Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein.

Teppich

(Abb.: Teppich)

„Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein“ denkt sich gewiss die Made im Baum, angesichts des Klopfen des Spechtes ganz nah im Wald am Ast die Tage. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein, denk ich, angesichts der derzeitig postalischen Anwürfe von Sterbeversicherungsanbietern. Frau Mullah rät mir augenzwinkernd zu, nicht ohne mich sogleich zu umarmen. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein, denke ich weiter, wenn sie sich empathiert mit den Frischwitwen von 71-jährig soeben viel zu früh verstorbener Gatten. Und das ganze Leben lang hatte er Sport gemacht. „Wieso schaust Du mich da so mitleidig an?“ frage ich, keck empört, und „Was ist, wenn’s Dich vor mir erwischt?“ Nein, so sei es natürlich nicht gemeint gewesen. Abermals sogleich umarmen wir uns sachgerecht. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein, dachte ich, als ich das gelblich verblichene Echt-Foto von 1977 gefunden habe. Da war ich junger Mann, eher noch ein Männchen, an der schönen Schwelle zum Erwachsenwerden. Noch alles vor mir, eigentlich fast wie gestern im Innern, so zügig anheim. Damals Werbung für Lebensversicherungen, die mir so absurd vorkamen mit Laufzeiten von 30 und mehr Jahren, unvorstellbar. Und nun die Sterbeversicherungen. Ebenso absurd, jedoch auch irgendwie halbrealistisch vorstellbar, ein wenig bitter im Abgang. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein, denke ich, wenn ich an S. denke, der die Idee hatte vor einem dreiviertel Jahr, einen freistehenden dörflichen Geldautomaten nachts um zwei mit einem Gabelstapler aus der Verankerung zu reissen, nicht etwa aus grundkriminellen Daseinsvorhaben, sondern aus Neugier und Leichtsinn und weil einfach etwas Geld fehlte für seine dringenden Geschäftsideen. Eher ein Akt der Einforderung an die Gesellschaft. „Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein“ denkt sich sicherlich die kleine Maus, sie wohnt im Trockenmäuerchen am Atelier, als sie meinen ihr genehm gelegten kleinen Käserand fand. Weshalb ich ihr heute eine ganze halbe Scheibe Gouda vor’s Nest legte, welchen sie gleich barg noch am frühen Abend, in Richtung ihres Schlupfs. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein, dachte sich sicherlich auch einer oder eine der zwei sterbenden Toten in Polen, als eine ausländische Rakete (böse), wahlweise Raketen-Abwehrrakete (gut), ihn oder sie zerriss. Und „das kann es doch jetzt nicht gewesen sein“ denk‘ ich, nebenbei und profan, angesichts der allumfassenden Kommunikationsverweigerung der Verantwortlichen der Heizungs- und Sanitärfirma, ohne deren dringende Weiterarbeit alles nun stillsteht bei der Hausrenovierung. Zudem, da gibt es eine neue Heizung, aber keiner kommt, um sie anzustellen. Stattdessen läuft im Atelier über Stunden das Elektroöfchen. Aber was ist schon eine Hausrenovierung angesichts von ausländischen Raketenabwehrraketen oder Käseecken für Mäuschen. Am eigentlichsten ist mir jedoch gerade der Verlauf meines Selbst mitsamt subjektiven Teilhistorien, memoriert und durchgenudelt im eher sehr dankbaren Gesamten. Trotzdem: Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein. Das alles. Aber vielleicht eben ja doch. Man muss sich gewöhnen, wie an einen immerwährenden Teppich.

Normalerweise mag ich den Spätherbst sehr. Dann ist Atelierzeit, die Zeit der persönlichen Igel und der Einkehr. Üblicherweise Momente kreativster Melancholie, oft herbeigespielt, in reflektierender Vorfreude. Oft sinnlich. Nicht so in diesem Jahr, das bislang einfach kein vorrausschaubar vereinbart schönes Ende nehmen mag im Verfall, so wie sonst immer. Noch nicht jedenfalls. Ich hoffe, das kommt noch, diese geschenkten göttlichen Kurven. Das Jahr bräuchte vielleicht spätestens jetzt eine gescheite Sterbeversicherung, und zwar ohne vorherige Gesundheitsprüfung.