Bahrams Vater ✝

Nordsee nicht nur Mordsee

Ich habe hier ja lange nichts mehr über Bahram* und Salman* berichtet (*Pseudonyme, seinerzeit wegen Jugendschutz und überhaupt den düsternen Eigenschaften des Internets). Das sind die beiden damals noch minderjährig Geflüchteten aus Afghanistan, die ab dem Frühjahr 2016 als „Pflegekinder“ über zweieinhalb Jahre bei Frau Mullah, der Kirschkern und mir im Pfarrhaus lebten und zu denen heute noch ein sehr reger und herzlicher Kontakt besteht. Beide sind mittlerweile in Deutschland „angekommen“ und gehen, jeder auf seine Weise, ihren Weg. Nun ist etwas schreckliches passiert, Bahrams* Vater ist vor einer Woche an Covid-19 verstorben, was für die Familie in Afghanistan auch in Bezug auf die alltägliche Versorgung, mithin das Überleben in Ghazni/AFG, eine Katastrophe darstellt. Frau Mullah und ich haben schon spontan in dieser akuten Notsituation geholfen und nun gibt es auch im Umfeld viel Teilhabe und einen Spendenaufruf, den ich hier im Folgenden gerne unbedingt weiterverbreiten möchte. Wir sind froh und dankbar über jede kleine Spende. Haben Sie herzlich vielen Dank. (Foto: Bahram* auf Amrum, Sommer 2019)

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Mit diesem Spendenaufruf bitten wir um Hilfe für einen in Tübingen lebenden jungen Geflüchteten, den 21-jährigen Afghanen Nasim S., nach einem Covid-Todesfall in seiner Familie.

Nasim S. kam im Jahr 2015 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Inzwischen hat er im Jahr 2020 durch gerichtliche Entscheidung einen Aufenthaltstitel erhalten. Er absolviert derzeit die Berufsfachschule mit dem Ziel der Mittleren Reife. In Tübingen wurde Nasim lange Zeit von der KIT Jugendhilfe, dem Jugendamt und seiner Pflegefamilie betreut.

In der letzten Woche ist Nasims Vater Liyaqat Ali S. an einer Covid-19-Infektion gestorben. Die Ärzte im Krankenhaus von Ghazni konnten das Leben von Herrn S. nicht retten. In Europa wäre es durch den Einsatz von vorhandener Medizintechnik wahrscheinlich möglich gewesen, sein Leben zu retten. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass die Pandemie die Ärmsten und Schwächsten dieser Welt am härtesten trifft.

Herr Liyaqat Ali S. hinterlässt in Afghanistan eine kranke Ehefrau, zwei durch Unfälle behinderte Töchter und Nasims minderjährigen Bruder. Die schiitische Familie gehört zur Volksgruppe der Hazara, einer in Afghanistan diskriminierten und durch Angriffe von Islamisten gefährdeten ethnischen Minderheit. Die humanitäre Situation in Afghanistan ist nach 40 Jahren Krieg insgesamt schlicht katastrophal.

Jetzt fehlt der Familie der Ernährer. Nasim konnte bisher durch Nebenjobs zwar gelegentlich geringere Beträge zur Unterstützung der Familie nach Afghanistan schicken, kann aber die Rolle des Ernährers von Deutschland aus nicht ausreichend erfüllen. Ein Familiennachzug ist nach geltendem Recht nicht möglich, denn dieser ist nur bei Ehepartnern und minderjährigen eigenen Kindern möglich.

Mit den Spenden wollen wir dazu beitragen, dass die Familie die Beerdigungskosten, die Krankenhausrechnungen sowie die Kosten für den lebensnotwendigen Bedarf an Lebensmitteln und medizinischer Versorgung bezahlen kann.

Wir bitten um Spenden unter dem Betreff „Nasims Vater“ auf folgendes Konto:

Andreas Linder / IBAN: DE55 4306 0967 7007 8401 00 / GLS Bank, BIC: GENODEM1GLS

Anmerkung: Dies ist eine private Hilfsaktion. Es können daher keine Spendenbescheinigungen ausgestellt werden.

Unser Ziel ist, mit mindestens 1.000 Euro helfen zu können. Wir freuen uns auch über kleinere Spenden und danken im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen,

– Gudrun Bertsch, Co-Schuldekanin und ehemalige Pfarrerin der Ev. Kirchengemeinde Hagelloch, ehemalige Pflegemutter

– Matthias Hamberger, Leiter der KIT Jugendhilfe Tübingen

– Andreas Linder, move on – menschen.rechte Tübingen e.V., Beratungsprojekt Plan.B

– Tina Reitz, KIT Jugendhilfe Tübingen, Projekt jumbb

– Sebastian Rogler, ehemaliger Pflegevater

the venezianische variante

St. Lucia, Venezia

(Abb.: kommst Du an.)

SETZTEN uns also gegen neunzehn uhr in den regionalen schnellzug, vorfreudig, ab einem teilort einer süddeutschen mittelgroßen region, genauer: reutlingen. mit genügend zeit nach ankunft in stuttgart, den ice nach münchen zu erreichen, um dann dort in den nachtzug nach venedig zu steigen, um am nächsten morgen um halb neun in venezia/st.lucia einzufahren. aber noch vor metzingen, dem ersten halt nach abfahrt, hielt das züglein auf freier strecke. zunächst einmal kommt sowas ja mal vor. die lautsprecher für etwaige durchsagen funktionierten nicht, aber das erfuhren wir erst später. es verging eine halbe stunde und mehr davon, mittlerweile waren wir in metzingen eingefahren. niemand wusste etwas, bis dann jemand etwas wusste, nämlich eine information, die eigentlich keine war: eine weiche sei defekt. und man wisse nicht, wie lange das dauern würde. niemand wisse das, wann sie wieder undefekt wäre.

WIR sahen also nach, wann ein folgender schnellzug von stuttgart nach münchen führe und wann dieser dort ankäme. ein taxi „käme in ungefähr zehn minuten“, so erfuhren wir unter der telefonsuche „taxi metzingen“. wir hatten noch überlegt, auf solche weise die stuttgarter fernzüge zu erreichen. es war aber hoffnungslos. die ganze vorfreude auf diesen so ersehnten kleinurlaub war den bach hinunter. die einzige noch möglich verbleibende supermöglichkeit war, mit einem schienenbus zurück nach reutlingen zu fahren, um dann dort so schnell wie möglich mit dem auto nach münchen zu jagen. was wir dann auch taten. wir fuhren überwiegend 170 mit meinem lieferwagen, der sich nicht unbedingt für solche dinge eignet. auf der linken spur erreichten wir den münchener stadtrand ungefähr 40 minuten vor abfahrt des kaiserlich königlichen nachtzuges.

ÜBERLEGTEN noch, irgendwo in den bayerisch-hauptstädtischen vorstädten oder einfallstraßen gratis zu parken und dann von dort aus ein taxi zum bahnhof zu nehmen. das aber war zu unsicher, denn nirgendwo waren taxis zu sehen und jede minute zählte sich. es war mittlerweile 22.50 uhr, also wagten wir die fahrt zum bahnhof, auf ein parkhaus hoffend. dieses fanden wir wie durch wunder und schicksal, parkten unverzüglich ebenda im zweiten stock auf einem frauenparkplatz und beim kofferhasten zum bahnhof sahen wir noch den gebührenhinweis „30 eur/tag“. das war uns dann aber irgendwie auch egal. schließlich, vier minuten vor abfahrt des nachtzuges, erreichten wir den bahnsteig schweißgetränkt mit puls und alle.

IM vorfeld waren ja italienische einreiseanmeldungen online auszufüllen gewesen, diese hatte wir sogar sorgsam ausgedruckt, ich bin ja so ein analoger mensch, ich kann gut mit zetteln, nicht so mit pixeln. und den obligatorischen schnelltest auch verbrieft und gestempelt mitgenommen, ein österreichischer jungschaffner ließ sich vor innsbruck alles zeigen und nickte immerhin zustimmend. wie schön, wenn diese ganzen mühen diesartig auch mal gewürdigt werden, und sei’s nur im vorbeigehen. und wahrgenommen, wenigstens.

ANDERS bei der rückfahrt sodann sechs tage später: die digitale einreiseanmeldung nach heimatdeutschland hatten wir brav ausgefüllt und abgeschickt. sogar mit zugnummern und pipapo. selbst einen schnelltest des italienischen roten kreuzes hatten wir gerade noch so erlangen können, nach zwei stunden des anstellens am venedigschen bahnhof, anstatt in dieser wertvollen zeit noch die letzten stunden in der sonne am grand-canal beim kaffé verbringen zu können. was soll ich sagen, niemand interessierte sich später im zuge dafür. keine sau, sozusagen. weder für die einreiseformulierung, noch für den negativen schnelltest. noch nicht einmal das ticket wurde geknipst, geschweige irgendein personaldokument zur einsicht verlangt.

WIR, und nicht allein wir, kamen uns ein bisschen blöd vor. jedenfalls für ein paar stunden. ein nettes münchener umlandpärchen mit sohn, dieser ca. 8 und süß und sehr aufmerksam, wartete vor uns in der testschlange und es hatte sich ein interessantes gespräch über „was wäre eigentlich, wenn?“ entsponnen. was wäre, wenn der venetianische schnelltest positiv ausgefallen wäre? mit aller vorangegangenen registrierung? „das transportunternehmen darf keine positiven personen transportieren“, so oder so sinngemäß ähnlich hatten wir gelesen. ob man dann aus dem zug geworfen würde? das pärchen verließ irgendwann sicherheitshalber die schlange, ein möglicher positiver test, mithin ein falsch-positiver test, hätte ja theoretisch dann ungeahnte folgen. kurz waren wir uns uneins. frau mullah und ich. ich wollte auch gehen, frau mullah aber wollte das durchziehen. und schließlich wollte auch ich das durchziehen. schon so rein aus neugierigem prinzip. und vielleicht wäre diese schöne spontanreise ja auch noch ungeahnt verlängert worden, in irgendeiner venetianischen quarantäne. mit blick aufs wasser.

SPANNUNG erhält ja außerdem die körperliche und geistige beweglichkeit, zu allen lebensaltern, oder etwa nicht?

SO also geht corona und reisen. na gut, ab übermorgen ist italien sowieso kein risikogebiet mehr. wie ich heute las. diese ganzen bestimmungen, von wegen „begeben Sie sich unverzüglich in selbstquarantäne“, alles quatsch. eigentlich müssten wir die ergebnisse der schnelltests aus italien binnen 48 stunden beim örtlichen gesundheitsamt oder sonstwo einreichen? aber auch hier gibt es sehr unterschiedliche informationen. die sich ohnehin täglich ändern. das einzige, was digital durchrieselte, war eine sms an mich, ich solle irgendwo informationen lesen, da ich aus einem risikogebiet heimkehre.

UND dann dieses permanente online- und qr-code-gedaddel. auf der hinfahrt hörten wir aus einem jugendlich besetzten nachbarabteil durch die pappwand, wie eine junge frau mit freunden in iserlohn telefonierte, diese mögen ihr doch bitte noch schnell einen negativen test mit ihren, der jungen frau, eckdaten aufs handy spielen. und was das kosten würde? dreißig euros. geschenkt.

ES war ein wunderschönes und dringliches wegsein, und nicht ziemlich unwichtig. nach diesem jahr. kommt mir vor, wie 2,5 wochen. dabei nur sechs tage. wir wohnten auf guidecca. diesesmal mit blick nach süden, auf die lagune.

(…)

IM parkhaus münchen/marsstrasse bezahlten wir 180 steine fürs auto 6 tage da stehenlassen. zwei stockwerk tiefer bemerkten wir die offene schranke bei ausfahrt ohne nachfrage nach einschieben des tickets. ab dafür. und fuhren sodann glücklich, beschwingt und satt retour in die warme und sternklare nachtautobahn mit 120kmh nach westen. hochweiße böblinger suv’s und göppinger audis mit anhängerkupplung überholten uns mit 170 und dachsärgen mit allerlei aufklebern vergangener urlaube. wir aber zuckelten und sprachen über stucky, agnes, bootsführerscheine, carlotta, fortuny, grüne italienische umhängetaschen aus leder mit weißen nähten und die wunderbare lörracher gang.

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DIESE umbenennungemn der diversen varianten und mutanten ins griechische alphabet missfällt mir übrigens sehr. wie prosaisch/lyrisch und vor allem künstlerisch-assoziativ doch so manches klänge. und dadurch vielleicht auch den schrecken schwerer tatsachen und verläufe nehmen könnte? „die indische variante“ klingt nicht per se bedrohlich, finde ich, auch wenn diese das vielleicht ist. na gut, abgesehen vielleicht von „das indische tuch“ von edgar wallace. aber wer denkt nicht bei „die brasilianische variante“ ggf. ebenso an einen film vielleicht, mit viel wärme, gefühl und hitzigen und schwülen körperlichen grenzüberschreitungen? bei der „britischen variante“ könnte es sich um einen spionagefilm handeln. oder was wäre mit „die murmannsk-variante“? „die hessen-nassauische variante“ klänge nach einem geschichtlichen ereignis um 1848, die „petersburger variante“ würde das zahrenreich (doktor schiwago etc.) heraufschwören können. die „hawaiianische fluchtvariante“ könnte in sepia auf liebesdramen während der pazifikschlacht/kamikazee verweisen, „die delmenhorster variante“ hingegen ließe einen möglicherweise an jüngere deutsche humorfilme denken, mit viel lachen dazu und til schweiger samt tochter. bei der „phuket-variante“ wären wir wohl wieder beim sex, bei der „nicaragua-variante“ in einem politdrama unter palmen aus den späten 1970ern. „die saudische variante“, ein ding zwischen tausend und einer nacht und komplexem journalistenverschwindenlassen. „die helgoländer variante“ wäre etwas für küstenfreunde und klänge harmloser und nach temporärem schnupfen und robbenbabys. und bei der „kamtschatka-ischen variante“ würde ich an die gute alte zeit der windjammer denken, mit dreimastschonern und so weiter. die „samoa-variante“ wäre was für auswanderer, die „worpsweder variante“ etwas für sammler von alles-wird-gut-kunst. „die saigon-variante“ würde auch allerlei bedienen, die „tasmanische variante“ könnte an picknick-am-valentinstag anknüpfen oder an jenseits-von-afrika, hauptsache, die sechssitzigen flieger haben noch ledersitze und propeller und keine düsen und die frauen große helle hüte auf dem kopf und geld.

MAN könnte das jetzt natürlich noch weiter spinnen. ich mach das auch. zum beispiel „die königsberger variante“, oder diesbzgl. auch die „palmnicken’sche variante“ oder „die rauschener variante“. oder die „uklei’sche variante“ usf.

JETZT nur noch eine, aus aktuellem anlass, „die venezianische variante“, nämlich und natürlich. noch besser wäre „die giudecca’sche mutante“. wie schön, und mit stets pfiff, welch‘ großes genesenes glück.