hedsch.

(Natürlich wäre noch viel mehr zu berichten.)

B hat vor einigen Wochen beim Aufbau fürs Dorffest geholfen, ab morgens 7 Uhr samtags. Und auch beim Abbau, am darauf folgenden Montag, wo sich normalerweise keiner mehr freiwillig meldet, zuletzt war er beim Müllwegbringen spätnachmittags dabei gewesen. Das hat ihm große Anerkennung gezollt – das Dorf. So funktioniert das auf dem Dorf. Andere Jugendliche hatten der B und der N bereits in den Sommerferien kennengelernt, auf einer Freizeit, ausgerechnet einer CVJM-Freizeit. Es gab jeden Abend eine christliche Andacht, und als sie zurückkamen lachten sie und meinten, sie hätten jetzt genug Andachten für den Rest des Jahres mitgemacht. Wir hatten sie dort angemeldet, um wenigstens eine Woche lang alleine zu zweit auf Hochzeitsreise gehen zu können. Mit zunächst fast schlechtem Gewissen. Als wir zurückkamen, waren sie begeistert von diesen Tagen und sagten froh, sie würden nun endlich alle Jugendlichen des Dorfes kennen. Und dass es die schönste Ferienwoche war, noch schöner als unsere gemeinsamen Wochen in Nürnberg und in Berlin, zusammen mit der Kirschkern.

Wie so ein Dorf eben nun mal funktioniert. Ein paar Tage später rief eine örtliche Zimmerei an und fragte, „…ob die Jungs denn eigentlich auch arbeiten dürften?“, sie hätten so viel Arbeit derzeit, suchten dringend Leute und der B sei doch so nett und habe doch so toll mitgeholfen, beim Dorffest. Ja, sie dürfen arbeiten, zum Mindestlohn und für 250 im Monat. Alles weitere müsste zu 75% abgegeben werden, 25% dürften sie behalten. Der B hat damit kein Problem, er will etwas zurückgeben und dankt sowieso täglich Angela Merkel und dem deutschen „Goverllement“. Die Vormundin ist auch dafür und heisst gut, und wenn nun alles klappt, dann beginnt sein erster Job in ein paar Tagen. Ich glaube sogar, er könnte ein guter Zimmermann sein und er selber sagt immer lächelnd, „Ich mag dreckige Arbeit!“ und wir wissen dann, was er damit meint. B muss sich ausbewegen und kennt kein schlechtes Wetter, er liebt Regen, Kälte und Schneefall im T-Shirt. Er kennt wenig körperlichen Grenzen, und eher ist es sogar so, dass man ihm immer mal wieder sagen muss, dass er auch auf SICH SELBST aufpassen muss. Das er es wert ist, das Achtgeben.

Ganz am Anfang meinte er einmal, es sei egal, ob er sterben würde, das sei nicht so wichtig. Ich sagte ihm „Doch!“ und er erkundigte sich nach einer halben Stunde Nachdenkens nochmals, was denn das Wort „doch“ bedeuten würde und wie ich das gemeint habe.

Vielleicht wird daraus ja ein Praktikum oder sogar eine Ausbildung. Auf jeden Fall ist es ein großes Glück. Die Buben wollen ja unbedingt arbeiten und nicht allein in die Schule gehen.

Beide sind nun schon seit 6 Monaten bei uns, ich kann es mir gar nicht mehr ohne sie vorstellen. Sie sind uns sehr ans Herz hineingewachsen. Und jeden Tag sehen wir, mal so oder mal so, wie schwer eigentlich alles auch immer wieder sein muss für sie. Die Sprache, die Sitten, die Schule, die neuen Regeln. Oft komplett neue Regeln. Das Heimweh, die Verluste, die Kränkungen, die Grausamkeiten, entweder selbst erlebt oder in Bildern und Informationen, die sie nun aus der Heimat erreichen. Und dies in der Hoch-Zeit der Spätpubertät. Da ist es schön, dass nun ja auch die Kirschkern seit fünf Wochen hier lebt und als Gleichaltrige viele Brücken schlägt, von Ost nach West und von junger Frau zu jungen Männern. Der B sagt, er sei nun auch der Bodyguard von „Schwester“ und grinst. Ich glaube, ich sagte ja schonmal: Wenn ich einen Bodyguard bräuchte, der B wäre meine allererste Wahl. Und der Kirschkern möchte ich einfach sehr danken dafür. Sollte sie das hier lesen.

(Sowieso, die Kirschkern – jetzt hier am Waldrand: Ein ganz eigenes Thema, und dazu ein schönes.)

B hat – so sagt er – vor einem Jahr in Istanbul das erste Mal in seinem Leben Frauenbeine gesehen. Die Haare seiner Mutter hat er nur drei Mal in seinem Leben gesehen. B sagt auch, die Dschin in seinen Träumen sei nun nicht mehr da. Er sei besorgt deswegen. Diese hätten ihn stets gegen Ende der Träume ins Feuer geworfen und sich damit an ihm gerächt. Ich sage „Aber das ist doch gut, wenn sie weg sind, oder?“, worauf er mich anschaute, als habe er dieses Feuer aus irgendeinem Grund verdient. Wir blicken auf den Boden, schweigen und ich frage einfach nicht mehr weiter.

N macht nun einen Schwimmkurs, sämtliche Kurse sind eigentlich überfüllt und belegt, er aber wurde vorgezogen zur Teilnahme wegen seines Schwimmunfalls im Sommer mit beinahe Todesfolge durch Ertrinken. Er mag das Schwimmen bisher nicht, aber wir haben gesagt: „Man muss das Schwimmen ja nicht mögen, aber man muss es können!“. Eine Art Pflegeeltern-Befehl. Immerhin sind sie ja minderjährig. Die Amtsleiterin hatte ohnehin neulich gemeint, ein junger Flüchtling aus Afghanistan habe in bestem Deutsch ihr gegenüber gemeint, „Frau Großbetreuerin, wir Afghanen brauchen mehr Imperative!“. Ohnehin machen die Amtspersonen hier einen sehr anerkennungswürdigen Job. Das will ich nochmal festgehalten haben.

Beim Abholen vom Schwimmbad sehe ich ein wenig durch die großen Scheiben, und selbst ich denke da, das ist ggf. schon ein wenig kulturkompliziert, wenn die Schwimmlehrerin im knappen Badeanzug die vor allem syrischen Jungs im Bodytouch an den Armen fasst und ihre Brüste sozusagen an die Nase der Lernenden drückt, wenn diese dann mit ihren ersten Schwimmübungen horizontal beginnen. Mit sechzehn hätte auch mich das eher verwirrt, verunsichert und mir abends dann im Bett gleichwohl die kühnsten Träume versucht zu entlocken. Aber egal, alles besser als ertrinken. Da müssen sie halt durch, die Jungs.

N telefoniert manchmal mit seiner Schwester im Iran. Überhaupt hat N viel Heimweh und zweifelt oft, ob er das alles schaffen kann, hier im neuen Land. Er ist mitten drin in seiner Selbstfindung, ganz unabhängig von seiner Herkunft. Eine persönliche und adoleszierende Sache. Oft hat er zwei eher linke Hände oder ist zerstreut. Oft denken wir, eigentlich könnte er ein afghanischer Prinz sein. Wir wissen nicht, ob das stimmt. Wir fragen uns immer, wie er wohl aufgewachsen ist. Wir glauben, seine Eltern sind und waren recht liebevoll, das könnte gut sein, wenn man ihn erlebt. Er ist mit Schwestern aufgewachsen, er hat etwas sehr zartes und weiches, er fremdelt nicht so sehr mit dem Weiblichen, er ist Schiit und seine Minderheit mit einer hochkulturellen gelebten Tradition wohl schon lange verfolgt in Afghanistan.

Wenn er sagt „Mir ist langweilig!“, dann scheint es oft so, als sei er es gewöhnt, dass dann alle aufspringen, um ihm seine Langeweile zu nehmen. Einen Hofstaat bräuchte er. Aber ich kenne ja dieses „Mir-ist-langweilig“-Alter noch von der Kirschkern.

Er macht sich viele Gedanken. Zum Beispiel auch, fragend, dass und warum er schon so oft Glück gehabt habe. Er erzählte neulich, er sei vom Esel mit dem Kopf auf einen Stein gefallen als Kind, war daraufhin stundenlang bewusstlos, ist aber wieder erwacht und alles war wieder gut. Er habe einmal von einem Esel einen ausschlagenden Huf auf einen Schneidezahn bekommen, daraufhin sein Zahn zwei Wochen lang wackelte, aber dann wurde der Zahn wieder fest und ist nicht etwa, wie erwartet, abgegangen. Er hat ganz weisse und schöne Zähne. Auf die er auch zurecht stolz ist. Und er ist nicht im Mittelmeer ertrunken auf dem Weg nach Lesbos ohne Schwimmweste mit 60 Personen im kleinen Schlauchboot. Und auch nicht dann im süddeutschen Schwimmbad im Sommer 2016. Genug Nachweise also dafür, dass Allah will, dass N lebt.

Und deshalb will Gott jetzt auch (und seine Pflegeeltern), dass er nun endlich einen Schwimmkurs macht.

Ich mag ihn, weil er so ein alter Zweifler ist. Er hinterfragt, er fordert Antworten aufs Leben, er lacht und er kann auch sehr traurig sein. Und das auch zeigen. Gleichzeitig lässt er den Reis anbrennen, weil er irgendeinen Film (oder einen reich und blutig bebilderten Beitrag über einen Anschlag auf seine Volksgruppe) auf seinem Handy anschaut. Er forscht gerne – er kennt da oft wenig Grenzen in seiner Neugier über Dinge, Sachen und ggf. auch Privatheiten anderer Leute (Handschuhfach, Mobiltelefon, Fotos, Taschen…), aber auf eine Art, die man ihm dann kaum vorwerfen kann, denn sie will nichts herrschendes, sondern sie ist schlichtes Begreifen-Wollen. Manchmal aber von der Seite, wenn ich ihn anschaue, dann hat er ein fast altes ernstes Gesicht.

N spielt nun in der dörflichen Handballmannschaft mit. Eine gemischte Mannschaft, das ist gut. N ist auch ein Womanizer. Er und B wollen natürlich irgendwie auch eine Freundin irgendwann. Der B erzählt, neulich im Park, er saß auf einer Bank und ein paar deutsche Mädchen kamen vorbei. Eine der jungen Frauen meinte keck – offenbar beeindruckt von seinem muskulösen Aussehen – er solle doch mal sein T-Shirt ausziehen. Er war so schlagfertig, zu antworten, er würde das tun, aber nur, wenn sie ebenfalls ihr T-Shirt ausziehen würde. Sie tat das und stand kurz im BH da, woraufhin auch er sein Shirt auszog.

Das muss man sich mal in Afghanistan vorstellen. B versteckt, anders als der N, sein Lachen immer hinter vorgehaltener Hand. Wenn er besonders verschmitzt ist oder ihm etwas peinlich ist. Vielleicht hat er in solchen Situationen stets eine Backpfeife seines Vaters bekommen. Sein Vater muss jenseits dessen ein lebenskluger Mann gewesen sein, der in den ewigen Krieg im Land hineingeboren wurde. In den 1970er Jahren hatte er wohl bei den Mudschahedin gegen die Russen gekämpft. Ein Dauerkrieger immer irgendwo im Nordosten in den Bergen. Als ihm B als kleiner Junge von der Koranschule erzählte und dass sie dort lernen würden, die Ungläubigen umzubringen, hatte der Vater ihm verboten, diese Schule weiter zu besuchen. Er riet ihm an, auch zuletzt vor einem Jahr, Englisch unbedingt zu lernen. Und dass alles Geld der Erde nicht glücklich mache, sondern dass es genügen würde, Glück und etwas zu essen zu haben.

Mathematik sollte der B auch lernen. Einmal, so erinnert sich B lachend, habe ihn sein Vater gefragt, was 32 minus 2 sei. B hatte korrekt geantwortet „30“, woraufhin sein Vater ihn ohrfeigte. Er war der Meinung gewesen, dass 32 minus zwei 3 ergäbe, da ja dann die 2 wegfallen würde. B kann einschlafen, wo immer er auch ist. Er legt sich manchmal einfach auf den Boden seines Zimmers, ohne Decke, das Fenster geöffnet, auch wenn es kalt ist. Er sagt „Vattärr, und wenn Du sagt, schlaf heute auf der Strasse, dann mache ich das.“ Und lacht. Ich glaub ihm das.

Der Vater war Polizist und lebt nicht mehr, da er offensichtlich im Juli 2015 von den Taliban ermordet wurde. Alles in einem kleineren Dorf nördlich von Taloqan, der Hauptstadt der Provinz Takhar. B kann die Geographie jederzeit auf einem Satellitenprogramm im Smartphone zeigen und heranzoomen. Taloqan liegt nicht weit von Kunduz. B ist auch politisch stets informiert und interessiert. Wenn er vom Alltag dort erzählt, bevor er loszog vor einem Jahr ungefähr, dann ergibt sich ein durch und durch archaisches Bild menschlichen ungeregeltem Zusammenlebens. Stärke, Erpressung, Mord und Totschlag. Die Taliban kommen nachts in die Häuser und fragen nach Lebensmitteln, Kindern, Mädchen und Jungen, für ihren Krieg. Andernfalls morden sie eben die Kinder. Zudem gibt es immer wieder Männer, die sich Privatarmeen zusammenstellen. B sagt zu denen „Gross-Mann“. Denen küsst man die Hände. Das musste er sich erst abgewöhnen in Europa. Man kann sich den großen Männern anschließen und ist dann versorgt. Die Landwirtschaft kommt vielerorts zum erliegen durch das alles, allein der Opium-Ertrag ist prächtig.

Vor zwei Tagen hat er mit einem Freund telefoniert, der gerade dort ist. Er hat erfahren, dass es in seinem Dorf nur noch Alte gibt. Alle Jungen seien mittlerweile auch geflüchtet, meist in den Iran, erstmal. Jetzt wohl auch seine Mutter mit ihrem neuen Mann. Seine Mutter hatte das Glück, als Witwe einen neuen Mann zu bekommen. Witwen sind normalerweise verloren in Afghanistan. Sie dürfen ja nicht einmal aus dem Haus gehen alleine. Allerdings wollte der neue Mann die Kinder seines Vorgängers nicht mit in den Clan aufnehmen. B floh, aber sein Bruder, nun wohl 9 Jahre alt, blieb dort. Zunächst bei einem Onkel, bei dem er ohne Schulbesuch in der Landwirtschaft half. Aber auch dieser Onkel ist vor 2 Monaten geflohen und er teilte dem B irgendwann telefonisch mit, dass er seinen Bruder nicht mitnehmen könne nach Iran, zu teuer und zu klein. B war niedergeschlagen, ist er doch jetzt, seit dem Tod seines Vaters, das Familienoberhaupt. Und weit weg in Europa, ohne etwas ausrichten zu können.

Der kleine Bruder lebt nun offenbar im Haushalt eines eigenkinderlosen Ehepaars in der Provinzhauptstadt. Die Pflegemutter, eine Krankenschwester, wollte sich auch bemühen, dass der Bruder auch auf eine Schule gehen kann. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht.

B hatte Nasenbluten und meinte, sein Blutdruck würde durch den Blutverlust sinken. Beide, der N und der B, erzählen oft von Arztbesuchen oder Besuchen beim örtlichen Mullah, der auch medizinisch berät. Beide grinsen, wenn sie dann berichten von empfohlenen Kräutertees und spirituellen Herangehensweisen, für die dann natürlich auch stets eine Menge Geld vom Mullah berechnet wird.

So fürchterlich unnormal finde ich das eigentlich gar nicht.

B sieht die Schafe auf nächtlicher Wiese bei der Heimfahrt ins Dorf und schaut ungläubig. „In Afghanistan kannst Du nicht nachts die Schafe auf der Wiese lassen, sonst sind alle am nächsten Morgen weg!“ Und lacht sich kaputt. Nichts anderes hätten wir uns gedacht, als verwöhnte Mitteleuropäer, und lachen mit.

Oft auch beim Essen oder danach eine Art Staatsbürgerkunde und Erklärungen der Organisation von Gesellschaft. Krankenversicherung, soziale Systeme, Rechtsprechung und demokratische Beschlussfindungen mitsamt Gewaltenteilungen. Auch Urheberrecht, Religionsfreiheit und Mann-liebt-Mann und Frau-liebt-Frau. Und Israel. Bei Israel nicken sie immer nur und sagen nichts, vielleicht Zufall. Immer dabei die mittlerweile vier Langenscheidt’schen Wörterbücher Persisch zu jeweils zwölf Euro. Und wenn ich dann zu sehr doziere, lachen mich Frau Mullah und die Kirschkern aus. Darüber schmunzeln dann wiederum B und N.

Viel wichtiger:

WIE spricht man ein Mädchen an, WAS darf man sagen, was nicht, Was bedeutet WELCHE weibliche Geste. Da hilft auch nicht unser beider Beteuerung, dass das mit der Liebe auch in Europa nie so ganz klar ist. Der Wunsch nach klaren Regeln ist groß, aber in einer aufgeklärt freien Gesellschaft ist das eben nicht so leicht. Der Preis der Freiheit ist die Unsicherheit und in Folge deren Aufforderung, selbst zu entscheiden. So ist das eben. Nur: Wie sag ichs auf afghanisch?

N könnte – auch wenn er noch nicht weiss, ob er Ingenieur, Blumenhändler, Computer-Hacker, Zahnarzthelfer, Automechaniker oder Kungfu-Star bzw. Olympiasieger ebenda werden will – am geeignetsten vielleicht ein Praktikum in einem Modegeschäft machen. Er hat ein großes gutes Händchen für Klamotten und einer diesbezüglichen Beratung. Style. Er weiss genau, wann und wenn eine Krawatte zu lang ist. Oder ein Jackett zu weit. Wenn er träumt, ein Zahnarzt zu sein, dann erklären wir ihm immer wieder, wie das Bildungs- und Ausbildungssystem hier funktioniert. Und dass der Weg zum Zahnarzt für ihn ein sehr sehr langer Weg sein würde. Aber dennoch theoretisch möglich. Möglicherweise nichts für ihn, der – ganz pubertär – schon mehrfach meinte, verträumt, er wolle am besten schon morgen berühmt und erfolgreich sein. Ich versuche ihm immer wieder zu vermitteln, dass man nur gut ist in demjenigen Beruf, der einen auch interessiert. Und berichte ihm von den zunächst schmutzigen Händen als Mechatroniker im ersten Lehrjahr oder den Absagen als DJ. Und dass er wissen müsse, wie ein Ölwechsel funktioniert, um einst Chef eines Autohauses zu sein. Allein schon für die betriebswirtschaftliche Kalkulation.

Er könnte auch gut im Hotel- und Gaststättengewerbe arbeiten mit seinem wirklich charmanten Kommunikationstalent. Gestern schlug ich vor, er und der B könnten doch ein Hotel aufmachen in der hiesigen Kleinstadt, beispielsweise ein Hotel mit Namen „Kabul“. Er öffnete seinen Blick und spann den Faden weiter: Frau Mullah würde kochen… es gäbe afghanische Küche und Spätzle, halal und haram. Später am Abend spannen wir alle: Die Kirschkern möchte im Service arbeiten, er, N, wäre an der Rezeption, der B würde die Koffer in die Zimmer schleppen und ich würde mich dann ums Frühstück mit wachsweichen frischen Frühstückseiern kümmern. B möchte dann aber nicht nur Koffer schleppen, sondern er will ausserdem das „Business“ regeln. Und ggf. die Bareinnahmen zur Bank bringen.

Ein guter Plan, ich wäre dabei!

Einen Kontakt von Pflegeeltern zu Eltern will er, der N, wohl eher nicht. Ich frage mich manchmal, warum. Aber das spielt keine Rolle. Vielleicht aus Scham oder wegen Geheimnissen, die ich nicht kenne und nicht kennen muss. Manchmal wäre wohl Skype möglich, wenn die Taliban nicht wieder das Internet zerlegt haben. Die Vormundin fragte ihn, ob er von seinen Eltern geschickt wurde. Er verneinte. „Ankerkinder“ wären diejenigen, die geschickt wurden, um irgendwann die Familie nachzuholen.

B hat ja ohnehin keine Famile mehr. Was nicht stimmt, sie ist nur zersprengt und zerstört in alle Winde aufgrund der politischen Tatsachen.

Alle vier Wochen sprechen die UMFs mit ihren Vormunden, so ist die Regelung. In ihrem Fall die nette junge Vormundin. Dort können dann Wünsche, Probleme usw., auch ohne Beisein der Pflegeeltern, vorgebracht werden. Das nennt sich „Persönlicher Hilfeplan für UMFs“. Dort könnten sie auch äußern, dass sie lieber in einer Wohngruppe wohnen würden, mit Gleichaltrigen und Betreuern. Alles können sie dort vorbringen, alle Sorgen, alle Wünsche. Das ist gut so, das entlastet uns als Pflegeeltern auch manchmal. Man kann dann mal innerlich kurz luftholen, in dieser großen Verantwortung. Bevor man dann diese Verantwortung gerne wieder aufnimmt.

Oft gibt es schöne weiche Gespräche mit den beiden, am besten, wenn man zu zweit unterwegs ist, da ist die Offenheit am größten. Und man kann gelegentlich vielleicht wertvolle Lebensratschläge geben, egal ob als „Mutter“ oder „Vater“ oder „Schwester“. Oder eben einfach so. Vielleicht gelingt es uns, oder es ist uns bis hierher auch schon gelungen, den beiden wenigstens ein kleines vertrautes und sicheres „Nest“ in diesen schwierigen Monaten oder Jahren zu bieten. Ich würde mich freuen, wenn sie es irgendwann vielleicht einmal so sehen im Rückblick auf diese Zeit im Dorf am Waldrand.

Ich habe N vor ein paar Tagen beim Bier (ich) und Apfelsaft (er) in einer Kneipe auch nochmals gesagt, wie gerne ich doch irgendwann einmal mit ihnen in ihr Heimatland reisen würde. Und sie müssten mir und uns dann einmal alles zeigen dort. Ich bin wirklich sehr interessiert, aber mir wird das wohl kaum noch vergönnt sein. Einen schönen Frieden in Afghanistan werde ich nicht mehr miterleben. Denke ich, und sage das ihm. Aber vielleicht die Kirschkern? So sag ichs ihm, und er meint gleich ganz herzlich zugewandt und völlig anderer Meinung: „Sobald ich einen deutschen Pass habe, dann fahren wir da hin!“ Er meint sichere Papiere, die ihn davor bewahren würden, nicht zurück nach Europa reisen zu können. Und er meint vor allem Frieden.

Nein nein, wir alle! Vielleicht in 6 Jahren? Dann zeige ich euch Ghazni, und B zeigt euch Taloqan. Und wir beide zeigen Euch Kabul!

B hat als Deutsch-Diktat, ich glaube es war im Juli, in seinem Heft stehen eine wohl angewandte Sprache, übertragen philosophisch: „Meine Frau ist nett, aber fett. Meine andere Frau ist schön, aber faul.“

Das Original muss ich ihm irgendwann abschwatzen und dann werde ich das einrahmen. Was haben wir gelacht, alle! Vieles ist traurig und bewegend, aber ganz vieles ist auch sehr lustig, auch im Meta, und schön und bereichernd. Für alle hier am Waldrand, in dieser fast über Nacht neugewürfelten „Big-Family“, auch sogar für die alte Dame, die in der vergangenen Woche ihren 90ten Geburtstag feierte. Sie freut sich immer, wenn am Tisch ganz viele sitzen. Und schließlich war ja auch sie einmal Flüchtling, sagt sie.

Eines allerdings ist nicht lustig, obgleich sonnenklar: Afghanistan ist ganz gewiss kein sicheres Herkunftsland. Im Gegenteil, es wird mit jedem Tag ein unsichereres Herkunftsland. Das Schlimmste für B und N ist diese Ungewissheit bezüglich ihres Asylverfahrens. Sie haben noch kein „Interview“ gehabt, aber die Einladung hierfür kann jeden Tag in der Post liegen. Wie viel Kraft es den beiden für die tagtägliche Verdrängung solcher Sorgen abverlangt, das mag ich mir gar nicht vorstellen. Für Afghanen gilt derzeit 50% in Anerkennung oder Ablehnung. Stete Ungewissheit, wie alles weitergeht, sobald sie 18 Jahre alt sind. Ein dauerndes Asyl-Schwert über ihren Köpfen. Lohnt es überhaupt die größten Anstrengungen, Deutsch zu lernen? Die hiesigen Sitten nachhaltig und mit Vertrauen und Wünschen zu studieren? In eine persönliche Zukunft zu investieren, wenn gar nicht sicher ist, ob sich diese überhaupt am jetzigen und hiesigen Ort befinden wird?

In Windeseile schleichen sich Gerüchte durch die digitalen und analogen Netzwerke, die dann ggf. mühsam von uns entkräftet werden müssen. Oder relativiert, mit dem Hinweis auf diverse andere rechtliche Möglichkeiten und so weiter. Ein vorbeugender und beratender Termin unsererseits beim Profi steht daher ein weiteres Mal kurz bevor. B sagt, ich bin lieber tot, als zurück zu gehen. Er sagt „Ich kann nicht zurückgehen, niemals.“ Was dem N blühte, ich weiss es nicht. Wir, als „Eltern“, möchten jedenfalls, dass sie beide, sollten sie zurückreisen irgendwann nach Afghanistan, dann dies aus freien Stücken tun können.

Oder googeln Sie einfach „Hazara“ oder „Taloquan“ oder die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan mit Beschreibungen der Gesamtsituation.

B’s Wut und sein unbedingter Wunsch zum Boxen haben sich seltsam gelegt. Vielleicht hat er ja einen ersten Frieden mit den Dschinns geschlossen. Und N schreibt ins Heft von links nach rechts „Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid“. Und unser aller beliebtes „Nix“-Spiel, also jene immer wieder lustige persönliche Anfrage mit Dialog, zum Beispiel dergestalt: „Äh Du, Frau Mullah…“ – „Ja?“ – „…Nix!“ – diese jetzt auch in Farsi: „Nix“ heisst „Hedsch“.