Am vergangenen Samstagabend machten es sich die alte Dame, der Kirschkern und ich auf dem Sofa gemütlich, nachdem wir über das dörfliche Weihnachtsmärktchen gebummelt waren. Der Plan war, „Wetten, daß…“ zu schauen, eine Sendung, die der Kirschkern mittlerweile sehr liebgewonnen hat. Alle weiteren dortigen Geschehnisse sind ja inzwischen hinreichend bekannt. Vorhin las ich, dass nun wohl doch die Verletzungen, die sich der Kandidat zugezogen hat, sehr weitreichend sind. Das hatte ich schon angenommen. Befürchtet.
Ich habe bisher noch nie ‚live‘ zugesehen, wie und während sich jemand das Rückgrat gebrochen hat. Ich wollte das eigentlich auch gar nie. So also habe ich nun nochmals die Erlebnisse während meiner Drückebergerzeit herausgekramt, aufgeschrieben irgendwann vor drei Jahren. Zunächst wollte ich das alles noch überschreiben mit „Wem Gottes Schalk im Nacken sitzt…“, angesichts der Tatsachen aber vergeht mir nun das Lachen. Meine größten Genesungswünsche gelten uneingeschränkt dem Verletzten, ganz gleich, wie schwachsinnig, quotenorientiert oder sonstig dumm, tragisch oder selbstverschuldet dieser ganze Fernsehvorgang sein mag. Hier also nochmal:
WEST I
da war der hombachers max, damals um die fünfzig. lokführer in einem zellstoffwerk in oberschwaben. irgendwer hatte eine weiche falsch gestellt, beim rumrangieren, da ist die lok in eine andere gerauscht und umgekippt. er hat glück gehabt und überlebt, aber ein halswirbel war gebrochen. alle auf der station hatten irgendwie glück gehabt, denn sie alle waren am leben. auch der sechzehnjährige, der mit seinem moped bei schwäbisch-hall unter die leitplanke gerutscht war. alles war gut, bis die sanitäter kamen, und ihm aufhalfen. da hat es knack gemacht, und die lähmung war komplett. noch nie mit einer frau im bett gewesen, dachte ich. und schon vorbei, wie man sich das eben so vorstellt. der hombachers max, ich weiss nicht, was er noch gespürt hat, bewegen konnte er jedenfalls gerade noch die unterarme. er hatte ein gebiss, das mussten wir immer herausnehmen und putzen, und er hat dabei oft grinsend gesagt „jetzt kannste essen gehen…“.
im mai mit dem ersten richtig warmen tag kamen dann die motorradfahrer. oder die, die mit einem kopfsprung ins wasser den sommer begrüßen wollten. alle mit dem helikopter. oder der coole paul, zweiundzwanzig damals, knallharter bursche vom rande der schwäbischen alb. er war mit einem geliehenen porsche in den acker gefahren. er habe, nachdem er wieder aufwachte und die beine nicht mehr bewegen konnte, erstmal eine REVAL geraucht. praktisch bei paul war, dass beide unterschenkel amputiert werden mussten. „die hab ich eh nicht mehr gebraucht“ und im rollstuhl kam er damit viel leichter zurecht, ohne die toten anhängsel. geraucht hat er auch im sechserzimmer, zusammen mit einem jungen steinmetzen, der kurz vor der gesellenprüfung noch einen lkw überholen wollte, mit seinem opel. „ich hab den mini, der vor dem lkw fuhr, nicht sehen können…“. glück im unglück, er war zwar ein halswirbelpatient, aber er wusste, wann er pinkeln musste und auch die frauensache war nicht spurlos verschwunden.
oder dann der dachdecker, mitte vierzig, der die firma mit aufgebaut hatte. er war der erste in der firma gewesen, und der erste, der vom dach gefallen war. ein riese, alles voller muskeln, die sich plötzlich nicht mehr bedienen ließen. nach vier wochen hauptsächlich schwammiges schweres fleisch. er hat oft erzählt, wie er damals, in einer nacht, vier frauen hintereinander gehabt hatte, die letzte hatte er geheiratet. „kennst du die geschichte schon? komm, laß mich dir sie noch mal erzählen, bitte“. ganz typisch für den psychischen verlauf eines solchen ereignisses, das lehrte uns der stationspsychologe, selbst ein beinamputierter vogel im alltagsrollstuhl. und auch ganz typisch der surflehrer aus neu-ulm, der sich mit seinem bmw in einem kieslaster verzahnte, welcher ihm die vorfahrt genommen hatte. das fehlen von schuld machte ihm zu schaffen, er erzählte alle möglichen dinge, für die er nun möglicherweise bestraft worden war oder würde. sein leben hatte aus surfen und beischlaf bestanden, woraus sollte er nun so plötzlich einen neuen sinn erschaffen? „komm, spritz´ mich ab, bitte, ich kann´s ja nicht mal mehr selber tun…“.
und dann natürlich auch die weibliche klientel, junge selbstmörderinnen, die vom balkon gesprungen und älteren frauen, die beim kirschenpflücken von der leiter gehagelt waren. bei einer möglichen selbstmörderin, einer jungen griechin, da war allerdings nicht restlos geklärt, ob sie vielleicht nicht doch vom balkon GESTOSSEN worden war. und eine fünfzigjährige bäuerin war es, tetraplegikerin aufgrund ihres ebenfalls mysteriösen sturzes vom heuboden, die mich beim füttern fragte, ob ich noch „jungmann“ sei. sie könne mir stellungen zeigen, davon könne ich nur träumen. ich war achtzehn. und dann wieder der neunzehnjährige jürgen in zimmer drei mit einer völlig kompletten lähmung. sie waren in einer disco gewesen und im vw-bus nach hause gefahren mit einem kasten bier dabei, dann könne er sich an nichts mehr erinnern. die zwei mädchen seien seines wissens tot, sein kumpel habe jetzt einen erheblichen dachschaden, weil er mit dem kopf hängengeblieben sei am baum, irgendwie.
nein, es war nicht so, dass das eine stetig heulende station war, sechzehn monate lang. im gegenteil, es wurde viel gelacht. montag, mittwoch und freitag war kack-tag. morgens schon orale mittel, nachmittags und abends dann mit viel zellstoff alles abdecken. einläufe, spezialeinläufe mit im laufe der zeit entwickelten wundermittelchen, schaukeleinläufe zu zweit, einer auf dem stuhl, und alles nur, damit die verdauung irgendwie funktioniert. immer im dialog mit denjenigen, die es selbst nicht mehr schaffen konnten. das lachende auge verzweifelnd zwingend und zwinkernd. selbstverständlich, es wurde geraucht in den zimmern. bei so viel schicksalsmasse, wer will dies einem denn noch verbieten? das kathetern, dreistündlich bei den männern, das war routine. man konnte sich trösten: die sensiblen nervenbahnen waren gekappt. am wichtigsten die hygiene dabei, lebenswichtig. oder das überstülpen von kondomen, die durch einen gummischlauch mit einem beutel am bein verbunden wurden. natürlich musste das kondom mit einem zahnstocher an der spitze gelocht werden, damit der urin auch abfließen konnte in den gelben behälter. anlaß für unzählige gleichklingende witze. wer das loch vergaß, der musste, wenn alles geplatzt und naß war, eine runde bezahlen.
und wieviele ungewollte erektionen gab es zu überspielen, damit die hilflos entblößte peinlichkeit nicht zur pein wurde: besser „was für ein rohr!“, als ratloses schweigen. bei verstopfung, meistens dann in der nachtwache, zuletzt das „ausräumen“: irgendwer musste es ja tun. alle drei tage wehte der geruch von scheisse durch die gesamte station, aber alle haben dagegen gekämpft, sich gestemmt, sich gebäumt, zuvorderst die betroffenen. und wiederrum alle haben sich gefreut, wenn das braune häufchen dann auf der unterlage lag.
einer fällt mir noch ein: ein weiterer schwerer dachdecker, der sich bei seinem sturz den atlas und den dreher (ich glaube, so hießen diese knöchelchen) gebrochen hatte, weshalb er eigentlich sofort am sogenannten genickbruch gestorben hätte sein sollen. nicht so er, mit seinen einhundert kilogramm. er lag im drehbett, einem waagerechten gestell, welches alle vier stunden zur vermeidung von druckstellen um die eigene achse zu hundertachzig grad gedreht wurde. also von der rückenlage in die bauchlage und das alles mitsamt einem patienten, der die achse bildete. zur entstauchung der wirbelsäule wurden in die schädeldecke an den schläfen beidseitig kleine löcher gebohrt, an denen bis zu vierzehn kilogramm gewicht mit einer zange befestigt wurden. jener dachdecker also träumte viel und bewegt, weshalb er nächtens, kaum drei wochen nach seinem unfall und ohnehin wie durch ein medizinisches wunder von keinerlei nervlichen ausfällen beeinträchtigt, aus jenem drehbett zum boden abrutschte, was eigentlich spätestens dann seinen sicheren tod hätte bedeuten sollen. aber nichts geschah, er rief, dort am schädel verbohrt hilflos hängend, die nachtwache, die ihn mit eilig herbeigerufener unterstützung alsdann wieder auf die unterlage hiefte, sicherlich wartend auf und befürchtend: den letzten knack. er war ein sonniger kerl und wurde, nicht ohne ihn nochmals auf sein immenses maß an glück hingewiesen zu haben, nach drei monaten als komplett geheilt entlassen.
ich habe in dieser zeit in unzähligen nachwachen das rollstuhlfahren erlernt. kippeln auf zwei rädern. wir sind auf den fluren rennen gefahren. haben nachts dort wannengebadet und uns vielleicht vorgestellt, schwester barbara oder schwester anita oder schwester mariza würden sich vielleicht und hoffentlich zu uns in die wanne legen, wenigstens nachts, mit pinimentholbrüsten, geil und gott etwas entgegensetzend in diesem erahnten elend. aber nein, sie hatten sich schon lange ihre ärzte ausgesucht oder auch nicht. es war das ankommen im leben, die grundlinie. nach dem ganzen altphilologischem kram in einer zwar universitären, aber unwahren kleinen schönen stadt jenseits sämtlicher wolken.
seltsam und mein glück: gestorben ist niemand während meiner dienste. gestorben wurde, wenn ich nicht dort war. ich bin mir heute jedoch fast sicher, dass keiner der damaligen patienten noch lebt.
ein paar jahre später hörte ich, dass paul, mittlerweile lange entlassen, als rollstuhlfahrer in seinem rollstuhlkraftfahrzeug einen weiteren schweren unfall verursacht habe: er sei, mit vier anderen personen in seinem wagen (allesamt aus seinem heimatdorf), beim überholvorgang frontal auf ein entgegenkommendes fahrzeug geprallt. der unfall ereignete sich unweit der stelle, an der der fahrer vor jahren bereits schwer verunglückt war. vier insassen seines fahrzeugs seien noch an der unfallstelle verstorben, ebenso wie das ehepaar im entgegenkommenden fahrzeug sowie dessen vier monate altes kleinkind auf dem rücksitz. der bereits wegen des früheren unfalls behinderte fahrer habe jedoch als einziger, schwerverletzt, ein weiteres mal überlebt.
(schneck06, oktober 2007)
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