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Sowas gibts ja heute gar nicht mehr!

Heute die Badwände von den restlichen Fliesen befreit. Sowie die Bad-Decke von den Nut- und Federbrettern. Das Wasch- und das Zahnputzbecken haben Salman und ich schon neulich abgebaut. Der große Badspiegel steht in der Garage, die Lampen habe ich heute ebenfalls entfernt. Vormittags war der Elektriker hier, um ein paar heikle Dinge abzuklemmen. Es soll ja niemand beim Rückbau ums Leben kommen. Das noch verbliebene Türfutter der Küchentüre ist ebenfalls entfernt. Die schöne Durchreiche mit den Riffelglasscheiben zum Verschieben steht schon seit Wochen beim Bauschutthaufen bzw. beim Holzabfuhrberg im Vordergarten. Den alten Herd habe ich in den Garten gestellt, in die Ecke für die Elektroabfuhr. Der Kühlschrank steht seit heute Abend auf der Terrasse. Was noch ausgebaut werden muss, ist die Spüle aus deutschem (und noch nicht chinesischem) Edelstahl. Schon bei der Wertschätzung des Hauses vor anderthalb Jahren staunte einer der drei sachverständigen Gutachter, ein alter erfahrener schwäbischer Haudegeningenieur, hinter seiner Erstwellen-Maske nicht schlecht über die Ausmaße dieses Stückes Metall, „… Mensch, eine Metallspüle, so lang, und an einem Stück! So was gibts heute gar nicht mehr!“

In jenem Badspiegel habe ich mir einst meine irgendwann sprießenden Achsel- und sonstig plötzlichen Haare leicht verschämt und geheimneugierig angeschaut. Deshalb heißen sie ja auch „Schamhaare“, sie könnten aber genauso gut auch „Neugierhaare“ heißen. Und den ebenfalls flaumenden rotblonden Bart. Mit dann ersten Gesichtsrasurversuchen unter der Anleitung eines lieben Onkels, der Vater war ja nicht da zum Zeigen, da gestorben. In dieser Badewanne, die demnächst mit Schwergerät ausgebaut werden wird, saß ich einst auch mit der G., als die alte Dame einmal länger verreist war. Wir lachten die ganze Zeit etwas schüchtern im Übersprung und rauchten, bis der Aschenbecher ins schon nur noch lauwarme Badewasser fiel. Wir mussten noch viel mehr lachen, zogen uns daraufhin schnell an und fuhren mit der Vespa in die Stadt, um ein gemeinsames Bier zu trinken, was uns viel vertrauter war, als nackt gemeinsam in irgendeiner Badewanne zu sitzen. Im Bad war es auch, wo in der Vorsterbezeit der alten Dame, noch nicht allzulange her, ungeheuerlich schlimme Dinge sich abspielten, die man nicht mehr erzählen mag und muss, noch geschweige an sie denken oder erinnern. Der alten Dame würden diese ganzen Aktivitäten jetzt bestimmt gefallen in ihrer zeitlebigen Neugier. In ein paar Tagen schauen Frau Mullah und ich uns moderne Badarmaturen und zeitlose Keramiken an und treffen Auswahl. Was aber bleiben wird, ist der schöne Kunststeinboden von 1964, über den der künftige Fliesenleger ja bereits sagte, ähnlich dem Sachverständigen in der Küche: „Mensch, den haut ihr aber nicht raus, oder? Den müsst ihr lassen, sowas gibts heute ja gar nicht mehr!“

Durch die Durchreiche der Küche ins Esszimmer, deren Schiebefenster aus Riffelglas nicht stets beidseits geschlossen war, sprang auch einst der liebenswerte Boxer Andor von Lampertsrück (1968 – 1981) in einem hohen sehr virtuosen Satz, nachdem es ein versuchter Brauch geworden war, die Aktivitäten des jungen Rüden vormittags, wenigstens während der Halbtagsbrotarbeit der alten alleinerziehenden Dame und meines Grundschulbesuches, für vier Stunden lang in der Küche zu bannen und zügeln. Nie vergessen werde ich seine – Andors – Freude über diese Überlistung seines Frauchens und mir, als er dann, wir wollten gerade das Haus morgentlich verlassen, schwanzwedelnd uns bestgelaunt hinterher rannte. Ich mag Boxerhunde wirklich sehr. Einige dieser gelben Fliesen werde ich bergen und zur ggf. zeitnahen Neuverwendung lagern. Vielleicht ja partiell schon bald in der neuen Küche. Auch die architektonisch begutachtende Sachverständige aus dem vereidigten Bewertungsteam meinte vor anderthalb Jahren übrigens, noch mit handgenähter Stoffmaske, wenn ich mich recht erinnere, über die gelben Küchenfliesen: „Mensch, diese Fliesen, diese Farbe! Dass es sowas noch gibt! Sowas gibts ja heute gar nicht mehr!“

16.11.2021

1964
2019
2021

(Abb.: 1964/2019/2021)

edit 17.11.2021: / Vor dem Umbau ja Planung und Rückbau. Derzeit Planung und diesbezüglicher Rückbau. Jede Stunde selbst getätigter Rückbau ist eine Regiestunde weniger von Anderen, also eine Menge, geldgemessen. Außerdem ist man abends gelöst, nach raushauen, Staub und krachen. Und das Haus wird immer leichter. Und wärmer, wenn man das ganze Holz in den CO2-neutralen Ofen schieben kann und den letzten Rest vom Erdöl im Gartentank unter der dunklen Erde für Wärme zwischen den Jahren erhofft. Der Heizungsbauer sagt professionell, „Januar kein Problem, zur Not stellen wir Ihnen ein Fass Öl in den Keller“.

Im ehem. Schlafzimmer der alten Dame – und zuvor, also vor langen Jahren, dem Schlafzimmer meiner Eltern – demontiere ich nach und nach die Einbauschränke. Das hat man 1964 noch so gemacht, Schränke eingebaut. Ein Schreiner-Meisterwerk. Was mich erstaunte: alles ist überwiegend genagelt, und zwar mit 6cm-Nägeln, die dann in Stirnseiten von 2,4cm gehauen wurden. Ohne, dass auch nur ein Nagel schief ging und ins Schrankfach barst.

Dass dieser Raum künftig Küche sein wird, das gefällt mir. Zudem ein neues Fenster nach Norden hin, zum Gartenweg, damit man sehen kann, wer da kommt und geht und vielleicht gleich an der Haustüre klingelt. Post? Ein Einschreiben-Übergabe? Und dazu eine künftig niedrigere Decke erhalten wird, die dann einen ganz neuen dachschrägen Raum – darüber – entstehen läßt.

Ich freu mich sehr auf diesen neuen Raum. Wir. Ihm ist bislang nichts zugewiesen, so wie etwa „Gästezimmer“ oder sonstiges. Einfach so, ein neuer Raum. Und südostwärts darin auch ein neues Fenster, im Blick hin zur schönen bläulichen Linie der Schwäbischen Alb mit ihrem Trauf.

Es ist viel Abbruch gerade. Man muss darauf achten, dass nichts kaputtgeht. Aber das ist ja auch eine erhellende, reflektierende Aufgabe. Ein paar lange Nägel mehr würde ich mir manchmal in meiner mir gewohnten Selbstaufgehobenheit wünschen, aber das Abenteuer überwiegt. Kontrollierte Abbrüche höchster Konzentration sind fein und intellektuell. Nägelziehen, bedacht, ohne Schaden anzurichten. Hellgelbe Fliesen aus den 1960ern bergen oder graue Kunststeinbodenplatten, ohne dass diese zerbrechen. Und dennoch wonnig an irgendein Werk gehen. Eine Weise schonender Behauptung. Mit Blumensträußchen zum Frühstück. Und ab dafür.

Im Garten raschelt jetzt immer etwas nachts, wenn ich seit vorgestern gelegentlich raustrete aus dem Atelier, dem hanggelegenen UG, in die Wildnis. Das ist kein Igel. Vielleicht sind es die Marder, die seit Jahren unterm Dach wohnen und die jetzt merken, es tut sich was. Sie müssen sich wohl ein neues Zuhause suchen, schon bald. Eine Wildkamera muss her, das meinte gestern auch Frau Mullah. Fast alle in der Strasse haben irgendwelche Hasengitter unter ihren Motoren liegen, ich hatte das nie. Mir hat hier niemals ein Marder etwas am Kraftwagen angefressen, sie haben immer nur an der Antenne gezuzelt und ihre Pfötchenabdrücke hinterlassen beim runterrutschen über die Windschutzscheibe danach. Gesehen hab ich sie aber oft, wenn sie dann wegrannten, wenn ich nachts hier zum Schlafen angefahren kam nach einem Bierchen mit dem Steuerberater in einer alten Studentenkneipe in der Stadt. Zum Beispiel. Ich klatsche dann gerne in die Hände und mache ein gefährliches „Tschhhhht!-Geräusch“. Ebenso bei den verwöhnten singvögel- und schmetterlingsfressenden Katzen der tierliebenden Nachbarn.

Der Fensterbauer ist beauftragt. Noch keine Bestätigung. Termin vor Ort mit dem Elektriker, er ist bereits beauftragt. Wohin kommen die Steckdosen und die Lichtschalter. Und das Licht. Er beginnt mit den Arbeiten in 3 Wochen, bis dahin sollte alles Mögliche demontiert sein, von mir, damit er loslegen kann. Das Dach neu im kommenden März. In der zweiten Januar-Woche fangen die Heizungsbauer an. Heute eine Zusage vom Fliesenleger, ein alter Mitkonfirmand. Dorf. Mai oder April. Ein- oder zweimal hatte ich ihm in der C-Jugend einen Steilpass von rechtsaußen gegeben, den er zum Tor verwandelte. Er war der Torjäger schlechthin seinerzeit.

Es war kalter Krieg, das Haus war da gerade elf Jahre alt, im Radio spielten sie Jazzrock und ELO, in der Glotze lief Klimbim und Kulenkampff und unten, das UG, das jetzige Atelier, war vermietet an eine junge promisk-libertine schweizerische Jungstudentin mit überaus reichen Eltern, die den eher armen reformiert theologischen Zimmerstundenten vom EG plus Waschbecken gnadenlos verführte, wenn sturmfreie Bude war. Und zwar: mehrfach.

So wusste es die alte Dame noch lange, bis ins hohe Sterbealter, mit wenig nachlassender Empörtheit.

***
„13.11. / immer dieser käse mit dem profilbild. überall käse, jedenfalls Ü45. vielleicht ja auch kein käse, na gut. / ich werde nörgelrentner werden, aber welche rente? demnächst wird es mich erwischen. das foto ist vom juni 2020, also bitteschön noch keine 1,5 jahre alt. / neben mir die weissweinflasche knarzt, während ich dies aufhacke, der schraubverschluss. wie thermoskannen. thermoskannen sind was für rentner, die knarzen auch immer. ich fühle mich konfirmand. irgendetwas in meinem reifeprozess ist schief gelaufen. natürlich hat sich etwas getan, in mir, an mir, über mir und unter mir, in den vergangenen 40+ jahren. neben mir. und an den gegenden, in denen ich mich bewege und bewegte. zum beispiel auch in meinen bildwerken. oder in meinen ansichten über welt, verbrecher und jugend. wobei ich genau erinnere, ach wo, dies und das. zum beispiel auch meine hände. schön und fein waren die mal. nunmehr sieht man die handarbeit und die kälte des zweitberufes. und den kalk, der das seinige tut, das mergeln. oder antlitz, meine rechte unterlippe. es wurde geschnitten im zweiten coronajahr. die narbe steht. oder meine fähigkeit, jeden wein, jedes bier und alle zigarretten der welt ganz locker wegzustecken. wie oft höre ich in der letzten zeit, „das schlimmste ist, ich kann mich nicht mehr betrinken!“. dies vor allem von meinerseits geschätzten reiferen frauen. ich spüre ähnliches, bereits beginnend, wie schade. / mein einer großvater starb mit 62 und das war in meiner prägephase, also vor langer zeit, völlig ok so. mein anderer mit 56. es war eben so, alte männer und menschen starben gelegentlich mit zweiundsechzig. ich bin jetzt 59. heute denk ich, logisch, anders darüber. (…) / sollten wir uns begegnen in dieser zeit, sie würden mich sicher erkennen. so muss ein profilbild sein. wobei ich oft wirklich viel freundlicher blicke. / ich mag den herbst dann, wenn es endlich ungemütlich wird. weniger den goldenen, der erinnert zu sehr an den sommer und heult ja nur rum hauptsächlich, ob dem, was da noch kommt. man muss da durch. man muss sowieso durch alles durch, wie sonst soll das gehen mit dem leben. neugier ist ein sehr göttliches geschenk. / Um 24 Uhr zu BeTt.“

1a-Verrohung

Rich Car, Rich Tits

(Jetzt noch einmal, gruen.) /Es ist alles so kantenlos hier und jetzt, in der zunehmenden Welt mit ihren abnehmenden Äußerungen. Immer eckenloser, ein ganz und gar verblassender Siegeszug dumpfer Geschliffenheit halbseiden intelligenter Korrektheiten und runden Samtpolstern, dabei sind doch Kanten so aufregend am Lebendigen und allein sie weisen Wege, Gebrechen, Deppen und kitzelnde Weise. Die errungenen Freiheiten mangeln geraum die weißen Westen und stapeln jene mehr und mehr in dunklen blödsinnigen Schränken, spaßfrei innenlackiert. Und dann, infolgedessen, entsteht die große abendländische Verrohung des Verborgenen, im Innenleben der geschmeidigen Kurven und der darübergeworfenen altweißen Mäntel und eierschalenen Westchen mit abgründigem Tüll und Einstecktuch. Aber vornerum ist alles bifi und Strahlemann. /Schiefe Zähne fand ich schon immer sexy, manchen Bauch ziemlich oft auch und breite oder verquere Gesäße oder Schulterlinien; ebenso halbseitig kürzere Beine, auch ein leichtes Hinken oder große Nüstern. Oder etwa stimmhaftes Lispeln. Segelohren, blaue Zungen oder Muttermale, egal ob weiblich, männlich oder div. /desgleichen dicke Oberarme oder dünne Handgelenke oder sogar komische Narben, die man sich nicht erklären kann. Nie konnte.

Wieso sagt keiner mal Nein!, oder Ja! Oder irgendetwas Unlogisches – einfach, weil es gut ist oder gerade passt. Warum gibt es keinen Humor mehr um mehr als höchstens zwei dumme Kreuzungen und warum wird es danach schon inhaltsgefährlich. Biegung der Flüsse, Drainage von Peinlichkeiten, kein guter Ort mehr für Klischee, Beobachtung, Spiegel oder Schärfe.

Stattdessen heißt es nun „Auflösung“. „Schärfe“ sieht einfach scheisse aus, wegen der Pixel.

Ich kenne auch Leute, die finden das toll, wenn sich ein hochpreisiges Kunstwerk selbst zerschreddert als Teil seiner selbst, in dem Moment, wenn es für zwei Millionen versteigert wird. Ich hingegen finde das langweilig, doof und sowieso nicht neu. Ich finde es toll und künstlerisch gelungen, wenn ein Kunstwerk im Wald mit Straßenlaternen wirft. Und ebenso gut und noch besser gefällt mir manche nicht lautstarke Malerei oder Zeichnung. Denn gute Ideen gibt es viele, aber nicht alle heissen Kunst. Die blöden guten Ideen aber nehmen überhand. In der Folge drohen die guten Ideen zu verrohen.

Ähnlich der allgemeine Opferkult. Die Leute haben entdeckt, dass es derzeit sehr clever und ein Standortvorteil ist, wenn man Opfer ist. Es gibt ja jetzt Opfer bis zum Horizont. Wo früher Wälder standen, stehen heute Opfer. Ich arbeite daher nun auch an meinem Opfer, und ich habe viele: Meine Körpergröße, meine Kinderstube, meine Hybridimpfung, mein Geschlecht, meine Hautfarbe, mein Alter, meine Religion, mein Beruf, meine Nettigkeit, mein Diesel, meine Zigarretten und jetzt auch noch meine 1a-Verrohung. Wie gerne wäre ich eine superhübsche 22-jährige ungarische Influencerin* mit irgendeinem unsichtbaren Großheulproblem. Bin ich aber nicht, und zwar gerne.

***

(Abb.: „1a-Verrohung“, 2021, 27x18cm, div. Edding a. alter kaschierter Pappe, Fundstück Papiercontainer Paris 2001 © / *und herzlichen Dank an Frau Wiesel für die „22-jährige ungarische Influencerin“.)

gehoben, Schatz.

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Vor mehr als dreißig Jahren, um das Jahr 1988 herum, verreiste die alte Dame für 12 Wochen nach Nordamerika. Und wie immer vor solchen Reisen plante sie, ihren wertvollsten Schmuck, meist alte Familienstücke, in ihr Tresorfach bei der Kreissparkasse für die Dauer der Abwesenheit zu deponieren – für den Fall eines Einbruchs von gewitzten Dieben, im unbewachten dunklen Waldrandhaus, welches ohne sie ja leerstand in den damaligen Jahren. In jenem Spätsommer jedoch war nicht genügend Zeit mehr gewesen, zur Bank zu gehen und so beschloss sie, das Gut möglichst raffiniert in einem Pappschächtelchen irgendwo im Hause zu verstecken. Was sie tat.

Nach ihrer Rückkehr konnte sie sich jedoch nicht mehr erinnern, wo genau sie das Gebinde voller Goldschmuck in der vorurlaublichen Eile verborgen hatte. Sie konnte es, trotz intensivster Sucherei, einfach nicht wiederfinden. „Im Keller irgendwo…“ – so sagte sie mir immer verzweifelt, in den ganzen folgenden Jahrzehnten. Und dass es so schade wäre, weil doch vor allem so sehr ideell wertvolle Dinge dabei seien.

Verdächtigte dann sogar die liebe russlanddeutsche Reinigungshilfe, in ihrer Gedächtnisnot. Diese Flausen trieb ich ihr empört stets schleunigst aus, bis sie kleinlaut aufgab und oft den Tränen nah zugab: Sie wisse es einfach nicht mehr. Und was für ein Teufel doch die Erinnerung sei.

Immer, wenn ich im Keller war, suchte ich, wenn Zeit war, ein wenig, hob diese Kiste einmal hoch, fasste ein anderes Mal hinter jenes Regal, durchsuchte die Taschen alter Wehrmachtsmäntel, öffnete kaum mehr zu öffnende alte Lebkuchen-Dosen oder begutachtete die beiden alten Milchkannen aus Aluminium in der alten Fluchtkiste aus Cuxhaven. Ich habe seit Jahren schon nach und nach den Keller ausgemistet und immer dachte ich aufmerksam an ihre Worte. Nichts. Nirgendwo. Selbst in ihren letzten Monaten, vor drei Jahren, als vieles schon hinweg dämmerte, kam sie immer wieder darauf zurück. Wo doch der Schmuck sein könnte, herrjeh! Und irgendwann dann, resignierend, ich glaube, es war 2 Monate vor ihrem Sterben, meinte sie angesichts des sich nähernden Todes und seuftzend: „Na gut, ich glaube, der Schmuck, weisst Du, der ist dann eben einfach… weg.“

(‚Das letzte Hemd hat keine Taschen‘, so möchte man hinzufügen. Das sagte sie ohnehin oft, auch als sie noch im Saft war.)

./.

Nach dem Ausräumen und Sichten des Hauses und seiner Innereien habe ich nun mit dem partiellen Rückbau mit schwerem Werkzeug begonnen. Die Kellerräume sind bereits seit 3 Wochen komplett geleert. Ich habe auch nochmals, in Gedenken an den Schmuckschatz, ein paar Öffnungen im fundamentierten Boden aus Stampfbeton („Spanier“ gossen den damals, mit Schubkarren, laut Bautagebuch) freigemacht. Und beleuchtet und gegraben. Nichts. Kein Schmuck im Keller. Also, so dachte auch ich zuletzt, der ist eben einfach weg. Wie gerne hätte ich ihr in den Himmel berichtet.

Gestern demontierte ich eine steinerne Heizungsabdeckung im Wohnzimmer. Der alte Heizkörper von 1964 wird erneuert werden. Die davor fest und schwer installierte Sitzbank aus massivem Teakholz muss dazu abgebaut werden. Als ich die zweite der steinernen Lamellen herausgeklopft hatte, gab das herbstschräge Sonnenlicht eine kleine längliche Pappschachtel, deponiert hinter der Banklehne auf dem seit 1964 verstaubten und mit uralten Spinnweben umflaumten Heizkörper preis. Auf dem Deckel noch lesbar ihre Schrift mit verblichenem, einst, Edding: „Tresor“.

Sofort wusste ich, das kann nur jener Schmuck sein. Und so war es dann auch. Sie hatte – seinerzeit noch beweglich offenbar – das Kistchen von unten unter erheblicher Körperverrenkung und Verdrehung ihres Unterarmes gegenüber dem Handgelenk auf die Oberseite der Heizung geschoben. Kein noch so gewiefter Dieb hätte es da jemals gefunden. Was sich ja, quasi, bewahrheitet hatte.

Ich musste so lachen.

Und herzen. In den Himmel. Wie gerne hätte ich ihr das berichtet – ihr, die zuletzt so unbeweglich nur noch im Rollstuhl saß. Kaum mehr als zwei Meter entfernt übrigens von meiner sonntäglichen Fundstelle. Auf ihrem Wohnzimmer- und Fernsehplatz. Vor 10 Jahren noch ohne Stock im Korbsessel, vor 9 Jahren ebenda mit Gehstock, vor 7 Jahren noch mit Rollator und zuletzt eben im Rollstuhl.

Schade ist, dass sie mir nun nicht mehr erzählen kann, von wem denn die seltsam-schöne amorphe Jugenstil-Brosche ist, ob der schöne Ring (mit den 3 Smaragden?) von Oma Mika aus Pillau stammt, ob das feine Armband, ein wenig Art Deco, aus den 20er-Jahren vielleicht ein Geschenk an sie ist von ihrem Haudegen-Papa oder warum die um 90° verdrehte mechanische Uhr am Goldarmband immer noch genau die Uhrzeit anzeigt, wenn man sie aufzieht, so wie ich das gestern Abend tat. Und von wem die ist. Vielleicht ja ein Hochzeitsgeschenk von meinem Papa an sie, von 1959?

Familiär weiblicherseits jedenfalls wurde schon aufleuchtendes Interesse angemeldet zur neugierig sensiblen Begutachtung der Fundstücke. Schmuck muss schließlich weitergetragen werden. Finde ich. Und nicht im Tresor liegen – oder in kleinen Pappschachteln weitergereicht werden, zur verdeckt diskret düsternen Aufbewahrung, mausoleenhaft. Generationenlang, fürchterlich. So gefällt mir das, besser: würde mir das gefallen. Und meiner ostpreussischen Ur-Oma Mika, über die ich so viel Liebevolles hörte mein Leben lang, soviel ich jedenfalls über sie weiß, vielleicht sicher möglicherweise ggf. – auch.

Es ergibt, am Ende der diesjährigen Herbsttage, schon einen einigermaßen sinnigen Sinn, dass dieser Fund eines außerordentlichen Primärdokumentes am Ende einer großen abendländischen Ausräumerei sowie eines klärenden Wegschmeißens steht.

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Harald Alexander Rogler /Malerei, Graphik

Pfingstrosen
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Herzliche Einladung:

Harald Alexander Rogler (1920 – 1966)
Malerei / Graphik / Glasfenster
31.10.2021 – 14.11.2021

Versöhnungskirche Stuttgart-Degerloch, Löwenstraße 116, 70597 Stuttgart / geöffnet Di – Sa 16.00 – 19.00 Uhr

Eröffnung am Sonntag, den 31.10.2021, 10.00 Uhr Gottesdienst zum Reformationsfest, 10.45 Uhr Vernissage

Am Freitag, den 5. November 2021, biete ich um 17.00 Uhr eine Führung durch die Ausstellung an, hierzu ebenso eine herzliche Einladung.

Am Montag, den 8. November 2021 um 19.00 Uhr: V. Saile, Vortrag mit Bildern, „Die Glaswerkstatt – Künstlerische Glasgestaltungen“

Finissage am Sonntag, den 14. November 2021 um 11.00 Uhr

***
(Großen Dank für die Ermöglichung, Organisation und Durchführung dieser Ausstellung an die ev. Kirchengemeinde Stuttgart-Degerloch, Herrn Pfarrer Andreas Maurer und Frau Mirja Kinzler M.A.)

Nacht auf d. Kirmes

H.A. Rogler, 1952

8.10., Werk von meinem Vater, gestern abends einer sehr hinteren Ecke eines Regals vom verstaubten Bilderlager auf dem Dachboden für mich erstmals sichtbar und überhaupt entdeckt. /Pastell- und Ölkreide und Grafit auf Papier, 35x50cm, dat. 1952, „Kirmesszene“ o.ä., schön auch die Dame, die am grünen Wagen entspannt (wahrscheinlich mit Zigarette?) und in irgendwelchen ggf. verheißungsvollen ‚Post-War-Alegorien‘ wartet oder nachdenkt mit Stand- und Spielbeinen, auf und über was auch immer, möglicherweise auf die Geschichten oder das Geld der Ex-Soldaten, gerade erst – als „Verlierer“ – heimgekehrt aus mehrjährigen Kriegsgefangenschaften mitsamt wiederum deren möglicher Prosa über Erlebtes. Oder sie freut sich einfach, wie alle anderen im Bild, übers Wirtschaftswunder. /Auch die weissen Lichterpunkte, wie man sie ja heute auch wieder gerne malt, gefallen mir sehr, vor allem der dominant grüne Hof im linken oberen Zwölftel. Dazu ein wunderbar altmodischer recht breit auftragender Holzrahmen (nicht abgebildet), mehrfarbig zurückhaltend lasiert. Ich möchte das alles säurefrei und -puffernd unbedingt genauso erhalten. Es ist ja auch irgendwie ein fröhliches Pastell, da war er 32 Jahre alt (und hatte noch vierzehn).

6. okt 2021

Alles Mögliche

./. der ostpreußische Humor der alten Dame [r.i.p.] in Bezug auf die Lagerung div. Kleindinge, die man vielleicht irgendwann noch einmal brauchen könnte („Mit Männern kann man nicht sparen!“). Ich habe beschlossen, diesen kleinen Karton unbedingt aufzuheben.

./. seit Wochen bin ich am Räumen. Am Ausräumen, behutsam, eines nur unwesentlich jüngeren Hauses, als ich es bin, welches, ähnlich einer Menschengesamtheit, über Jahre angefüllt wurde mit Sinnvollem und mit Mist. Das Haus aber hatte nie Schlaf und Traum, so wie unsereiner das hat. Insofern wünsche ich allen Häusern viel Schlaf und Traum. Ich kenne solche ausgeschlafenen Häuser, zweitberuflicherseits.

./. dazu auch meine, oft leider, vorhandene Lust und Neugier an allen – ja, wirklich fast allen – Dingen und dem ihrigen Eigenleben. Ich jedenfalls lebe und zehre schließlich zu einem guten Stück auch von den Erzählungen der Dinge. Nicht zuvorderst WIR, sondern die Dinge sollen leben. Wir vergehen, aber die Dinge können weiterleben. Man muss sie ja gar nicht besitzen. Aber man kann sich kümmern, damit sie nicht zerstampft werden, von unseren angeblich Entsorgungs- und Wertstoffstrategien. Die dann im Meer vor Malaysia schwimmen und Seepferdchen ärgern. Es ist wichtig, sich um die Insekten zu kümmern beispielsweise, aber es ist ebensowichtig, die Dinge zu beherzigen. Die Sachen. Alles mögliche eben, und sei es ein Eierbecher aus buntem Plastik oder eine kleine Pappschachtel, in der sich schmerzstillende Medikamente im Angesicht vom Tod aus 1966 befinden. Oder eine äthiopisch beschriftete Colaflasche von 2013.

./. dennoch TRÄUME ich manchmal wild und machtvoll von übergroßen Mischmüllcontainern, in die man einfach alles hineinknallen kann. So wie früher. Wenn die Stunde für die Dinge schlüge, na dann hätten sie eben Pech gehabt. Dann sind sie weg und man überlässt das Bewahren Anderen, endlich. Oder das Verdampfen. Eher letzteres. So geschehen vor einer Woche mit dem unterirdischen Werk eines ewigen Halbkünstlers, einem „Kühlschrank, eine Treppe hinabschreitend“. Die Treppe zum Altmetall, der angesägte Kühlschrank zum Elektroschrott. Seit 1998 hatte ich das aufbewahrt, letztlich auch für ihn. Weil wir auch mal befreundet gewesen waren, in anderen Zeiten, bis er mir später nur noch ohne Begründung schaden wollte. Oder einem Gebetsbänkchen, seinerzeit dem Sperrmüll der Abtei Zwiefalten um 1984 freudig entrissen, zusammen mit einem Holzstuhl aus ca. 1910, auf dem ich noch heute sitze am Ateliertisch. Auch der Doppelsitz an bunt gepolsterten Kinoklappsitzen ist nun vergangen. Oder der alte Biedermeierstuhl vom Opa, mit dem ich nie warm wurde, dem Stuhl.

./. also Räumen und Räumen, alles dann doch noch mal durch Hand und Geist rinnen lassen. Sämtliche Geschichten fliegen nochmals vorbei. Welch Fundus. Was wird aus der Ostpreußen-Bibliothek der alten Dame? Bald schon will ich nur noch meins verwalten. Bin ja Kriegsenkel, aber irgendwann ist auch mal Schluss mit Nachtrag und Verantwortung. Noch eine altmodische Zigarette. Die Kirschkern hat Erasmus in Paris. Aus Kindern werden Leute. Unglaublich, seinerzeit, vor 20 Jahren, wohnten wir dort für sechs Monate an der Cité Internationale des Arts und die Kirschkern passte zum Baden noch in einen Normaleimer. Es war heiß. Die Tricolore-Düsenjäger jagten am Himmel mit Farbstreifen zum Feiertag. Es war ein warmer Sommer 2001. Ich möchte in diesem Herbst vielleicht einmal Eis-Essen gehen auf der Île Saint-Louis, mit der Kirschkern. Und ihr den Spielplatz zeigen, wo wir damals rauf und runter, rauf und runter usf. die Vor- und Nachmittage verbracht haben. Oft zogen wir los durchs Marais und ich nahm in der Kinderkarre, unten im Einkaufsnetz, jedes schöne Stück gefundenes Holz mit, um darauf zu malen und zu schreiben, wenn es denn Nacht wurde und Zeit war dafür. Die Kirschkern zeigte mir, wenn sie etwas passendes sah. Da war sie erst anderthalb Jahre alt. Was für eine reiche schöne Zeit, das Dach von Notre Dame war noch da und die Türme in NY standen noch, zumindest bis September.

./. je leerer aber alles nun wird am Waldrand, umso leichter und befreiter läuft auch der Schall durchs Haus und eckt nicht immer an irgendwelchen alten oder uralten Dramen und Tragiken an. Es ist nun kein Mausoleum mehr. Es hallt anders, fast wie gefastet. Das Haus hat eine nie geahnte Leichtigkeit, die es nach der Renovierung zu bewahren gilt. Das ist wirklich sehr schön. Der große Garten eignet sich hervorragend, um Wertstofftrennung zu betreiben, ein Haufen da -beim Apfelbaum, einer dort -beim Buchs. Dennoch achte ich darauf, dass die Dinge dann auch zügig verschwinden und aus den Augen sind. Der größte innere Berg allerdings steht noch unmittelbar bevor – der künstlerische Nachlass meines Vaters. Dutzende Dutzend von oft großformatigen expressiven Aquarellen und Kisten und Schubladen voller Grafik, Zeichnung, Monotypie und sonstigen Blättern. Sie ist schon auch etwas belastend, diese Verantwortung. Es soll ja Leute geben, die solche Nachlässe an Bildern komplett zum Altpapier geben. Das ist noch schlimmer als Bücherverbrennen, finde ich. Es ist und wäre: Auslöschen.

./. Dann doch lieber auf die Straße stellen, wenn es mal nicht regnet.

./. die Garage ist jetzt beinahe voll.

./. ganz so, wie der alten Dame Pappschachtel für „Alles Mögliche“ – übrigens ursprünglich eine Verpackung der „MONA Strumpf- und Wirkwarenfabrik GmbH 7500 Karlsruhe“ – habe ich nun eine ganze Kiste voller schöner und origineller Geburtstagsgeschenke gerettet. Sei es eine Packung Blättergelatine aus 1967, div. Strumpfhalter, Buntwaschmittel in der Originalpackung von 1971 für DM 2,49, etliche Insel-Bücherei-Bändchen und Metalldöschen aus den letzten 80 Jahren (z.B. „Cenovis Klare Brühe“), Zimtstangen im Glas und Muskatnüsse aus den 1950ern, wunderschöne beschriftete Holzbügel („Hotel Terminus Baden-Baden“), sowie etliche matallene Lufthansa-Löffelchen mit Prägung. Oder auch Rattengift von ca. 1966, noch mit Totenkopf-Aufdruck. Und weiß Gott was alles noch. Aber ich werde das alles im Sinne des Bewahrens von Alltagskultur schon an den Mann und die Frau bringen.

./. der Heizungsbauer ist nun seit gestern beauftragt. Das bedeutet, dieses Abenteuer des Umbaus und der Sanierung kann beginnen. Vorfreude mischt sich mit manchmal Muffensausen, aber Freude und Zuversicht überwiegen. Ich freue mich schon auf die „Eigenleistung“ und Salman und Bahram haben auch ihre Hilfe zugesagt. Wie viele andere. Am Ende des Oktobers soll alles beginnen. Das Heizöl im Gartentank könnte noch reichen bis Dezember. Das Dach soll neu werden im März. Die Angebote für die Ersetzung der noch zweiadrigen Gesamtelektrik sind in die Wege geleitet und die Erneuerung der Fenster ist bereits angeboten. Ich dachte oft, irgendwann lege ich die Füße mal hoch. Aber dann fällt ja der Kopf hinten runter und landet im nebelfeuchten Schoß von Frau Müller, die einen spitzen Gutenachtkuss gibt, allein deshalb, weil es ihr so beigebracht wurde.

./. Überlege noch, ggf. ein Bautagebuch zu verfassen. Aber mit Tagebüchern kann man mich jagen mittlerweile, so viele gibts hier, in irgendwelchen Kisten. Wer soll das alles jemals lesen.

retusche

Retusche

(finito/kursiv:) das meiste der Farben der Welt sind doch tausendjahr und eines vehement-Misch überaus. Die knall-Róots kann man meist vergessen, ebenso alles andere im Leucht oder sonstwie synthetisch. Was aufzählt, sind zuvorderst Umbras (natür oder gebrannt), Ockers (natuer oder gebrannt) und etliche ebensolche Sienas oder Hauche vom Lampenschwarz, vielleicht noch Reste vom böhmisch‘ Grünerdenersatze oder einfach schöner Dreck vom Boden und roter Rost. Und manchmal etwas Kalk oder sonstiges Weiß. (Was bitte, so frage ich Dich einst am Rock deiner Seele, ist schon „Weiß“?) Oft ein viel Wässerchen dazu oder eine impressionistische Lagerung, husch-husch, flink auf’s Retusch und noch ein paar Sporca drübergelegt, die schmutzende Zeit nachäffend für die Sehenden vom Jetzt. Vergiß mir stets aber nicht das genügende Bindemittel! In diesem Falle Wasserglas; oder streich mir, noch einmal wenigstens, fast trocken über alles, auf daß die Höhungen vom SCHteine sich behaupten, ob dunkel, ob hell, ob Dämmerung. Ohne, dass sie’s müssten, die Riefen, die Furchen, die Steinchen oder die Überbleibsel mechanischer Verschwendungen, wohlgemerkt: Denke immer, Du kommst aus einer anderen Zeit, denn der Staub kommt von alleine in der schöngeredeten Ewigkeit ewig gewünschter Überdauerungen. /man muss locker sein mit Farben für’s Retouschieren. Denn alles, was man jemals über’s Sehen lernte, ein Leben lang, fließt dorthinein. ins Sehen. Zunächst. und dann in die: Retusche. Und sodann zurück ins Leben. /wenn man nur weit genug die Augen schließt.

Omi

Omi

(Nachtrag, 5.8.21) / Abb. zeigt meine Omi, Gertrud Kober, geb. Nitsch (*1907, Pillau, Opr.), mit Andor von Lampertsrück (1969-1981), meinem geliebten Freund und Kumpan in süddeutschen Kindertagen, jener seinerzeit in vollem Saft, dazu Omi zu Besuch und ich an der KODAK-Instamatic. / Die Gewissheit, recht früh, überall würde ich schlimmstenfalls Verhalten und Geschichten finden und vorfinden, die grausam sein könnten. Jene seinerzeit vage und noch kindliche Befürchtung vor Verlust, Schmach und dem ganzen Zeug und damit uneigener Geschichte, Vertreibung, Zerstörung und Tod. Diese Furcht begleitet mich bis heute, ich kann mich winden, wie ich will. Etwas lässt mich nicht los. Mein Interesse daran, an altvorderen Schicksalen, ist aber keinesfalls erloschen darüber, ebensowenig meine kleinen Ängste vor’m überlieferten Selbst und vor übergeordneten Verantwortlichkeiten. Die nichts – aber auch gar nichts – mit irgendetwas Jetztzeitlichem zu tun haben. Am allerwenigsten mit mir. Oder eben doch? / Sie habe in jungen Jahren leidenschaftlich Charleston getanzt, mit meinem Opa, dem späteren Kaptän oder Admiral zur See auf der Bismarck und Haudegen Waldemar. In den wilden 1920ern in Berlin. Und sie gebahr fünf Kinder mit ihm. / Ich hab‘ sie immer sehr gemocht, meine Omi, und dem süddeutschen Landei Andor ging es genauso. Er küsste gerne, ebenso, wie ich es tue, das hab ich von ihm. / Gestorben ist sie 1984 in Ahrensburg und wurde wenig später zusammen mit ihrem – aus seiner leider bereits 1956 geschaffenen Grabstätte auf dem Friedhof in Hamburg/Ohlsdorf – exhumierten Kapitän auf der Kieler Förde seebestattet. Wenn ich heute in der Ostsee schwimme, dann weiß ich, Omi und Waldemar sind auch da.

igitt

igitt

Ich dachte einfach mal: igitt. Und ließ mir das Wort, das Wörtchen, auf der Zunge zergehen, bevor ich es schluckte. Man kennt das ja, manchmal werden Worte zu ganz eigenen Lebewesen, wenn man sie einhundert mal so vor sich hin sagt. In den leeren Raum hinein. In den Wald hinein. Im Auto oder im Bett vor dem Einschlafen. Dann werfen sie lichte Schatten und zeigen ihr wahres Ich, ohne die von uns zugewiesenen weltlichen Bedeutungen.

„schluckte“ ist auch so ein Wort.