Ey, Katastrophe! ne?

Bahram sagt jetzt oft aus Spaß „Ey, Katastrophe!“ Und wie er das dann sagt… mit zentralasiatisch trocken kehlkopfrollendem „r“. Er ist ein sehr guter Sprachbeobachter. Fast schon ein Semantiker. Auch die Endung „…, ne?“ kommt neuerdings zur Anwendung. Und jedesmal müssen wir alle lachen, ne? Die Kirschkern übt mit ihm schriftliches Dividieren und so weiter. Die promovierende Tochter einer Freundin nun auch. Die wunderbaren stillen Helfer ohne Ehrenamtallüren. Danke! Mathematik und Englisch stehen nun ganz oben auf dem Plan. Er hält alles stets in Ordnung mit seinen Schuldingen, richtet sich abends seine Sachen für den nächsten Tag, damit er das nicht morgens tun muss vor dem Unterricht.

Anders Salman, er kokettiert gerne mit Verschlafen und Ordnung halten ist eher was für Weicheier. Ein bisschen unmännlich. Ein Tiger ist er immer noch, der hinaus geht zum Streunen und seine Runden durchs Revier zieht. Er hat dann einen speziellen Gang, Hüften und Arme federn. Chillen mit der Clique. Auch „Deutsche“ sind da dabei, er wird nicht müde, das immer wieder mit großer Freude zu betonen. Finden wir auch. Es ist nicht gut, wenn alle nur mit Ihresgleichen rumhängen. Spätestens um 24.00 Uhr schleicht er wieder ins Haus, man kann sich mittlerweile darauf verlassen. Und er ist ein Aufpasser. Wenn die jungen Frauen aus der Clique am Wochenende trinken, dann hat er ein Auge auf sie, damit ihnen nichts passiert.

Ein bisschen sind die Beiden jetzt wie Pat und Patachon. Salman ist cool, er braucht nichts zum Überleben, außer sich selbst. Das ist seine stolze paschtunische Meinung. Allerhöchstens vielleicht noch sein Cap, sein 187-T-Shirt und seine Kopfhörer. Taschen und Rucksäcke sind eher etwas für Mädchen, ausgenommen seine kleine Bauchtasche. Von Deuter. Und wenn die Kirschkern sagt, das sei aber etwas „assi“, dann lacht er. Und wenn er dann doch einmal seine Sachen sucht oder sich sein Hunger meldet, dann hat Bahram diese Dinge bereits liebevoll vorrausschauend, fast väterlich mittlerweile derzeit, alles in seinen Rucksack gepackt. Zum Beispiel Salmans Badehose und ein Handtuch für den Elbstrand. Oder das Vesper für die lange Zugreise. Oder Schulzeug, Stifte, Radiergummi. Die Hausaufgaben-Liste. Oder das Busticket. Für Salman scheint dieser Service mittlerweile selbstverständlich zu sein.

Oder jene neue nicht teure, gleichwohl schicke Armbanduhr, die Bahram sich gekauft hatte. Salman „lieh“ sie sich aus, befand die Uhr für gut und daher auch für sich selbst passend und geeignet. Nach zwei Tagen Entleihe forderte Bahram dann ungeduldig seine Uhr zurück. Oder eben Geld. Woraufhin Salman ihm jovial einen Zehner in die Hand drückte und sagte, „Hier hast Du Geld, kauf Dir eine Neue.“

Beide reden gern in der dritten Person übereinander, auch, wenn sie direkt nebeneinander sitzen. „Ja, DER hat kein Brot gekauft…“ und so weiter. „Ja, DER hat das Bad nicht geputzt…“ oder „DER hat keine Ahnung, Alter!“ Oder, meist Salman über Bahram: „DER lügt!“ Mit entsprechender Gestik der rechten Hand. Sie beschimpfen sich einfach gerne gegenseitig. Wie es scheint allerdings in gehörigem Meta. Derzeit, mittlerweile. Manchmal wie ein altes Ehepaar. Offenbar ein alter afghanischer Männerbrauch.

Vielleicht aber auch gar nichts an ländertypischem Initiationsbrauchtum, sondern nur der Weg zweier junger männlicher Wesen, die sehr extrem aus ihrer Spur geworfen wurden und die nun mit dieser gewürfelten Situation in fremden Ländern umgehen müssen. Beide sind ja, jenseits ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Volksgruppen, so verschieden, wie es verschiedener kaum geht. Oft fragen wir uns, wie sie wohl in zehn Jahren übereinander denken. Ob sich in dieser Zeit irgendetwas von jeweilig ihnen einst verbunden haben wird. Oder ob es eben ein letztlich nüchternes Arrangement auf Zeit ist – und bleiben wird.

Und ja, natürlich gibt es auch einen Alltag. Dieser kann auch anstrengen und einem manchmal an den wohlmeinenden Nerven ziehen. Die nicht reparierte Fahrradkette, der ewige Haushalt, Begleitung der Hausaufgaben zu Tag- und vor allem Nachtzeiten, das Putzen, nicht gelöschte Lichter, offen stehende Fenster bei gleichzeitig aufgedrehter Heizung, herumliegendes Zeug und Tand, das morgendliche Aufstehen, verlegte Ausweise. Der Mobilfunk im Allgemeinen, spätabends vorgetragene dringliche Anliegen, die einhundertste Nichteinhaltung von kleinen Vereinbarungen, die manchmal unabgesprochenen Übernachtungswünsche anderer minderjähriger Freunde, die ferienwochentags gegen 23 Uhr vor der Tür stehen und bekocht werden, ohne dass deren Wohngruppenbetreuer davon weiss. Dass der davon weiss, so ist die Regel. Und man selber wusste das auch nicht. Entscheidungen treffen, als „Eltern“ einerseits, aber immer ja auch als Gastgeber, als der ich mich fühle.

Jedoch diese Dinge sind eben nun mal normalfamiliär. Sie kommen ja in den besten Clans vor.

Hingegen dazu die stets begleitende Flüchtlingsbürokratie, Praktikumsplatzsuche, die Nebenjobsuche, die Sprachkurse jenseits der Schule, Konsulatskorrespondenz, Mathematik in Nachhilfe, hier ein Termin, dort ein Gespräch, die Schule und ihre Arbeit, da noch eine E-Mail, die Wohnungssuche und allerlei Anderes. Die zuständigen Ämter sind nach wie vor sehr engagiert. Allerdings gibt es ja auch gesellschaftlich auffrischende Gegenwinde in Flüchtlingsfragen. Diese lernt man dann nach und nach kennen. Oft auch unausgesprochen. Oder verdruckst. Und auch manches Mal ganz in der Nähe.

Integration ist ja nun nicht nach der Erstaufnahme mit einem „Hurra!“ und Kaffee und halal Kuchen automatisch vollzogen. Auch nicht nach einem Jahr. Im Gegenteil, es geht dann erst so richtig los.

Nur dann mag’s keiner mehr hören, ne?

Frau Mullah bezeichnete es neulich kurz und knapp einmal so: Willkommenskultur kann jeder, aber Bleibekultur, darauf kommt’s an!

Nach dem letzten Verlegen des Wohnungsschlüssels haben wir pflegeelterlich eine strenge Regel aufgestellt: Derjenige, der den Schlüssel verliert, muss uns beim nächsten Mal 150,00 Euro bezahlen. Das muss richtig wehtun, so unser Plan. Nun aber ist seit ein paar Tagen der Schlüssel von Salman offenbar nicht verloren, sondern „kaputt“. „Ah…“, sage ich, „…kaputt.“ Und schaue ihn von der Seite an. Er grinst zurück. Ein Schelm. Ich hake nach mit einem „Kaputt? Wie geht ein Schlüssel kaputt?“ Und siehe da, ja, der Schlüssel sei vor ein paar Tagen sehr unglücklicherweise abgebrochen. Sagt er. „Aha, abgebrochen…“ sage ich. „Und wo ist das Stück, das steckengeblieben ist?“ und erahne bereits seine Antwort. Das habe er mit einem Draht herausgepopelt. Sagt er und kann sich das Lachen kaum verkneifen. „Und wo ist das herausgepopelte Stück? Kann ich das mal sehen?“ frage ich. „Oh, das habe ich weggeschmissen…“ grient er. „Aha, weggeschmissen…“ sage ich. Und griene auch.

1:0 also für Salman. „Herauspopeln“ ist übrigens ja ein sehr spezielles deutsches Wort. Schön, dass die Beiden nun schon wissen, was „herauspopeln“ heisst. Das Wort „entsorgen“ kennen beide ja schon lange, das Thema hatten sie schon in der Schule beim wichtigen europäischen Lerninhalt ‚Mülltrennung‘. Den abgebrochenen Schlüssel hat Salman mittlerweile natürlich ersetzt, selbstverständlich zu seinen finanziellen Lasten.

Dies neue Schuljahr jetzt ist sehr wichtig. Am Ende wird, so Gott und Allah wollen, ein offizieller Abschluss stehen. Dieser würde dann alles Weitere ermöglichen, wann auch immer. Die zweite Anhörung steht noch aus. Hoffentlich gibt es bald einen Termin. Bahram sucht seit einiger Zeit schon eine Wohnung für sich allein. In der Schule gibt es nun Praxistage in der Metallwerkstatt. Der Lehrer dort ist wohl sehr „streng“, aber auch sehr „gerecht“. So erfahren wir. Vor allem Salman ist davon beeindruckt. Überhaupt Strenge. Ich hörte, der Lehrer schlägt „Sit-Ups“ als kleine Sanktion für Ungereimtheiten der Schüler vor. Und war sich bereits nicht zu schade, auch selbst sportlich tätig zu werden, sollte er sich einmal geirrt haben. Sehr zur Freude der Schüler. Sowas überzeugt!

(…)

Aus der ursprünglich angedachten „Kurzzeitpflege“ im semidramatischen merkelschen Herbst 2015 ist also nun tatsächlich eine Verbundenheit auf Lebenszeit geworden. Jedenfalls von unserer Seite. Ob man das will oder nicht. Das hatten wir so nicht gedacht. So resümieren Frau Mullah und ich immer mal wieder die vergangenen eineinhalb Jahre beim Weinchen im Pfarrgarten oder in Maloja oder in der Nähe von Avignon oder in Neukölln. Wenn gerade mal keine Jugendlichen dabei sind. Und auch dem Fräulein Kirschkern, die da mittendrin ist, denke ich, wird es wohl so ergehen. Solange wir herumlaufen werden im Leben, werden wir uns sicherlich hie und da stets überlegen, wie es denn wohl gerade Bahram und Salman geht. Wo auch immer sie dann wohl sein und leben werden und was auch immer ihr Lebensweg dann sein wird. Fern oder nah. Und immer werden wir uns gewiss wohlmeinende Sorgen machen, klein und groß. Ganz elterlich oder wahlgeschwisterlich. Diese gemeinsame Zeit ist mittlerweile keine vorrübergehende Episode mehr, die verschwindet oder sich gar jemals vergessen ließe einfach so. Aber warum denn auch. Nein, das ist Lebenszeit, und eine schöne dazu. Dass das so ist, das liegt aber natürlich ganz wesentlich an Bahram und Salman, die eben so liebenswert sind, wie sie es eben sind, jeder für sich. Ein Zufall, ein Glück. Und es liegt an der Kirschkern. Und sowieso an Frau Mullah.

(…)

tbc.

schlitzwitz

Der Unterbauch bemängelt schweres Gewölle, sagt, den Habicht und seine Knochen musst du schon selber wieder da irgendwie rauskriegen. In den Magazinen schreiben sie sinngemäß: „Das erotische Bildthema wird derzeit wiederentdeckt.“ Was für eine bahnbrechend wegweisende Grandiosität. Erkenntniskuratorische Höchstleistung. Die neuen Langarme sind kurvenbetont und Bäuchlein erträgt Feinripp stoisch. Ein tiefer Ausschnitt lässt sich auch schwarz tragen. Ich sollte mal wieder alles zusammenklatschen, den Kaliningrader Klappspaten auspacken, Quark und Nüsschen rationieren, das Rouge wegwerfen (oder an Arme verschenken) und den Rasen/Busch mit intelligentem Wald japanischen Essiggewächses auf sechs Zentimeter stutzen. Oder Millimeter. Wie alles andere auch. Vor allem nicht immer freundlich grinsen am Schlitz für Überweisungen, sondern alles ablecken, was mir unter die Plunze kommt. Dass sich Finger verschränken lassen, das wussten wir ja nun schon. Anstatt dessen einfach mal wieder einen verbindlichen Hummer aus Helgoland zurückgehen lassen, sogleich danach sexy Familien gründen. Und die dann dem Staat großherzig überlassen. Auf dem Festland, sonstwo. Im Hintergrund kilometerweit Maisfelder fürs Biogas, dahinter irgendwelche Alpen.

tour

kocher
römö
phil

wenn man tour macht, dann biegt man entweder links ab, oder eben rechts. je nach laune. schlechtklingende ortsnamen, wie beispielsweise „arschhofen“, „killerspinnenweiler“ oder „kackmoos“ sind zu meiden. gegenteiliges zu bevorzugen. schlafplätze sollten sicher sein, aber nicht zu sehr an exponierten orten liegen. beispielsweise ein aldiparkplatz in der peripherie von tortursiedlungen unter der woche, hier ist eine abendliche ruhe schein, die jäh beendet wird am nächsten morgen in der früh. gebüsch für eine kleine notdurft wäre schön. aber mörder sollten nicht unterwegs sein in der nacht. man schläft ja im wagen hinten drin. das könnte begehrlichkeiten wecken.

Wir lernten also dann zunächst Alsfeld kennen. Dort übernachteten wir in der Nähe eines Freibades. Ein kurzer Weg durch die abendlich ausgestorbene Innenstadt zeigt schönes Fachwerk Waldhessens. Aber mehr dann auch nicht. Am nächsten Tag weiter nach Norden, ein Abstecher ans Grab von Wilhelm Busch im Vorharz. Und an jenes des Exschwiegervaters. Wir haben ein Zigarrettchen dortgelassen, in alter Manier. Mal sehen, was die Grabpflege dazu meint. Zwölf Jahre liegt er nun schon dort. Ein schöner Platz, wenn man das so sagen kann.

Weiter in Richtung Hodenhagen. Natürlich musste das sein, der Safaripark. Dort kletterten uns einst die Affen aufs Dach. Die Kirschkern beharrte auf komplett geschlossene Fenster bei der Durchfahrt durchs Gehege der Löwen und weissen Tiger. Süss waren sich balgende junge Nashörner. Pubertierendes Anpöbeln seitens des Kleineren. Wie im echten Leben. Der nebenliegende Erlebnispark mit Schiffschaukel, Riesenrad und bewegungsorientierten Spaßdingen hatte seine Attraktivität verloren. Mit sieben Jahren geht man da anders rein, als mit siebzehn. Und überhaupt nennt sich alles nun im Update „Safari Ressort“. Wie in der edlen Serengeti. Da waren Kommunikationsdesigner drüber. Abends dann übernachten am Vogelpark Walsrode. Das schöne Toilettenareal mit Dusche haben sie ersatzlos abgerissen. Nachts 7 Grad, tags 17. Nicht wirklich sommerlich, aber nicht zu ändern.

Weiterfahrt nach Norden. Das schöne Eutin und sein schöner Marktplatz. Die Kirschkern duschte und parfumierte im Strandbad Malente, während ich im Kfz zu Mittag schlief. Ein kurzer Abstecher nach Sielbeck und den Ukleisee. Dort, im Försterhaus, hatten wir sehr schöne Zeiten und ebensolche Weihnachten erlebt. An der Eingangstüre haben sie nun das von mir einst liebevoll und mühsam freigelegte Jugendstilornament wieder in langweiligem Jägergrün überstrichen. Bestimmt eine der unzähligen herkömmlichen Malerfirmen, ohne Ahnung, Sachkenntnis oder Detailliebe. Ich hatte das untersucht, im Original war’s ein leuchtendes Hellgrün gewesen, zum altgrasgrünen Fachwerk. Nun ist wieder alles schön ordentlich, nämlich Jägergrün. Wahrscheinlich irgendein DIN-Lack, ganz sicher nicht Ölfarbe.

Umso schöner dann der kurzentschlossene Besuch auf Fehmarn. Bei lieben alten Freunden, so würde ich mit Fug und Recht das mittlerweile bezeichnend sagen. Sichten auf die Jetztzeit, Humor, Vorhaben und generell philosophische Einschätzungen, die Weltlage, die kleinen und großen Geschichten, Nachbarschaftserlebnisse hie und da, die sich sehr in den Tiefen ähneln. Und sogar in den Untiefen. Wo bitteschön gibts das noch. Dazu selbergemachten Fisch, herrlich! Es wäre wirklich schön, wäre man näher beisammen. Ich würde mir solche Herzensnachbarn auch am Waldrand wünschen. Vor allem aber ganz herzlichen Dank!

wir wären gerne dort noch länger geblieben, aber die regeln vom tourmachen besagen, dass man nicht länger als einen tag lang an einem ort bleibt. so steht es geschrieben seit zehn jahren im goldenen buch der tourregeln.

Zurück nach Europa, so sagen wohl die Fehmarner/innen, wenn sie über die schöne Brücke aufs Festland fahren. Sodann fahrerisches Plänkeln durch Ostholstein. Besuch in Kalifornien, Strandspaziergang ebendort. Ebenso in Brasilien. Und ein Besuch des Marine-Ehrenmales in Laboe. Durch ein U-Boot kriechen. Überraschenderweise interessierte sich die Kirschkern. In der eigentlichen Gedenkstätte dann Schiffsmodelle im Massstab 1:50. Auch das Schlachtschiff „Bismarck“. Dieses hatte das englische Schiff „Hood“ versenkt mit Mann und Maus in der Dänemarkstraße im Mai 1941, bevor es wenige Tage später ebenso zum Grund des Atlantik geschickt wurde von nachvollziehbar rachsüchtigen Briten. Ich hatte ja schon berichtet immer mal wieder über diese Ereignisse und wie sie mit der Familie verknüpft sind. Ich glaube, mehr als 3000 Menschen verloren ihre Leben bei diesen bescheuerten Manövern. Mich erstaunte jedenfalls das Interesse der Kirschkern. Vielleicht geschuldet ihrem Urgroßvater einerseits, der lediglich überlebte, weil er Urlaub hatte. Und den zufälligen Verbindungen zum Großvater eines guten Freundes, der offenbar maßgeblich am Versenken des englischen Schiffes beteiligt war. Allerdings dann ebenso versank mit der „Bismarck“ drei Tage später. Insofern gäbe es da Verknüpfungen, generationsübergreifend. Lasst die Toten in Ruhe ruhen.

Entlang der spätnachmittaglichen Küste Ostsee südlich Flensburg. Rehe, Hasen, Kaninchen. Dämmerung, also schnell und rechtzeitig galt es, einen Schlafplatz zu suchen. Gefunden in Königsgaard, oder so ähnlich. Direkt hinter dem Deich. Dann noch an den nächtlichen Strand, Kirschkern Cola, ich Weinchen, eine Menge Herbstwind schon Ende August und vertraute schöne Gespräche. Pläne hat sie, zu Fuß eine Insel zu umrunden. Island? Irland? Man wird sehen. Nachts abermals keine Mörder.

Frühe Weiterfahrt nach Flensburg, dazu Erinnerungen an die schöne Vorabendserie „Jetzt kommt Kalle“. Und dann diese endlosen Strassen geradeaus durchs schleswig-holsteinische Agrargebiet. Eine Ödnis nach der anderen. Ein Mann, ein großer Traktor, siebzehn Felder abmähen am Tag. Nicht wirklich schön. Genossen auf dem Wege: Genervte ältere Landstrassen-Audis mit Anhängerkupplung oder tiefschwarze Bauern-PickUp’s von Nissan. Oder neuerdings auch von VW. Breitreifengegend, quadratkilometerweit.

Emil Nolde besucht. Die Nordsee riecht. Man weiss ja jetzt mehr über ihn. Gut zu wissen. Ein bisschen tut es seinen Bildern Abbruch, bei mir. Aber nur ein bisschen. Ich weiss ja selbst, wie Bilder entstehen: Trotz oder weil. Man muss ja, gerade heute, aufpassen, wem und wie vorschnell man ggf. Unrecht tut. Auch hier denke ich: Lasst doch die Toten ruhen.

Auf Römö an und auf den Strand gefahren, bis nach ganz vorne, dann bisschen barfuß, Flut kommt, Päuschen mit Dösen an den Dünen. Die Drachensteigerlasser, oft Männer um die 45, alleine unterwegs, nerven. Ich habe keine Ahnung, welche Weibchen sie durch ihren vorgezeigten Kontrollvorgang bezüglich Drachen imponieren wollen. Allein dies flatternde Stressgeräusch. Es scheint irgendwie glücklich zu machen. Überhaupt diese heutigen Strandaktivitäten, gerne vermeintlich sportlich und stets mit speziellen Ausrüstungen, dazu gerne hochpreisig. Wenigstens dem Anschein nach. Man könnte doch auch einfach mal nur in Ruhe am weiten Strand herumsitzen und den Weltfrieden andenken. Mindestens aber ausruhen. Stattdessen muss immer irgendwas gemacht werden.

Später zurück nach Husum mit einem Spaziergang durch den Hafen. Viele Flüchtlinge dort. Wir erkennen und unterscheiden mittlerweile liebevoll Afghanen, Pakistani, Syrer oder Andere an ihrer Nasenspitze. Auf einhundert Meter. Da macht uns keiner mehr was vor. Das hat was Schönes. Wir denken viel an N und B, die zu Hause sturmfreie Bude haben. Und denken an Frau Mullah, die ihren gebrochenen Fuß im Süden heilt. Das Wetter immer noch wenig sommerlich. Später dann ein Schlafplatz auf Nordstrand, hinter einer angeblichen Kurklinik. Früh schlafen. Am nächsten Morgen Frühstück am Rand eines modernen Maisfeldes. Alles in Reih und Glied. Ich möchte heutzutage kein Maisfeld mehr sein.

Dann Duschen und Schwimmen im Hallenbad zu Husum. Sodann Weiterfahrt nach Schleswig. Dort Dombesteigung. Wir suchten nach unseren Graffiti, vor sieben Jahren haben wir die Namen aller mitreisenden Kuscheltiere irgendwo exponiert schriftlich mit Bleistift verewigt. Wir finden diese Verewigung aber nicht mehr. Die muss aber noch irgendwo dort sein. Schade. Als Trost begehen wir die Fussgängerzone, um durch Übersprungskäufe inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Auch dies gelingt uns nicht. Gegen fünfzehn Uhr Weiterfahrt nach Itzehoe. Dort schön italienisch essen. Schlafplatz in Nähe Bahnhof ebendort. Kirschkern schläft, ich nicht. Nachts seltsame Gestalten. Lege mein Messer griffbereit und wache wie ein Luchs. Morgens Zähneputzen und Pipi am Bahndamm. Aufbruch nach Hamburg via Landstraßen.

Zuletzt vier Tage Hamburg mit der Familie. Alles hat geklappt, B und N bewältigen alleine die lange Zugfahrt mit Umsteigen und Zugnummer, Wagennummer und Sitzplatzreservierung. Und alle treffen wir uns am Hauptbahnhof, Frau Mullah nun ohne Fußbandage. Die Pension nahe dem Rathaus. Natürlich eine Hafenrundfahrt, Reeperbahn (tags), das G20-Stressviertel, afghanisches Essen, mit dem guten und lieben Freund und seiner ebensolchen Frau unterwegs, auch am Elbstrand gewesen, den Fan-Shop von 187 Strassenbande entdeckt, der B kauft T-Shirt und ist ganz glücklich, weitere Oberbekleidung erworben, in Hamburg kann man das ja, und gut geschlafen obendrein. Schöne Stadt, dieses Hamburg. Und endlich Bombenwetter. B und N übrigens gefällt Hamburg besser als Berlin.

Schließlich fahren die Kirschkern und ich mit dem Kfz heim nach Süden, die Anderen mit der Bahn gemeinsam, so der Plan jedenfalls. Aber N verpasste den vereinbarten Treffpunkt und damit den Zug. Er hat keine Fahrkarte dabei, diese behütet Frau Mullah. N gelingt es, ein neues Ticket zu kaufen und abends, mit drei Stunden Verspätung, trifft er endlich wohlbehalten im Dorf am Waldrand ein. Er hat es ganz alleine geschafft. Vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen. Willkommen in Europa. Er ist ganz stolz – mit Recht. Und wir, die Köchin, die Kirschkern und ich, sind es auch ein bisschen.

es ist ja nun ‚end of summer‘, die zuletzt ungeliebte schule vorbei, eine aufbruchseele liegt in der luft oder kriecht unter den türen hindurch oder dampft aus den ritzen von irgendwelchen bodenbrettern, die es schon gar nicht mehr gibt. die kirschkern übersiedelt schon bald in die große stadt und die UMFs sind nun angekommen. sie beide, der B und der N, müssen (und sollen) ja auch – parallel zu diesen ihren ganzen äusserlichen kulturneuigkeiten – eine ihnen zustehende „ablösung-vom-elternhaus“ durchleben dürfen. bla-bla? nein, wenigstens irgendwie. das gehört zur pflegeelternpflicht. der N sucht schon eifrig eine wohnung. alle werden bald achtzehn jahre alt. wahrscheinlich ja war es unsere letzte tour in dieser art, liebe kirschkern. und das ist auch vollkommen ok so. auf andere zukünftige arten freu ich mich, so gott will: dann schlafen wir im dreisterne hotel, gehen abends ins casino und dein freund erklärt mir (und frau mullah) die dann dementsprechend zeitgemäße welt. ich ziehe dann auch ein weisses hemd (slim fit) an, rasiere mir die haare aus den ohren, setze einen strohhut von raiffeisen auf und erzähle garantiert nichts von früher.

/*with love*