Stäubchen

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Die Tage tröpfeln so vor sich hin, und jeder Tropfen wird zu Eis. Überall Zapfen. Die alte Heizung läuft und läuft, der neue feintaubarme Ofeneinsatz ist betriebsbereit, der Akkumulator des Badewannenlifts schwächelt, dafür ist die Rollstuhlantriebshilfe bewilligt und bereits eingetroffen. Die Premiere eines Auflugs ins Dorf steht jedoch noch bevor. Die Nachbarin ist stinkig (soll sie…), ich bin stinkig (soll ich…?), das Grau und das Minus den ganzen Tag triggert, aber mir egal. Der Wagen nagelt jetzt ab und an und wartet auf sein Fahrverbot. Vieles krümelt dann ja so auf Richtung Null, die ganze Welt als Diesel. Überall Kautzigkeiten und Vorfahrten für schlechte Subjektlaune. Ich habe Vogelfutter gekauft, in diesem Jahr füttere ich pausenlos, damit sie nicht verschwinden, die kleinen buntgefiederten Racker. Katzen verjag ich regelmäßig, und ich räume freimütig und wenig geläutert ein, es macht mir irgendeinen Spaß. Mich ihnen im Garten langsam und voller List freundlich zu nähern, um dann unvermittelt an Tempo zuzulegen und ein grauenhaftes katzenvertreibendes Geräusch im Sprint von mir zu geben. Wie im echten Leben eben. Fürchterlich muss das sein für die Katzen, denk ich mir. Aber zehn Minuten später sind sie wieder da und kokettieren mit einem gelangweilten Singvogelmassaker. Die Langarm-Shirts für den kommenden Sommer erwarb ich schon im letzten Jahr in Hamburg. Sie warten im Schrank. In Hamburg kann man eben einfach gut Klamotten einkaufen. Schon 2014 wollte ich ja „künftig“ mehr Busen zeigen. Da lachen ja die Hühner. Morgen ist eine Holzmöbelabfuhr. Alles steht schon bereit im Garten. Ich muss es nur noch hinuntertragen auf die Strasse. Dann kommen die unterbezahlten Männer und werfen alles in die große Kleinmachmaschine am tiefhängenden Arsch des Speziallasters. Früher hieß das Sperrmüll. Den alten Eichenschrank im Keller zerlegt zu Brennholz. Ich mochte diesen Schrank nie, die alte Dame hatte dort Witwendevotionalien aufbewahrt, ein Kostüm mit Fellkragen aus 1959 sowie Anzüge des Vaters (+1964) und des Großvaters (+1962). Dazu ein Kiste mit alten Negativrollen neben Mottenpapier und Lederresten, die man sicherlich für irgendetwas noch einmal hätte gebrauchen können. Kurzferien waren, in den Voralpen gewesen auf der schönen Hütte, die man nur zu Fuß erreichen kann. Da war leider zwar viel Schnee, aber dann Regen, selbst auf zwölfhundert Metern. Eine schöne Rückfahrt über die geliebte Schwäbische Alb im Schneesturm, so wie früher. Und im Atelier Gedankenwelten und künstlerisch entworfene Vorhaben, sowie geduldige Produktion. Ich will nicht alter Diesel sein noch Schweröl, Feinstaub schon gar nicht. Aber das Nageln macht auch eine unbestimmte entspannende Laune. Man ist ja kein Konfirmant mehr, wie der Blick in den Spiegel lehrt. Eine gewisse Ratlosigkeit, Schulterzucken ob dem, was kommt und das Jahr bringen wird. Ich könnte ja Startlöcher zu Bild bringen. Der Computer war kaputt. Jetzt ist er „aufgerüstet“, laut Techniker für ungefähr noch drei Jahre und ich habe nun die vorrausschauende Gelegenheit, jeden Monat etwas beiseite zu legen für ein künftiges Neugerät. Am gestrigen Abend ein Vortrag über interreligiösen Dialog. Mohammad auf Kamel und Jesus auf Esel nebeneinander auf ihrem Weg durch die Wüste. Als Buchmalerei oder Aquarell. Beide mit Heiligenschein, eine ungefähr sechshundert Jahre alte Darstellung. Ein schönes friedliches Bild. In der Gottesvorstellung einerseits Trinität, andererseits unbedingtes Unikat. Dazu der Sündenfall. Ich bin ja kein Theologe, sondern nur ein einfacher Waldrandbewohner, Sohn einer ostpreussischen Hebamme. Manchmal schleicht sich Verständnismüdigkeit ein bei mir, angesichts all dieser stets ärgergenerierenden Lesbarkeiten. Wieso können sich nicht alle einfach machen lassen? Das meinen übrigens auch Bahram und Salman, die beiden Afghanen, als native Unikatsvertreter. Sehr naiv natürlich, aber doch so einfach. Mit Blick auf die Gartenvögel. Die kleinen Fussel wären es wohl, die die Welt richten könnten. Der Deutungsfeinstaub. Wenn er denn in die richtigen Ecken geblasen würde. Wieso sollte ich mich als „ungläubig“ bezeichnen lassen? Das ist ein unverschämtes Staubkörnchen, welches sich als Kernfrage aufspielt. Morgen Abend werde ich, wenn es sich ergibt, einen andersgläubigen Gelehrten dazu befragen können. Die am Alexanderplatz vor bald schon vier Wochen gezogenen Weisheitszähne der Kirschkern habe ich in einem kleinen alten, noch handvergoldeten, Schmuckschächtelchen aufbewahrt, welches ich einst in Mittelfranken auf dem achtlosen Sperrmüll fand. Innen ist es mit violettem Samt ausgeschlagen und ein kleiner Aufdruck „J. Rothbarth, Gold & Silberarbeiter, Rothenburg a/ Tauber“ klebt im Deckelchen. Nun aber ermahnt das 11-Uhr-Geläut, welches vom Tal hinauf an den Waldrand ruft, mich zur Mühsal des Tagwerks.