aus meiner Sammlung #2

Lotte Gützlaff 1 Lotte Gützlaff 2

(Abb.: aus meiner Sammlung #2, Lotte Gützlaff, 2 original Scherenschnitte mit handgeschrieben ergänzten Versen, ca. 1920er Jahre)

Herr und Frau Neumann wohnten im Vorderhaus 1. Stock links in der Gotenstraße auf der Schöneberger Insel, nahe dem Gasometer. Sie war eine sehr zierliche und eher zurückhaltende Frau, immer recht freundlich, kein Wunder, denn Herr Neumann war ein Polterer vor dem Herrn. Alles, was ich über die Jahre hörte, ist, dass Herr Neumann als aus Schelsien Vertriebener irgendwann in Berlin gelandet war. Demzufolge nach dem großen Kriege, also in den spären 1940er Jahren und fortan und Zeit seines Lebens im Hause gewohnt hatte. Herr Neumann konnte mir noch erzählen, dass damals in der Nachkriegsnot eine Kuh im Hinterhaus Parterre gehalten wurde, vielleicht waren es auch zwei Kühe gewesen. Herr Neumann war weder groß noch klein, aber er war dick und meist etwas zu laut, wenn er denn etwas sagte. Wenn man ihn traf, dann wusste man aber nie, ob er etwas sagen würde, oder ob er einen ignorierte. Irgendetwas mit Spedition hatte er gemacht und war wohl recht erfolgreich darin gewesen, denn an Geld mangelte es scheinbar nie. So erzählte man es sich im Haus. Die Kinder, auch die Kirschkern, bestaunten ihn und hatten doch gleichzeitig Angst vor ihm, wenn sie unter seinen Augen unten im Hof spielten. Aus dem Fenster habe er ihnen manchmal Geldmünzen zugeworfen, was sie, die Kinder, natürlich freute und ein großer Spaß war. Herr Neumann war ein bisschen unheimlich, oder eben vielleicht doch nicht, man wusste das nicht so recht. Zu Ostern beobachtete ich ihn einmal aus dem VH Hochparterre rechts, wie er mit einer lange Stange bunte Plastikeier in den Baum neben den Mülltonnen hängte. Noch jahrelang hingen die da, vielleicht sogar bis heute. Irgendwann hatte er sich ein knallgrünes Quad gekauft. Das parkte er stets direkt vor der Eingangstüre auf dem Trottoir. Seine Lieblingsbeschäftigung war es, sich mit Clownshose, roter Pappnase, Hüten und Federboas aus Plastik zu verkleiden und dann – so erzählte er mir einmal – zum Brandenburger Tor zu fahren und sich dort zu postieren für Touristenfotos. Ich möchte nicht wissen, auf wie vielen Fotos irgendwo in der weiten Welt Herr Neumann auf seinem kreischgrünen Quad vor dem Brandenburger Tor abgebildet ist und Japaner angrinst. Und ihnen währenddessen die verrücktesten Geschichten erzählt.

Irgendwann vor ungefähr 17 Jahren mistete Herr Neumann in seiner Wohnung aus. Vielleicht war er im Unwirsch gewesen, hatte Gedanken an Vergänglichkeit von Werten oder Pipapo gehabt, oder er hatte einfach nur diese zwei Bilder, nach Jahrzehnten, satt. Jedenfalls bemerkte ich an einem sonnigen Tag im Mai (ich glaube, es war Mai), wie er einige Male die Treppe hinunter und an unserer Wohnungstür vorbei in den Innenhof marschierte, um allerlei Dinge in die große rollende Restmülltonne zu werfen. Als ich kurze Zeit später neugierig nachschaute, fand ich dort zu meiner Überraschung diese zwei original handgeschnittenen Scherenschnitte von Lotte Gützlaff aus den 1920er Jahren, sogar noch im originalen Rahmen. Die ich natürlich sofort als wertvolles Kulturgut barg und mein Glück kaum fassen konnte. Dazu übrigens noch einen hässlichen alten gusseisernen Elektrokronleuchter, den ich bereits eine Woche später auf dem Flohmarkt am Arkonaplatz an britische Touristen („amazing!“) für etwas überteuerte 80,00 EUR verkaufen konnte. Der Arkonaplatzflohmarkt war – aus Verkäufersicht – stets Gold wert, vor allem wegen der internationalen Touristen, denen die Geldbündel locker saßen. Auch die Kirschkern hatte nach solchen Flohmarkttagen schon grössten Spaß am abendlichen Scheinezählen, einer Art Vorschulmathe.

Es ist mir immer noch unerklärbar, wie geringwertig auf dem Kunst- und Antiquitätenmarkt die Arbeiten von Lotte Gützlaff gehandelt werden. Alle reden von Lotte Reiniger, kaum jemand von Lotte Gützlaff. Alle Scherenschneiderinnen heißen wohl „Lotte“. Ich jedenfalls mag diese zwei Arbeiten sehr. Die Rückwand habe ich mittlerweile gegen einen säurepuffernden Karton ausgetauscht, damit sich das ganze Papier nicht selbst zerfrisst.

Herr Neumann starb, kurz nachdem ich mich aus biografischen Gründen verkleinern hatte müssen und nach Neukölln gezogen war. Ich glaube, das war so um 2010 oder 2011. Seine Frau wohnte noch eine Weile in der gemeinsamen Wohnung, bevor auch diese dann an reiche Kanadier verkauft wurde, die solche Wohnungen seinerzeit „aus der Portokasse“ bezahlten. Wohin sie gezogen ist und ob sie noch lebt irgendwo, ich habe keine Ahnung. Sollte sie dies hier lesen, so grüße ich Sie herzlich! Nie vorher hatte ich jemals innerstädtisch so schön und nachbarschaftlich angenehm gewohnt und gelebt, wie auf der Schöneberger Insel. Auch deshalb haben diese zwei Arbeiten, die zu mir kamen durch einen höchstgöttlichen Zufall, eine ganz besondere Bedeutung für mich.

4.5. nbg.

mal in der weiten weltgegend herumschreiben, ohne dieses dauerthema. auch ohne die schöne abendglocke, die irgendwo läutet. oder die schöne eine arbeit und ihre befunde im vergangenen. oder die andere noch schönere arbeit, die bildlich-herstellend und bannend. oder die kinder, die keine mehr sind. oder das auto, dessen zahnriemen nun erneuert wurde. oder die natur, die ewigen vögel, die spezielleren tiere, die ebensoewigen zecken. wenn alle, die nun vorgeben, ihre eltern oder großeltern zu betreuen, um damit flinker geimpft zu werden, tatsächlich ihre eltern oder großeltern pflegen würden, dann hätten wir keinen pflegenotstand. (sehen sie, da wars schon wieder.) / gestern und heute arbeitete ich auf einem schlanken hubsteiger, alleine im körbchen und ganz weit oben. vor mir eine hochtechnisierte fernbedienung, das war ein kleines abenteuer. und auch sicherlich ein insgeheimer selbsttest, der aber funktionierte, sonst würde ich jetzt ja nun nichts schreiben mehr können. heute allerdings hatte ich mich zur besten vesperzeit festgefahren in zwölf metern höhe. die maschine nämlich funktioniert nach ausgeklügelten physikalischen gesetzen. gravitation eben. dann muss man nachdenken, wie man da wohl wieder runterkommt und welche der hydraulischen arme man in welcher reihenfolge wie bedienen muss. außerdem möchte man ja nicht an romanischen kapitellen hängenbleiben oder an gotischen altartafeln. schließlich verinnerlichte ich irgendwie aus dem bauch heraus, ich musste mich zunächst wieder nach ganz oben ausfahren, den korb anders neigen, den mittleren arm drehen, um dann anderswie irgendwie hinab zu gleiten. aber wenn man runter will, und die maschine pfeift und piepst und will nicht und man merkt, dass das nicht geht, dann dräut einem schon mal kurz die fast-risikogruppendüse. (sehen sie, das war’s schon wider.) man muss sich diese maschine wie einen halb- und anderweitig prozentual geknickten zollstock vorstellen. oder wie einen nach hinten gebogenen zeigefinger: was nicht geht, geht eben nicht. man muss nur wissen, wie es dann doch geht. oder fühlen und empfinden. auch maschinen kann man empfinden zuletzt. wie im echten leben eben, irgendwann kann alles auch kippen und man muss alles dicht machen (sehen sie, da wars schon wieder.) / was schreiben, mal ganz ohne pointen. ohne schnaps, schweiß, schwipps oder schwere. vielleicht mal was über sex, oder lymphozyten oder außengastronomie. oder erasmus und paris. bitte bloß nichts über patchwork, geschlechterbilder, kanzelkultur oder geschlechtssternchen. apropos: neulich fiel mir ein, nach einem sehr komisch düsteren und vulvatischen ölbildchen spätabends (über das auch ich mich wunderte), welches ich alsbald verwarf, ohne es jedoch sogleich zu zerstören resp. es zu übermalen (es trocknet jetzt erstmal so vor sich hin), dass ich schon vor jahren den gedanken wenigstens EINMAL zugelassen hatte, dass DER tod ggf. ja auch weiblich sein könnte? / ach wo, muss man ja über alles weder nachdenken, noch reden, geschweige aufgreifen, abgreifen oder mit „#“ versehen. lieber auch mal schlichte berge und horizontlinien, abgemischt, da könnte man auch drüber schreiben. oder uralte feinde und wie es ihnen jetzt wohl gerade geht, sofern sie noch leben. während man einstige und nunmehr verjährte gerichtsakten wegwirft. oder gebrauchsspuren auf holztischen, die einmal im zentrum vom leben standen. und was die einst kosteten und woher einst das holz gekommen war. und wer einst auf diesem tisch lag, ohne klamotten, gut oder schlecht gelaunt. vielmehr doch, wo diese möbel jetzt stehen. wir sollten vielleicht wieder mehr beschreiben, wie die vorhänge wehen oder die rolläden ihr licht werfen. oder, wo es einen gerade juckt ganz flüchtig (z.B. Schulter) oder über den istzustand der schuhe, und zwar, ohne sogleich zu erwähnen, wo diese schon überall mal gewesen waren (italien, bronx, belarus, ätna etc.). ansonsten wird die welt irgendwann an geschichten ersticken und das wollen wir ja grad überhaupt nicht.