Was ja aber auch ganz schön ist, ist das Wiederlernen vom Augenlesen. Wenn der Rest der Mimik verhüllt ist, sind die Augen ja das einzige, was bleibt an Einschätzung von Kommunikation. Immer wieder fällt mir nun auf, wie sehr doch die Augen nicht lügen können, auch wenn der Rest einer Person es vielleicht gerne täte. Oder wie sehr sie, die Reste und die Augen, versuchen, in der Gegend herum mir Stiefel oder Pferde zu erzählen. Der direkte Draht ins Hirn scheint maskiert wunderbar unverbaut. Das gefällt mir sehr. Auch wenn es ja temporär traurig ist. Und wie wenig im Grunde doch die Restkörpergestik ausrichten kann gegen die Augen. An den Augen kommt keiner vorbei. Konzentrat auf’s Wesentliche, ohne seminarerlernte Schnickschnack-Strategien. Wie es Anderen wohl mit meinen Augen ergeht, frage ich mich, vor allem wenn ich vom Pferd erzähle.
Jemandem, der erblindet ist, dürfte das aber wohl eher piepegal sein.
Ich spüre das: Viele meiner mir Lieben denken ab und an, wenn sich der Schneck das C. fängt, „dann stirbt der sicher“. Weil ich immer noch Zigarretten rauche. Das berührt mich natürlich. Aber kaum einer meiner mir nichtrauchenden Liebenden kann sich vielleicht vorstellen, dass auch ich große Angst haben könnte, dass ein Nichtraucher aus meinem nächsten Liebstenkreis stürbe. Oder eine Nichtraucherin. Anstatt mir.
Und hingegen ich da, ggf. ohne großes Pipapo, aus der Sache rauslatsche. Könnte ja sein. Alles sehr spannend gerade, tagtäglich.
Es ist schon sehr verschoben und wenn das Aussen verschoben, so denke ich oft an meine frühen Jahre im großen Wald und an grundsätzlich ebenda Erlerntes. Wenn es zu rutschig war auf dem alten Baum, beispielsweise, oder dieses schon lang verstorbene Holz, das einst in irgendeinem Sturm noch vor dem Klimawandel oder der Wiederbewaffnung oder dem Zuzug von Gastarbeitern aus Jugoslawien über den tiefen Bach gefallen war und dort seit Jahren in vier Metern Höhe uns zum Hinüberbalancieren einlud, zudem moosbewachsen, zu gefährlich zum Tänzeln an das andere Ufer erschien. Dann mussten wir uns eben entscheiden. Noch vor der Abendglocke um 19 Uhr, die zum kargen Abendessen (Mehlsuppe) rief. Oft übrigens auch gemeinsam, und in einer sonderbaren frühen Vernunft noch im einstelligen Lebensalter. Um dann notfalls diesen schönen Kadaver zu umgehen, auch wenn das Umgehen sich den jungen Cowboys und Indianern grundsätzlich ja nicht ziemte.
Wie Lottospielen, so hört man, so tun viele auf den Baustellen. Wider besseres Wissen. No Abstand, no Maske, no Problem. Wahrscheinlich alle schon geimpft. Auch so kann man ja an die Dinge herangehen: „Lebe wild und gefährlich“, so eine beliebte Postkarte mit einem selbstbewussten und mit Fliege bekleideten herzlich dickbackigen Bub als Motiv in Schwarzweiss. Aus den 1980ern, gerne Berlin-Kreuzberg. Ach, Berlin.
Vor ein paar Tagen träumte ich mittags, ich sei ein netter Polizist. In Stuttgart, ausgerechnet Stuttgart. Und ausgerechnet ich. In der Stadtbahn auf dem Heimweg aber schien es mir zu gefährlich, meine hübsche Jacke mit hinten drauf „Polizei“ anzubehalten. Entledigte mich also und drehte das Futter nach außen. Lieber würde ich eigentlich von Bad Wörishofen, Amrum oder Maloja im Engadin träumen. Oder von Augen ohne Masken. Am schönsten aber blieb mir diese wärmende Jacke mit Aufschrift. Ich wär‘ gern ein guter Cowboyindianer geworden, stets bereit für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Weltfrieden.
„Jeder zahlt selber“. So heissen div. Arbeiten aus 2002, das war die „Molle mit Futschi“-Zeit, kleine Aquarelle aus Neukölln. Derzeit eine neue Serie bildnerisch „Rette Deine Seele“, entnommen einem alten Missionskreuz, die Aufschrift geschnitzt um 1893. In der Dokumentation des RBB über die Intensivstation der Charité machen sie immer ein Fenster auf, wenn jemand stirbt. Damit die Seele rauskann. Sie sei „21gr“ schwer, sagen eine namhafte Künstlerin sowie Untersuchungen diesbezüglich. Habe aber keine Lust, dem weiter nachzugehen, lieber weine ich mal leise und schau in den Himmel, Seelen beobachten.
Sie sollen doch endlich bitte die Außengastronomie aufmachen. Damit man wenigstens ein besänftigendes Bier trinken kann zum Feierabend, abends und draußen und sich all das revuepassieren lassen kann. Hand in Hand. Ohne immer an unverschämte Judensterne mit „nicht geimpft“ oder dergleichen denken zu müssen, und das auch noch nach 21 Uhr oder an abdriftende Zeitgenossen aus dem Künstlerkreis, die vorgeben, die Demokratie retten zu wollen. Die sich das alles zu Nutze machen in ihrem – pardon – verkackten Superego, aber eigentlich doch nur Schiss haben vorm Sterben. Mitunter erbärmlich.
Jeder tut halt, was er kann. Oder sie. Bei jedem Bild, das ich derzeit raushaue, denke ich, ich möcht‘ es eigentlich Frau Mullah, der Kirschkern oder den Jungs aus Afghanistan zueignen. Oft gerade expressive Wolken mit Pfiff. Ziemlich hingerotzt. Das ist gut so, der Schöpfung ganz nah. Fördert alles die Malerei, die Künste, den Herzkreislauf sowie vor allem das Weltgedächtnis.