querlegten. Trotz allem war da keine weisse Frau. Wobei, durchaus ein wenig unheimlich. Was wohl solch eine weisse Frau mit einem weissen Mann alles anstellen könnte?

Aber es ist ein guter Ort. Man spürt so etwas ja irgendwann. Eine „Versteckburg“, also eine Wehranlage ursprünglich, die sich versteckte, in dem sie nicht als „Höhenburg“ errichtet worden war, sondern in einer jähen und abrupten Senke auf einem Felsen dort gebaut wurde. Dies ggf. ein Datierungshinweis, denn die Erbauung muss vor der Verfügbarkeit von schweren Distanzwaffen, mit denen man hätte von oben nach unten in die Anlage hineinschiessen können, stattgefunden haben. Wahrscheinlich, so meint die Freifrau, sogar die einzige noch erhaltene in Bayern. Also sehr alt, im Internet steht „vor 1231“. Ich spüre aber, alles dort an diesem Platz ist sehr weit älter und von durchaus mystischer Anmut.

So langsam wird es kalt im Innern der Mauern. Morgen also diese Maserierung. In Baumärkten gibt es keine differenziert vorbereitenden Werkstoffe mehr, die eigenes Denken und Verstehen dessen, was man da vorhat, vorraussetzen bzw. gutheissen oder fördern würden. Noch nicht mal für den interessierten Laien. Nur noch Materialsysteme mit absurden Namen, zum Beispiel „Projektweiss“**. Oder „Aussenlasur-Holzterrasse“**. Oder „Pinsel-Rein“**, für Nitroverdünnung. Dagegen von Standöl keine Spur. Ich hätte gute Lust, eine Drogerie mit klar formulierten Angeboten zu eröffnen, die auf die Gebinde geklebte Etikettierung wäre handgeschrieben und die Preise dennoch oder gerade deshalb zivil. Wieso lassen wir uns diese Verblödung eigentlich gefallen – (so könnte man fragen, nebenbei. Wenn es nicht wichtigeres gäbe. Denn immer ja ist das Wichtige wichtiger.)

(vgl. dazu Wertedebatte).

Als belangloses Antipost zur Istzeit (ich mag ja sowas) erwarb ich gestern im Drogeriemarkt mal wieder ein paar bunte lustige Erlebniskondome, um zu überprüfen, wie diese heutzutage wohl aussehen mögen. Die Farbe und das Erlebnis an solchen waren mir immer etwas suspekt gewesen. Aber auch hier, bei farbigen Spaßkondomen („Bunte Vielfalt“), hat sich nichts verändert. Warum auch. Farbe bringt Leben ins Leben.

Beim Abschied in die Winterpause erzählte mir die Freifrau heute, auch sie habe als Kind mit den Geschwistern gerne heimlich Fensterkitt geknabbert, wie diese Meisen letztens. Leckeres Leinöl und Sägespäne, früher. Sie wurden aber nie erwischt. Die Fußleisten sind nun gut geraten, sowohl das hellockerfarbene Weiss, wie auch die Maserierung. Das Maserieren hat großen Spaß gemacht, es war mir Herzensangelegenheit. Nun also können die Schreiner die Böden bearbeiten, ohne dass die Stukkateure oder ich stören. Alles Material ist ordentlich verräumt, die Pinsel gereinigt, die Gebinde und Tuben verschlossen, die Eisen geölt und das weisse Winterkleid kann sich alsbald getrost um die Burg werfen.
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*INTERPONE TUIS INTERDUM GAUDIA CURIS
**da lachen ja die Hühner.

die a.?

aha, eine cousine der französischen freundin der kirschkern war offenbar bei den eagles ODM, so klein ist die welt, sie ist nur leicht verletzt, kirschkern meint lakonisch trocken „glück gehabt!“ und was soll sie auch anderes meinen. was erzählt man den kindern und halberwachsenen jetzt, über die welt und was gibt man ihnen mit und etwas scham auch dabei, sie könnten ja auf die idee kommen und fragen, hey, was für eine welt habt ihr da für uns vorbereitet, warum ist das so, was habt ihr uns da hinterlassen?, (wie macht das frau casino wohl mit ihren drei jungs?), heute wollte die halbe klasse schulorganisiert eigentlich nach clermont-ferrant fahren für eine woche, ein kleiner wochenaustausch mit großer vorfreude, aufgeregte emails am wochenende, nun diskutieren sie erst mal in der schule, ob sie fahren sollen, alle ausserschulischen aktivitäten sind in frankreich wohl abgesagt und untersagt, der ausnahmezustand, verständlich ohnehin, also vielleicht fahren sie morgen dann, ich hoffe das sehr, wir haben uns noch besprochen ein bisschen gestern abend, jetzt erst recht sag ich trotz sorge natürlich, das war ein anschlag auf uns alle, auch auf dich und mich und oma und die köchin, aber alles kann ja überall passieren sowieso, jetzt erst recht also! / je suis heute abend in einem konzert, erzähle das der alten madam, die wieder zuhause ist mit arger schlagseite, und sie meint „oh gott, kind – in einem KONZERT!“, ja in einem konzert mit perverser götzenmusik. die angst hält die alte dame am leben, auch ok. und die köchin wollte mit freunden eigentlich am vergangene freitag nach P gefahren sein, war dann aber in iserlohn, der himmel weiss warum. literatur? / einen neuen zahnriemen habe ich nun für neunhundert euro. literatur? / in den kommenden tagen werde ich in einer alten burg übernachten, auf matratze und ganz alleine, dort soll es angeblich ein gespenst geben, eine weisse frau, die nachts umherwandelt, ich hab jetzt schon angst.

ungelernt / POS.

Jetzt sieht man sie wieder in der noch Dämmerung frühmorgens auf den Baustellen, die Hilfsgipser und Hilfsmaurer und die ganzen Ungelernten, wie sie sich für ihren lächerlichen Mindestlohn die Knochen und die Gesundheit ruinieren in der Kälte, 10 Stunden lang, oder die früh alternden Betonbauer, die sich den ganzen Tag krummlegen für die Investorenmodelle, um dort die Bäder einzuhübschen beispielsweise, in denen dann später die Hochfinanz oder das Mittelkapital in Marmorbadewannen sich aalt oder den Sushischiss ins saarländische Porzellan gleiten lässt aus den mehrfach gesättigten Hinterteilen.

Es kommt ja drauf an, wie man sich positioniert.

Die Tochter berichtet von den unzähligen kleinen Graffitis „ACAB“, die es Mode ist derzeit, sie überall anzubringen, woraufhin ich ihr ein wenig schildere, wie mir das scheint als Polizist, wenn man eigentlich nie mehr recht weiss, ob man abends noch lebend heimkommt für vierzehnhundert Euro.

Die Positionen laufen Hand in Hand und die Ehe läuft gut. Es kommt ja darauf an, wie man läuft.

1.NOV

und ja, es geht wieder weiter. gestern notärztin mit lalü-lala, ohnmacht, nein, bitte nicht schon wieder krankenhaus. heute nun warten auf krankenhauseinweisung. die alte dame sagt, sie hat uns alle so lieb und sie habe so liebe eltern gehabt. und so sachen immer am wochenende. da grinst sie dazu. wenn sie mal die augen aufmacht. alle wollen zu hause sterben, aber 80 prozent sterben im krankenhaus. die kirschkern hat ferien, morgen wollten wir auf tour zum safaripark hodenhagen, nach römö, nach schleswig. im auto pennen. noch einmal die tour wie früher, nur bei 0 grad nachts im wagen. schön, abenteuer. sie, die alte dame, dachte immer, irgendwann wacht sie einfach nicht mehr auf. so habe sie sich das immer vorgestellt. das hat sie mir das ganze jahr über erzählt und sich entschuldigt, dass sie so viel sorgen bereitet. aber nun hat sie ja bewiesen, dass sie kämpfen kann – wieso bleibt ihr wenigstens jetzt ihr wunsch nicht vergönnt?

die zeiten des wartens auf den notdienst. spezielle zeiten, fast schon spirituell. nullzeiten, auszeiten, die uhr bleibt stehen. die gedanken und das adrenalin schweben. man weiss, etwas wird geschehen, etwas ggf. größeres. ein flimmern. wie oft hatte ich das jetzt schon dies jahr. loslassen, zurückholen. abschied nehmen, hoffnung schöpfen. innerliche achterbahnen. alles dabei? vollmacht, patientenverfügung, arztbriefe, medikamentenpläne, unverträglichkeiten?

draußen nebel, der erste november, so richtig zum einigeln.

schnell noch eine rauchen, gleich kommt der notdienst, heute ohne nebelhorn, dann ein fishermans-zitron für guten atem.