13.8.2019

Nacht ist’s, ich geh‘ nochmal in die Speisekammer nach oben über die hölzerne Treppe, ein Rumpeln dort, um nach dem Rechten zu sehen. Auch wegen unbestimmtem Raschelns, Tippelns und Knackens unterm Dach. Holz arbeitet eben, wie alles Lebendige. Oben aber keine diebischen Kriminalvorkommnisse. So laut unter’m Dach das „tip-tap-touw“, das können keine Mäuse sein in diesen Zwischenräumen, die Marder schon eher. Allen wichtigen zuvor vor mich hin gesprochenen Restgedanken, Fetzen von Klang und Wort, die ich eigentlich noch fragmentarisch und schriftlich festhalten wollte, bevor es oben rumpelte – vergessen in der feinfühlenden Formulierung beim Kontrollgang mit Gänsehaut. Und geballten Fäusten mitsamt Obstmesser. Im Souterrain befindet sich ja nun auch keine Verantwortung mehr ggü. oberen Stockwerken. Zwar kälter unten, aber die da oben müssen sich selber kümmern, sie haben’s ja schließlich wärmer. Um ihre Geräusche schert sich sowieso kaum mehr einer. Oder um entlaufene Katzen, die „Mimi“ heissen, und entlaufene Hunde oder entlaufenes Leben mit Namen „Lucie“, zum Beispiel. Und dann all‘ diese Marder immer. Auch in den Motoren. Die Gespenster finden sich oft zuletzt ein fast im Keller, das ist so meine Erfahrung, also hier bei mir, ausgerechnet, meist dann jedoch völlig entspannt und vor allem überwiegend nackt. Was mich schon auch freut, dann gibt’s immerhin was zu sehen. Gespenster sind ja oft Weibchen der jeweiligen Art. Das war schon immer so. Und ihre Sorgen haben sie meistens dann wer weiß wo gelassen. Mit Sorgen und Nöten anderer Geister konnte ich eigentlich schon immer ganz gut umgehen. Warum eigentlich. Da waren oft Anfragen diesbezüglich, über alle meine Jahrzehnte. Zwickt mich jetzt noch hie und dort, gerne auch ein Knuff oder einen Klaps, dann dreh‘ ich mich um und schlafe weg. Und alle innere Blöße, so schön und von Marmor, sie soll sich voluminös scheren, gerne auch zum Teufel. Eben so, wie sie’s halt wahrscheinlich selbst auch will, jene Blöße, bzw. es so vorgesehen ist oder sein könnte von ganz oben. Und von ganz unten. So blank und weiß sie auch sein mag. Alles an ihr, an dieser Blöße, soll doch bitte bersten. Zerplatzen, im Schönen und Guten, hin zu Alabaster vielleicht, jedenfalls zu einem erstarrten Schimmern im ewigen Weiß, lebendig allenfalls durch bläuliche, grünliche und rötliche Untermalung. Blässe und Blöße sind lediglich irgendwelche Zustände, deren Wahrhaftigkeit mir oft Sorgen und Wünsche bereiten könnte. Danach könnte dann auch zum Heilen und Klagen übergegangen werden, immer und überall, über Hunde, Katzen und Leben, aber ich beteilige mich gewiss nicht, letztlich oder vorletzlich. Nicht mehr. Und dann schon gar nicht trösten. Nicht mit mir, was und wen sollte ich auch trösten, ich hab‘ doch schlicht anderes zu tun. Zudem ja keinerlei Qualifikation.

Grünwald/Afghanistan

6.8.2019

Mit dem neuen metallicgrauen Diesel gemütlich nach München gefahren, mal wieder die Alb hinauf über Hitlerautobahn, Sommer, rechts riesige Baustellen dem Horizont nah, beinahe schon künstliche Ortschaften mit eigenen Zementwerken und Wohncontainerstädtchen, die alle der neuen ICE-Strecke zuarbeiten. Viele Pressing-SUVs, aber – das muss man auch mal sagen – es gibt auch normal sich fortbewegende Audis, die ordentlich Abstand halten und einem gelegentlich sogar den nötigen Vortritt lassen beim Überholen am Berge von osteuropäischen LKWs, die wahrscheinlich alle schnell noch allgemeineuropäisch finanzierte Waren in die sezessionsgewillte Heimat bringen, bevor sie die EU ja unbedingt verlassen wollen. / Egal, anderes Thema. Schön dagegen ist, dass ich das neue Navigationsgerät beginne, innerhalb kürzester Zeit zu verstehen und zu wertschätzen, vor allem die Bedienung dessen und noch mehr seine tatsächlich jeweilig koordinaten- und zeitzonengenaue Aktualität: Wir konnten einen Unfallstau mit tödlichem Personenschaden nahe Burgau rechtzeitig umfahren und dadurch offenbar jeweils 27 Minuten an wiederum eigener Lebenszeit gewinnen. Toll.

Eher schweigend unsere Unterhaltung, Bahram sitzt neben mir. Vielleicht ein wenig Anspannung, nicht nur bei ihm, sondern auch bei mir. Vielleicht sogar mehr bei mir, als bei ihm? Ist doch unser Ziel das Konsulat seines Heimatlandes in München. In einem Vorort genauergesagt, und zwar dem recht noblen Vorort Grünwald. Dort wohnen, wie ich hörte, auch Frank Ribery, Kai Pflaume, diverse andere Premium-Prominente und Schauspieler. Und dort wohnt auch ein guter Freund von mir. Daher war der schöne Plan, an einem Nachmittag hinzufahren, um dann einen gemeinsamen Abend zu verbringen und sich morgens zeitig in die Schlange vor dem Konsulat anstellen zu können. Der Empfang und die Bewirtung sehr herzlich und gastfreundlich, wunderschön, und später im Biergarten tiefgute Gespräche, über eigentlich alles, auch über den Zustand der Welt, den Zustand des Menschen, den Zustand Europas, den Zustand des Internets, den Zustand von Afghanistan, den Zustand der Künste.

Heute Morgen, ich gebe es zu, war ich doch etwas aufgeregt. Nach leichtem Schlaf. Für Bahram war es der erste Kontakt mit einer offiziellen Vertretung seines Heimatlandes seit seiner Flucht von dort vor bald vier Jahren. Der gute Freund ist Anwalt und bot sich an, uns zu begleiten, was ich ihm sehr danke. Er verfügt über eine große und bewundernswerte Souveränität, viel mehr als ich eine solche innehabe, in diesen Dingen.

Der Grund Bahrams Besuches dort war die nur persönlich vorzunehmende Antragstellung auf Ausstellung einer „Taskira“, einem Identitätspapier, welches mit unserem Personalausweis zu vergleichen ist. Vorgelegt zur Erlangung einer solchen werden müssen Kopie(n) von Taskiras männlicher direkter Verwandter, also Vater oder Bruder. Sodann muss vom Antragsteller eine Vollmacht für einen Verwandten oder Bekannten, am besten wohnhaft in der Hauptstadt Kabul, bezeugt werden. Auch dessen Taskira muss in Kopie beigefügt werden. Das Procedere sieht weiterhin dann vor, dass der Bevollmächtigte vor Ort, also in Kabul, mit allen im hiesigen Konsulat unterschriebenen und bestempelten Papieren im afghanischen Innenministerium vorsprechen muss und dort eine Taskira für den (geflüchteten, daher nicht anwesenden) Antragsteller beauftragt. Nach etwa „vier Wochen“ (so heisst es, ob ich das glauben kann, weiss ich nicht) muss dann vom vor Ort Bevollmächtigten das fertige Dokument vom Innenministerium abgeholt und zum Aussenministerium verbracht werden, um es dort beglaubigen und übersetzen zu lassen. Sodann muss der Bevollmächtigte vor Ort alles in einen Umschlag packen und es – per Post – nach Europa zum Antragsteller schicken.

Ich war davon ausgegangen, dass die für die Antragstellung nötigen Papiere, also diejenigen, weswegen wir heute in Grünwald waren, vom Konsulat direkt per Diplomatenpost nach Kabul geschickt werden. Dem ist nicht so, das muss von hier aus geschehen, so erfuhren wir heute. Nun also die Suche nach einer sicheren Möglichkeit, wichtige Dokumente analog nach Kabul zu versenden.

Es war eine nicht unfreundliche Atmosphäre dort, heut morgen in Grünwald/Afghanistan. Überall ein freundliches ‚Salam‘. Vielleicht hatte ich anderes erwartet. Ein Anwesen, ich schätze aus den 1930er Jahren, am Steilufer der Isar, aber verwachsene hohe Bäume verwehren den weiten ursprünglich angelegten Blick. Eine Wiese, die einmal ein Park war, ein aufgelassenes Schwimmbad mit versehentlich ins alte Wasser hineingewehten Antragszetteln, überall kleine Tischchen zum Ausfüllen von Formularen und Gartenstühle, die den Wartenden die Zeit erleichtern sollen. Ein Großraumbüro plein air. Mitten im Garten ein älterer Brauereiregenschirm, unter dem sich ein Behördentisch befand, mit davor gespannten Leitbändern wie auf einem Flughafen, zur Schlangenbildung, wenn zu viele Leute für dasselbe anstehen. Dahinter ein rauchender Sachbearbeiter mit Stempel. „Schon Passport? Oder Taskira?“ Ohne Taskira keinen Passport. Kleine süße Kinder, überwiegend selbstbewusst wirkende Frauen ohne Kopftusch. Manche mit. Familien und viele junge Männer. Alle bewegten sich zunächst in den Keller, dann zu einem anderen Nebengebäude, es wurden Ratschläge gegeben, was hie und da als nächstes kommt, hier noch eine Kopie machen, dann dort wieder anstehen, dann wieder zurück zur anderen Seite des Parks. Und so weiter. Einen anderen ehemaligen „UMF“ aus der hiesigen Heimat haben wir heute sogar auch getroffen. Eine fast familiäre Stimmung in manchen kleinen Momenten.

Nach knapp zwei Stunden waren wir fertig mit allem. Während Bahram gerade irgendwo anstand oder ausfüllte, sprachen der Freund und Anwalt und ich über die juristischen Feinheiten diplomatischer und konsularischer Vertretungen im Allgemeinen. Auch über die Immunitäten von Diplomatenpersonalien und dergleichen. Für mich war es durchaus etwas besonderes, dass ich mich also heute quasi zwei Stunden lang auf afghanischem Staatsgebiet befunden hatte. Sozusagen. Das hätte ich mir vor vier Jahren auch nicht träumen lassen. Erstaunt war ich über friedliche Gelassenheit dieses Ortes und des Geschehens dort, an dem sich sicherlich doch sehr viele schlimme Schicksalsgeschichten bündeln. Umso mehr überrascht war ich, dass zwar das Fotografieren verboten war und sich einige Überwachungskameras feststellen ließen, jedoch keinerlei Wachpersonal offen oder irgendwie martialisch zur Schau gestellt wurde.

Dennoch war ich froh, irgendwann wieder draußen in Grünwald/BRD zu sein, um sogleich mit Bahram die Rückfahrt anzutreten, vorbei an Augsburg, mit dem mich ja auch manches verbindet, dann an Ulm vorrüber und später der autobahnliche Albabstieg mit den sich nachher öffnenden Weiten, immer in Richtung Echaz, Neckar und Waldrand. Frau Mullah empfing uns mit einem wunderbaren Essen und danach machten wir alle wohlverdient – so glaube ich – einen ausgedehnten Mittagschlaf. Ich jedenfalls habe den gebraucht nach meinen zwei Stunden auf einem so gänzlich anderem Staatsgebiet. Es vermag mich zu bewegen, dies und das und solche Sachen, zudem solche Kontraste. Jedenfalls so ein wenig. Immer mal wieder und immer aber auch noch. Das geb‘ ich gerne freiweg zu, so als Weltbürger. Wenn die Dinge einem so nahe rücken. Manchmal Vorteil, manchmal Nachteil. Schwamm drüber.

Hauptsache nun, dass das mit den Dokumenten auch alles klappt. Und sollten Sie spezielle sichere Postwege nach AF kennen, so lassen Sie es mich gerne – bitte via Email – wissen.