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mäuschen grüne wolke

Grüne Wolke

Abb.: *

nachgeholt. wegen technischer probleme. jetzt gelöst dank Miss KittyKoma – ihr den allergrößten Dank mit Herz!

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22.8. / Grüne Wolke
kursiv: es sei so ein muster derzeit, oder eigentlich schon seit nunmehr einigen jahren, meint ein bekannter, wie entscheidungsträger sich von den zu entscheidenden dingen immer weiter entfernen, eine gewisse „entpraxisialisierung“, so lässt es sich am besten umschreiben. man könnte auch sagen, diejenigen, die entscheiden, haben ggf. immer weniger ahnung und/oder subjektive verbindung zu denjenigen dingen, über die sie ggf. entscheiden. zumindest keine erlernte oder fachlich und beruflich erlangte. die ausführenden, finanzierenden und entscheidenden ebenen driften im wirbelschwung auseinander. das ist alles nicht gut und führt zu, den dingen nicht angemessenen, ergebnissen. siehe derzeitig nationale großprojekte, siehe verkehrsministerium mitsamt autobahngesellschaft u.v.m. und nun, zuletzt, siehe afghanistan. im kleinen ließe sich das auch auf anderen arbeitsfeldern und betreffenden entscheidungszwangsläufigkeiten erkennen und damit vergleichen. ich kann seine gedanken mehr als nachvollziehen, es tun sich allerlei parallelen auf, je mehr man darüber sinniert, aus einem zunächst unbestimmten unbehagen und der wiederkehrenden frage, woran das denn liegen mag, die zunahme der regelmäßigkeiten.

vielleicht liegt ja es am persönlichen auskommen, also am subjektiv erwobenen geld. sicherlich nicht läge es an einer persönlichen lust am unwohlsein und diesbezüglicher mode. vielleicht liegt es an den fehlenden mechanismen für persönliche verantwortlichkeiten. zum beispiel auch einem subjektiv verantwortlichen entzug des geldes. auch sogar nachträglich.

ich fühle mich in dieser ganzen afghanistansache in keinster weise repräsentiert. ich schäme mich für mein geburts- und heimatland und seine entscheidungsträger. wieso kann nicht auch die bundesdeutsche besatzung eines großen flugzeuges notfalls entgegen aller vorschriften und konsequenzen auch mal entscheiden, dass die maschine vollgeladen wird mit menschen, einfach mit menschlichen leuten, die da weg wollen, dort, wo der flieger gerade parkt. und zwar aus verzweiflung, nicht aus lust und laune. und wenn sich dann einer bei einer möglicherweise ruppigen landung in taschkent, unangeschnallt, einen finger bricht, dann ist das eben so. es geht doch um die hauptsache. es geht immer um die hauptsache. sollte es.

was ist das für ein wahltaktischer zynismus, dieses „problem“ von flüchtlingen möglichst derzeit fernzuhalten? denn darum geht es doch in wahrheit. in österreich sagen sie so ungefähr, „es gebe keine gründe, warum afghanen nach österreich kommen sollten“. hässlicher geht es nicht.

das ansehen „meines“ landes wird momentan zum wiederholten male massiv beschädigt. nein, ICH bin NICHT dieses land in dieser sache und ich kenne eine menge leute, denen das genau so geht. „2015 darf sich nicht wiederholen“. ja sicher. aber 2015 wird sich noch 100te male wiederholen, da können wir uns auf den kopf stellen, in der jetzigen weltsituation, innnerhalb der kommenden jahre und jahrzehnte.

mir ist es keine „schmach“ eines überhasteten, vielleicht angsvollen abzuges. auch keine meine hormone ggf. belastende niederlage, denn die stand von anfang an fest. es geht doch darum, nun endlich einmal irgendein wahres gesicht zu zeigen. auch entgegen erwartungen, wahlkampf und vorschriften. ich sehne mich nach menschlichen und allein ihrem gewissen gegenüber verpflichteten menschen, und seien es haudegen oder andere, die einfach mal machen in dieser rasant immer verlogeneren weltlage. persönlich kann ich keine hubschrauber bedienen, wohl aber hubsteiger. und anderes kann ich, zum beispiel grüne wolken malen*.

das darf doch alles nicht wahr sein, diese stammeleien eines heiko maas (den ich oft verteidigt habe gegen anzughasser oder frauen, die kleinere und zurückhaltendere männer belächeln und insgeheim nie als väter ihrer kinder goutieren würden). oder eine verteidigungsministerin, die sich jetzt nicht vor ort blicken lässt. alles fing an, als die aus AFG rückkehrenden soldaten noch nicht einmal von semi-höherer politik empfangen wurden. was sollen knapp sechzig hinterbliebene familien dabei denken und empfinden, die jemanden da weit weg in zentralasien verloren haben durch eine weltmachtpolitische etappe voller fragwürdiger ziele und eine unzahl von gewinnlern? dem muss man doch als gesellschaft anerkennung und trauer tragen, und zwar sichtbar, auch wenn es aus der mode gekommen ist.

und auch, im privaten: was sollen bahram und salman von den deutschen denken? /ich könnte es ja auch mal so sagen, salopp: wir als familie haben mit herz gerne viel leidenschaftliche energie aufgebracht, den damals noch minderjährigen geflüchteten afghanen in unserem haushalt abend für abend demokratieverständnis, die funktion und den wert von solidarsystemen sowie westwertepfeiler insgesamt zunächst zu erklären, dann zu vermitteln und vor allem auch zu begründen. und nun so etwas. die ortskräfte? verraten und verkauft. in einer offiziellen mitteilung staatlicherseits heisst es sinngemäß, „… es war ja die freie entscheidung jener, für die bundeswehr zu arbeiten…“. das schlägt auch mir mein bodenfass aus. sowie meinen sinn für normalerweise köstliche ironie, mitsamt supertrockenem weisswein, durch migrantische servicekräfte eingeschenktes personal. auf das wahlkämpfer so gerne verweisen.

„Schwund ist immer!“ sagt der eingangs Erwähnte oft und lacht. Ansonsten alles ok., Atelier, Hubsteieger, Wassereimer, Trockenschwämme und Radiergummis. Ich bin Auslaufmodell, manchmal jetzt gerade sogar ganz gerne.

(* /“Grüne Wolke“, aus Serie ‚Uebergangshelfer‘, 2021, 22x24cm, Öl auf Pappe, © VG Bild-Kunst, Bonn)

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4.9. / heute Weblogjubiläum. Habe ich, Schneck, heute. (*Herzchen*). Vor 15 Jahren, am 4. September 2006, begann alles unter schneck06.twoday.net mit der Traute zum endlich auch textlichen Niederlegen von Sachverhalten aus meiner zutiefst zeichnerisch bildlichen Sicht. Mehr kann ich nicht. Als irgendetwas hineinschreiben in das geliebte Blog, was Linien und Farben und die Grundliniendeutung des Erlebten und Miterlebten mit Worten festhält. Ich kann keine „Stories“ entwickeln, ich will das auch gar nicht. Man soll ja nichts wollen, was man nicht kann. Ich will nur beobachten, solange ich da bin. Auf einem Bänkchen sitzen und die Füße dabei hochlegen. Und dann raushauen, mal so, mal so. /Es war in Schöneberg, im Atelier auf der Insel am Gasometer und die Kirschkern war gerade lumpige 6 Jahre alt. Eine schöne Gegend und Zeit, in der jedoch die Liebe starb. Wahrscheinlich ahnte ich, dass es schon alsbald jede Menge aufzuschreiben geben würde. Bis heute ist das so, das mit dem Ahnen. Ich sage also Danke, auch wenn man manchmal ja falsch liegt. (*Herzchen*). /Bloggen wird unterschätzt, insbesondere heute. Wo alles so flink immer gehen muss und wenig bedacht. Bloggen bedient das Ego, man kann alles mögliche öffentlichmachen. Aber in einer doch einigermaßen gesunden und semikontrollierten Geschwindigkeit. Ich kann das Bloggen daher nur empfehlen. /Genauergesagt: das Jubiläum war gestern. Aber ich war heut/gestern Abend trinken in Kreuzberg und unterhielt mich mit Carl Weissenhofer über Afghanistan, die Kunst, die Leute und ihr Lieben und Leben und Sterben. /Damals fuhr ich mit der Eisenbahn vom Vorharz nach Franken. So entstand dieser kryptische Text über Freizeit- und Arbeitsschuhe, der es mir offenbar wert war, ihn im Internet zu veröffentlichen. Ich erkenne mich selbst, habe aber nur eine diffus detaillierte Meinung dazu, was genau ich damals meinte. (*gedämpftes Smiley*). /Jedenfalls, ich habe in diesen 15 Jahren so viele wunderbare Menschen kennengelernt, über dieses „Bloggen“, die ich ansonsten niemals getroffen hätte. Dafür danke ich dem Internet. Und allen analog webloggenden Menschen, die schon wissen, was und wen ich meine. /Merci

https://schneckinternational.me/schuhe

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ansonsten alles seine gänge. und irgendwann hat sie ne brille, er hat linsen, er hat ein bäuchelchen und sie oberärmchen. ich bin ein mäuschen, denn ich stehe nachts auf und esse käse.

19.7.2021

DSC04072

Möchte mir keinerlei Worte verbieten lassen, sie kontextlich zu erwähnen, geschweige sie abzubilden. Und künstlerisch und damit abstrahiert schon gleich gar nicht. Ich halte es auch für problematisch, allzuviele vergangene Denkmäler umzuwerfen. Oder allzuviele Straßen oder sonstige Orte umzubenennen. Das ging mir schon damals so, als in der Ex-DDR der große Straßenwind fegte. Für mich persönlich ein Informations- und Rechercheverlust. Ich finde es eher bereichernd und interessant, Verbrechern zu begegnen, immer wieder. Nur so lassen sich doch künftige Verbrecher verhindern, oder nicht?

Und außerdem möchte ich mich nicht bevormunden oder betüdeln lassen in meinen alltäglichen und schwerwiegenden Nachforschungen und Einordnungen, und damit meiner Ratio und meinem unbedingten und aufrecht selbstbestimmten Willen, die Welt zu kapieren. Im Glauben, nach wie vor, an’s Gute oder Schlechte, je nachdem. Auch wenns schwer fällt. Es muss schwer fallen, nur so kann’s leichter werden.

Vor allem die Vergangenheit. Geschichte ist eben passiert, da kann man sich auf den Kopf stellen. Der Becher Milch ist umgekippt. Oder der wurde umgekippt. Hitler war ein Mörder und Arschloch, und andere damalige und heutige sind es auch. Wie soll ich die erkennen, wenn sie mir vorenthalten werden. Ich habe gelernt, in diesen Momenten ganz besonders misstrauisch zu werden. Und umgehend dann trotzig.

Dieses Misstrauen gegen Wort- und Bilderverbote muss den Jungen („ah, ein Doppelwort!“, würde die Kirschkern jetzt anmerken) der Welt mitgegeben werden. Den grünen, den gelben, den schwarzen oder afghanischen und den weißen. Das funktioniert aber nur, wenn es keine Verbote oder allzu späte Tilgungen gibt. Nirgends. Oder nachträgliche Verunklärungen. Wieso denken manche, eine „Bismarckstrasse“ müsse nun umbenannt werden? Glaubten jene, ich sei blöd? Immerhin hat der doch die Sozialversicherung eingeführt, war’s nicht so? Oder war’s so nicht? /Und „Schwarzfahren“ und „Meine Damen und Herren“. Ein weiter Acker und vielerlei Hecken.

Das alles reizt mich dann, spätestens künstlerisch, umso mehr. Ich weiss, das ist ggf. nicht altersmilde. Das Wort „Neger“ als Bezeichnung für einen Menschen hat mir übrigens noch nie gefallen. Aber nun sah ich mich schon fast gezwungen, vor ein paar Abenden, jenes auch mal collagierend einzubinden, wenigstens irgendwie und vielleicht noch gepimpt für die jetztzeitige Rezeption – durch’s möglicherweise wärmende echte Lapislazuli unten rechts, in der steten Hoffnung, es möge vielleicht irgendetwas bläulich durchschimmernder werden. Oder an den Warzen der allseits geliebten Aufklärung zuzeln.

Oder eben dann halt nicht. Es sind diesbezüglich derzeit komische Zeiten, und v.a. so plötzlich. Was ist da los auf einmal, fast wie über Nacht.

Ja, ich weiss, es ist ein schmaler Grat. Schmal war der immer, deshalb geht man ja in die Berge. Dafür umso reizvoller in künstlerischem Anliegen. Eine Cessna (oder Piper?) hat für mich etwas sehr schönes und beschützendes. Ganz subjektiv. Ich saß vor langer Zeit mal in einer solchen, mit sechs Sitzen, im Osten von Afrika. Der Pilot war schwarz und ließ mich mit einem kleinen zugewandten Zeichen vorne neben sich im Cockpit sitzen, obwohl reiche Andere sich vor mich gedrängelt hatten und ich demzufolge als letzter eingestiegen war. Ich konnte damals noch nicht drängeln.

Bahrams Vater ✝

Nordsee nicht nur Mordsee

Ich habe hier ja lange nichts mehr über Bahram* und Salman* berichtet (*Pseudonyme, seinerzeit wegen Jugendschutz und überhaupt den düsternen Eigenschaften des Internets). Das sind die beiden damals noch minderjährig Geflüchteten aus Afghanistan, die ab dem Frühjahr 2016 als „Pflegekinder“ über zweieinhalb Jahre bei Frau Mullah, der Kirschkern und mir im Pfarrhaus lebten und zu denen heute noch ein sehr reger und herzlicher Kontakt besteht. Beide sind mittlerweile in Deutschland „angekommen“ und gehen, jeder auf seine Weise, ihren Weg. Nun ist etwas schreckliches passiert, Bahrams* Vater ist vor einer Woche an Covid-19 verstorben, was für die Familie in Afghanistan auch in Bezug auf die alltägliche Versorgung, mithin das Überleben in Ghazni/AFG, eine Katastrophe darstellt. Frau Mullah und ich haben schon spontan in dieser akuten Notsituation geholfen und nun gibt es auch im Umfeld viel Teilhabe und einen Spendenaufruf, den ich hier im Folgenden gerne unbedingt weiterverbreiten möchte. Wir sind froh und dankbar über jede kleine Spende. Haben Sie herzlich vielen Dank. (Foto: Bahram* auf Amrum, Sommer 2019)

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Mit diesem Spendenaufruf bitten wir um Hilfe für einen in Tübingen lebenden jungen Geflüchteten, den 21-jährigen Afghanen Nasim S., nach einem Covid-Todesfall in seiner Familie.

Nasim S. kam im Jahr 2015 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Inzwischen hat er im Jahr 2020 durch gerichtliche Entscheidung einen Aufenthaltstitel erhalten. Er absolviert derzeit die Berufsfachschule mit dem Ziel der Mittleren Reife. In Tübingen wurde Nasim lange Zeit von der KIT Jugendhilfe, dem Jugendamt und seiner Pflegefamilie betreut.

In der letzten Woche ist Nasims Vater Liyaqat Ali S. an einer Covid-19-Infektion gestorben. Die Ärzte im Krankenhaus von Ghazni konnten das Leben von Herrn S. nicht retten. In Europa wäre es durch den Einsatz von vorhandener Medizintechnik wahrscheinlich möglich gewesen, sein Leben zu retten. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass die Pandemie die Ärmsten und Schwächsten dieser Welt am härtesten trifft.

Herr Liyaqat Ali S. hinterlässt in Afghanistan eine kranke Ehefrau, zwei durch Unfälle behinderte Töchter und Nasims minderjährigen Bruder. Die schiitische Familie gehört zur Volksgruppe der Hazara, einer in Afghanistan diskriminierten und durch Angriffe von Islamisten gefährdeten ethnischen Minderheit. Die humanitäre Situation in Afghanistan ist nach 40 Jahren Krieg insgesamt schlicht katastrophal.

Jetzt fehlt der Familie der Ernährer. Nasim konnte bisher durch Nebenjobs zwar gelegentlich geringere Beträge zur Unterstützung der Familie nach Afghanistan schicken, kann aber die Rolle des Ernährers von Deutschland aus nicht ausreichend erfüllen. Ein Familiennachzug ist nach geltendem Recht nicht möglich, denn dieser ist nur bei Ehepartnern und minderjährigen eigenen Kindern möglich.

Mit den Spenden wollen wir dazu beitragen, dass die Familie die Beerdigungskosten, die Krankenhausrechnungen sowie die Kosten für den lebensnotwendigen Bedarf an Lebensmitteln und medizinischer Versorgung bezahlen kann.

Wir bitten um Spenden unter dem Betreff „Nasims Vater“ auf folgendes Konto:

Andreas Linder / IBAN: DE55 4306 0967 7007 8401 00 / GLS Bank, BIC: GENODEM1GLS

Anmerkung: Dies ist eine private Hilfsaktion. Es können daher keine Spendenbescheinigungen ausgestellt werden.

Unser Ziel ist, mit mindestens 1.000 Euro helfen zu können. Wir freuen uns auch über kleinere Spenden und danken im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen,

– Gudrun Bertsch, Co-Schuldekanin und ehemalige Pfarrerin der Ev. Kirchengemeinde Hagelloch, ehemalige Pflegemutter

– Matthias Hamberger, Leiter der KIT Jugendhilfe Tübingen

– Andreas Linder, move on – menschen.rechte Tübingen e.V., Beratungsprojekt Plan.B

– Tina Reitz, KIT Jugendhilfe Tübingen, Projekt jumbb

– Sebastian Rogler, ehemaliger Pflegevater

the venezianische variante

St. Lucia, Venezia

(Abb.: kommst Du an.)

SETZTEN uns also gegen neunzehn uhr in den regionalen schnellzug, vorfreudig, ab einem teilort einer süddeutschen mittelgroßen region, genauer: reutlingen. mit genügend zeit nach ankunft in stuttgart, den ice nach münchen zu erreichen, um dann dort in den nachtzug nach venedig zu steigen, um am nächsten morgen um halb neun in venezia/st.lucia einzufahren. aber noch vor metzingen, dem ersten halt nach abfahrt, hielt das züglein auf freier strecke. zunächst einmal kommt sowas ja mal vor. die lautsprecher für etwaige durchsagen funktionierten nicht, aber das erfuhren wir erst später. es verging eine halbe stunde und mehr davon, mittlerweile waren wir in metzingen eingefahren. niemand wusste etwas, bis dann jemand etwas wusste, nämlich eine information, die eigentlich keine war: eine weiche sei defekt. und man wisse nicht, wie lange das dauern würde. niemand wisse das, wann sie wieder undefekt wäre.

WIR sahen also nach, wann ein folgender schnellzug von stuttgart nach münchen führe und wann dieser dort ankäme. ein taxi „käme in ungefähr zehn minuten“, so erfuhren wir unter der telefonsuche „taxi metzingen“. wir hatten noch überlegt, auf solche weise die stuttgarter fernzüge zu erreichen. es war aber hoffnungslos. die ganze vorfreude auf diesen so ersehnten kleinurlaub war den bach hinunter. die einzige noch möglich verbleibende supermöglichkeit war, mit einem schienenbus zurück nach reutlingen zu fahren, um dann dort so schnell wie möglich mit dem auto nach münchen zu jagen. was wir dann auch taten. wir fuhren überwiegend 170 mit meinem lieferwagen, der sich nicht unbedingt für solche dinge eignet. auf der linken spur erreichten wir den münchener stadtrand ungefähr 40 minuten vor abfahrt des kaiserlich königlichen nachtzuges.

ÜBERLEGTEN noch, irgendwo in den bayerisch-hauptstädtischen vorstädten oder einfallstraßen gratis zu parken und dann von dort aus ein taxi zum bahnhof zu nehmen. das aber war zu unsicher, denn nirgendwo waren taxis zu sehen und jede minute zählte sich. es war mittlerweile 22.50 uhr, also wagten wir die fahrt zum bahnhof, auf ein parkhaus hoffend. dieses fanden wir wie durch wunder und schicksal, parkten unverzüglich ebenda im zweiten stock auf einem frauenparkplatz und beim kofferhasten zum bahnhof sahen wir noch den gebührenhinweis „30 eur/tag“. das war uns dann aber irgendwie auch egal. schließlich, vier minuten vor abfahrt des nachtzuges, erreichten wir den bahnsteig schweißgetränkt mit puls und alle.

IM vorfeld waren ja italienische einreiseanmeldungen online auszufüllen gewesen, diese hatte wir sogar sorgsam ausgedruckt, ich bin ja so ein analoger mensch, ich kann gut mit zetteln, nicht so mit pixeln. und den obligatorischen schnelltest auch verbrieft und gestempelt mitgenommen, ein österreichischer jungschaffner ließ sich vor innsbruck alles zeigen und nickte immerhin zustimmend. wie schön, wenn diese ganzen mühen diesartig auch mal gewürdigt werden, und sei’s nur im vorbeigehen. und wahrgenommen, wenigstens.

ANDERS bei der rückfahrt sodann sechs tage später: die digitale einreiseanmeldung nach heimatdeutschland hatten wir brav ausgefüllt und abgeschickt. sogar mit zugnummern und pipapo. selbst einen schnelltest des italienischen roten kreuzes hatten wir gerade noch so erlangen können, nach zwei stunden des anstellens am venedigschen bahnhof, anstatt in dieser wertvollen zeit noch die letzten stunden in der sonne am grand-canal beim kaffé verbringen zu können. was soll ich sagen, niemand interessierte sich später im zuge dafür. keine sau, sozusagen. weder für die einreiseformulierung, noch für den negativen schnelltest. noch nicht einmal das ticket wurde geknipst, geschweige irgendein personaldokument zur einsicht verlangt.

WIR, und nicht allein wir, kamen uns ein bisschen blöd vor. jedenfalls für ein paar stunden. ein nettes münchener umlandpärchen mit sohn, dieser ca. 8 und süß und sehr aufmerksam, wartete vor uns in der testschlange und es hatte sich ein interessantes gespräch über „was wäre eigentlich, wenn?“ entsponnen. was wäre, wenn der venetianische schnelltest positiv ausgefallen wäre? mit aller vorangegangenen registrierung? „das transportunternehmen darf keine positiven personen transportieren“, so oder so sinngemäß ähnlich hatten wir gelesen. ob man dann aus dem zug geworfen würde? das pärchen verließ irgendwann sicherheitshalber die schlange, ein möglicher positiver test, mithin ein falsch-positiver test, hätte ja theoretisch dann ungeahnte folgen. kurz waren wir uns uneins. frau mullah und ich. ich wollte auch gehen, frau mullah aber wollte das durchziehen. und schließlich wollte auch ich das durchziehen. schon so rein aus neugierigem prinzip. und vielleicht wäre diese schöne spontanreise ja auch noch ungeahnt verlängert worden, in irgendeiner venetianischen quarantäne. mit blick aufs wasser.

SPANNUNG erhält ja außerdem die körperliche und geistige beweglichkeit, zu allen lebensaltern, oder etwa nicht?

SO also geht corona und reisen. na gut, ab übermorgen ist italien sowieso kein risikogebiet mehr. wie ich heute las. diese ganzen bestimmungen, von wegen „begeben Sie sich unverzüglich in selbstquarantäne“, alles quatsch. eigentlich müssten wir die ergebnisse der schnelltests aus italien binnen 48 stunden beim örtlichen gesundheitsamt oder sonstwo einreichen? aber auch hier gibt es sehr unterschiedliche informationen. die sich ohnehin täglich ändern. das einzige, was digital durchrieselte, war eine sms an mich, ich solle irgendwo informationen lesen, da ich aus einem risikogebiet heimkehre.

UND dann dieses permanente online- und qr-code-gedaddel. auf der hinfahrt hörten wir aus einem jugendlich besetzten nachbarabteil durch die pappwand, wie eine junge frau mit freunden in iserlohn telefonierte, diese mögen ihr doch bitte noch schnell einen negativen test mit ihren, der jungen frau, eckdaten aufs handy spielen. und was das kosten würde? dreißig euros. geschenkt.

ES war ein wunderschönes und dringliches wegsein, und nicht ziemlich unwichtig. nach diesem jahr. kommt mir vor, wie 2,5 wochen. dabei nur sechs tage. wir wohnten auf guidecca. diesesmal mit blick nach süden, auf die lagune.

(…)

IM parkhaus münchen/marsstrasse bezahlten wir 180 steine fürs auto 6 tage da stehenlassen. zwei stockwerk tiefer bemerkten wir die offene schranke bei ausfahrt ohne nachfrage nach einschieben des tickets. ab dafür. und fuhren sodann glücklich, beschwingt und satt retour in die warme und sternklare nachtautobahn mit 120kmh nach westen. hochweiße böblinger suv’s und göppinger audis mit anhängerkupplung überholten uns mit 170 und dachsärgen mit allerlei aufklebern vergangener urlaube. wir aber zuckelten und sprachen über stucky, agnes, bootsführerscheine, carlotta, fortuny, grüne italienische umhängetaschen aus leder mit weißen nähten und die wunderbare lörracher gang.

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DIESE umbenennungemn der diversen varianten und mutanten ins griechische alphabet missfällt mir übrigens sehr. wie prosaisch/lyrisch und vor allem künstlerisch-assoziativ doch so manches klänge. und dadurch vielleicht auch den schrecken schwerer tatsachen und verläufe nehmen könnte? „die indische variante“ klingt nicht per se bedrohlich, finde ich, auch wenn diese das vielleicht ist. na gut, abgesehen vielleicht von „das indische tuch“ von edgar wallace. aber wer denkt nicht bei „die brasilianische variante“ ggf. ebenso an einen film vielleicht, mit viel wärme, gefühl und hitzigen und schwülen körperlichen grenzüberschreitungen? bei der „britischen variante“ könnte es sich um einen spionagefilm handeln. oder was wäre mit „die murmannsk-variante“? „die hessen-nassauische variante“ klänge nach einem geschichtlichen ereignis um 1848, die „petersburger variante“ würde das zahrenreich (doktor schiwago etc.) heraufschwören können. die „hawaiianische fluchtvariante“ könnte in sepia auf liebesdramen während der pazifikschlacht/kamikazee verweisen, „die delmenhorster variante“ hingegen ließe einen möglicherweise an jüngere deutsche humorfilme denken, mit viel lachen dazu und til schweiger samt tochter. bei der „phuket-variante“ wären wir wohl wieder beim sex, bei der „nicaragua-variante“ in einem politdrama unter palmen aus den späten 1970ern. „die saudische variante“, ein ding zwischen tausend und einer nacht und komplexem journalistenverschwindenlassen. „die helgoländer variante“ wäre etwas für küstenfreunde und klänge harmloser und nach temporärem schnupfen und robbenbabys. und bei der „kamtschatka-ischen variante“ würde ich an die gute alte zeit der windjammer denken, mit dreimastschonern und so weiter. die „samoa-variante“ wäre was für auswanderer, die „worpsweder variante“ etwas für sammler von alles-wird-gut-kunst. „die saigon-variante“ würde auch allerlei bedienen, die „tasmanische variante“ könnte an picknick-am-valentinstag anknüpfen oder an jenseits-von-afrika, hauptsache, die sechssitzigen flieger haben noch ledersitze und propeller und keine düsen und die frauen große helle hüte auf dem kopf und geld.

MAN könnte das jetzt natürlich noch weiter spinnen. ich mach das auch. zum beispiel „die königsberger variante“, oder diesbzgl. auch die „palmnicken’sche variante“ oder „die rauschener variante“. oder die „uklei’sche variante“ usf.

JETZT nur noch eine, aus aktuellem anlass, „die venezianische variante“, nämlich und natürlich. noch besser wäre „die giudecca’sche mutante“. wie schön, und mit stets pfiff, welch‘ großes genesenes glück.

aus meiner Sammlung #2

Lotte Gützlaff 1 Lotte Gützlaff 2

(Abb.: aus meiner Sammlung #2, Lotte Gützlaff, 2 original Scherenschnitte mit handgeschrieben ergänzten Versen, ca. 1920er Jahre)

Herr und Frau Neumann wohnten im Vorderhaus 1. Stock links in der Gotenstraße auf der Schöneberger Insel, nahe dem Gasometer. Sie war eine sehr zierliche und eher zurückhaltende Frau, immer recht freundlich, kein Wunder, denn Herr Neumann war ein Polterer vor dem Herrn. Alles, was ich über die Jahre hörte, ist, dass Herr Neumann als aus Schelsien Vertriebener irgendwann in Berlin gelandet war. Demzufolge nach dem großen Kriege, also in den spären 1940er Jahren und fortan und Zeit seines Lebens im Hause gewohnt hatte. Herr Neumann konnte mir noch erzählen, dass damals in der Nachkriegsnot eine Kuh im Hinterhaus Parterre gehalten wurde, vielleicht waren es auch zwei Kühe gewesen. Herr Neumann war weder groß noch klein, aber er war dick und meist etwas zu laut, wenn er denn etwas sagte. Wenn man ihn traf, dann wusste man aber nie, ob er etwas sagen würde, oder ob er einen ignorierte. Irgendetwas mit Spedition hatte er gemacht und war wohl recht erfolgreich darin gewesen, denn an Geld mangelte es scheinbar nie. So erzählte man es sich im Haus. Die Kinder, auch die Kirschkern, bestaunten ihn und hatten doch gleichzeitig Angst vor ihm, wenn sie unter seinen Augen unten im Hof spielten. Aus dem Fenster habe er ihnen manchmal Geldmünzen zugeworfen, was sie, die Kinder, natürlich freute und ein großer Spaß war. Herr Neumann war ein bisschen unheimlich, oder eben vielleicht doch nicht, man wusste das nicht so recht. Zu Ostern beobachtete ich ihn einmal aus dem VH Hochparterre rechts, wie er mit einer lange Stange bunte Plastikeier in den Baum neben den Mülltonnen hängte. Noch jahrelang hingen die da, vielleicht sogar bis heute. Irgendwann hatte er sich ein knallgrünes Quad gekauft. Das parkte er stets direkt vor der Eingangstüre auf dem Trottoir. Seine Lieblingsbeschäftigung war es, sich mit Clownshose, roter Pappnase, Hüten und Federboas aus Plastik zu verkleiden und dann – so erzählte er mir einmal – zum Brandenburger Tor zu fahren und sich dort zu postieren für Touristenfotos. Ich möchte nicht wissen, auf wie vielen Fotos irgendwo in der weiten Welt Herr Neumann auf seinem kreischgrünen Quad vor dem Brandenburger Tor abgebildet ist und Japaner angrinst. Und ihnen währenddessen die verrücktesten Geschichten erzählt.

Irgendwann vor ungefähr 17 Jahren mistete Herr Neumann in seiner Wohnung aus. Vielleicht war er im Unwirsch gewesen, hatte Gedanken an Vergänglichkeit von Werten oder Pipapo gehabt, oder er hatte einfach nur diese zwei Bilder, nach Jahrzehnten, satt. Jedenfalls bemerkte ich an einem sonnigen Tag im Mai (ich glaube, es war Mai), wie er einige Male die Treppe hinunter und an unserer Wohnungstür vorbei in den Innenhof marschierte, um allerlei Dinge in die große rollende Restmülltonne zu werfen. Als ich kurze Zeit später neugierig nachschaute, fand ich dort zu meiner Überraschung diese zwei original handgeschnittenen Scherenschnitte von Lotte Gützlaff aus den 1920er Jahren, sogar noch im originalen Rahmen. Die ich natürlich sofort als wertvolles Kulturgut barg und mein Glück kaum fassen konnte. Dazu übrigens noch einen hässlichen alten gusseisernen Elektrokronleuchter, den ich bereits eine Woche später auf dem Flohmarkt am Arkonaplatz an britische Touristen („amazing!“) für etwas überteuerte 80,00 EUR verkaufen konnte. Der Arkonaplatzflohmarkt war – aus Verkäufersicht – stets Gold wert, vor allem wegen der internationalen Touristen, denen die Geldbündel locker saßen. Auch die Kirschkern hatte nach solchen Flohmarkttagen schon grössten Spaß am abendlichen Scheinezählen, einer Art Vorschulmathe.

Es ist mir immer noch unerklärbar, wie geringwertig auf dem Kunst- und Antiquitätenmarkt die Arbeiten von Lotte Gützlaff gehandelt werden. Alle reden von Lotte Reiniger, kaum jemand von Lotte Gützlaff. Alle Scherenschneiderinnen heißen wohl „Lotte“. Ich jedenfalls mag diese zwei Arbeiten sehr. Die Rückwand habe ich mittlerweile gegen einen säurepuffernden Karton ausgetauscht, damit sich das ganze Papier nicht selbst zerfrisst.

Herr Neumann starb, kurz nachdem ich mich aus biografischen Gründen verkleinern hatte müssen und nach Neukölln gezogen war. Ich glaube, das war so um 2010 oder 2011. Seine Frau wohnte noch eine Weile in der gemeinsamen Wohnung, bevor auch diese dann an reiche Kanadier verkauft wurde, die solche Wohnungen seinerzeit „aus der Portokasse“ bezahlten. Wohin sie gezogen ist und ob sie noch lebt irgendwo, ich habe keine Ahnung. Sollte sie dies hier lesen, so grüße ich Sie herzlich! Nie vorher hatte ich jemals innerstädtisch so schön und nachbarschaftlich angenehm gewohnt und gelebt, wie auf der Schöneberger Insel. Auch deshalb haben diese zwei Arbeiten, die zu mir kamen durch einen höchstgöttlichen Zufall, eine ganz besondere Bedeutung für mich.

4.5. nbg.

mal in der weiten weltgegend herumschreiben, ohne dieses dauerthema. auch ohne die schöne abendglocke, die irgendwo läutet. oder die schöne eine arbeit und ihre befunde im vergangenen. oder die andere noch schönere arbeit, die bildlich-herstellend und bannend. oder die kinder, die keine mehr sind. oder das auto, dessen zahnriemen nun erneuert wurde. oder die natur, die ewigen vögel, die spezielleren tiere, die ebensoewigen zecken. wenn alle, die nun vorgeben, ihre eltern oder großeltern zu betreuen, um damit flinker geimpft zu werden, tatsächlich ihre eltern oder großeltern pflegen würden, dann hätten wir keinen pflegenotstand. (sehen sie, da wars schon wieder.) / gestern und heute arbeitete ich auf einem schlanken hubsteiger, alleine im körbchen und ganz weit oben. vor mir eine hochtechnisierte fernbedienung, das war ein kleines abenteuer. und auch sicherlich ein insgeheimer selbsttest, der aber funktionierte, sonst würde ich jetzt ja nun nichts schreiben mehr können. heute allerdings hatte ich mich zur besten vesperzeit festgefahren in zwölf metern höhe. die maschine nämlich funktioniert nach ausgeklügelten physikalischen gesetzen. gravitation eben. dann muss man nachdenken, wie man da wohl wieder runterkommt und welche der hydraulischen arme man in welcher reihenfolge wie bedienen muss. außerdem möchte man ja nicht an romanischen kapitellen hängenbleiben oder an gotischen altartafeln. schließlich verinnerlichte ich irgendwie aus dem bauch heraus, ich musste mich zunächst wieder nach ganz oben ausfahren, den korb anders neigen, den mittleren arm drehen, um dann anderswie irgendwie hinab zu gleiten. aber wenn man runter will, und die maschine pfeift und piepst und will nicht und man merkt, dass das nicht geht, dann dräut einem schon mal kurz die fast-risikogruppendüse. (sehen sie, das war’s schon wider.) man muss sich diese maschine wie einen halb- und anderweitig prozentual geknickten zollstock vorstellen. oder wie einen nach hinten gebogenen zeigefinger: was nicht geht, geht eben nicht. man muss nur wissen, wie es dann doch geht. oder fühlen und empfinden. auch maschinen kann man empfinden zuletzt. wie im echten leben eben, irgendwann kann alles auch kippen und man muss alles dicht machen (sehen sie, da wars schon wieder.) / was schreiben, mal ganz ohne pointen. ohne schnaps, schweiß, schwipps oder schwere. vielleicht mal was über sex, oder lymphozyten oder außengastronomie. oder erasmus und paris. bitte bloß nichts über patchwork, geschlechterbilder, kanzelkultur oder geschlechtssternchen. apropos: neulich fiel mir ein, nach einem sehr komisch düsteren und vulvatischen ölbildchen spätabends (über das auch ich mich wunderte), welches ich alsbald verwarf, ohne es jedoch sogleich zu zerstören resp. es zu übermalen (es trocknet jetzt erstmal so vor sich hin), dass ich schon vor jahren den gedanken wenigstens EINMAL zugelassen hatte, dass DER tod ggf. ja auch weiblich sein könnte? / ach wo, muss man ja über alles weder nachdenken, noch reden, geschweige aufgreifen, abgreifen oder mit „#“ versehen. lieber auch mal schlichte berge und horizontlinien, abgemischt, da könnte man auch drüber schreiben. oder uralte feinde und wie es ihnen jetzt wohl gerade geht, sofern sie noch leben. während man einstige und nunmehr verjährte gerichtsakten wegwirft. oder gebrauchsspuren auf holztischen, die einmal im zentrum vom leben standen. und was die einst kosteten und woher einst das holz gekommen war. und wer einst auf diesem tisch lag, ohne klamotten, gut oder schlecht gelaunt. vielmehr doch, wo diese möbel jetzt stehen. wir sollten vielleicht wieder mehr beschreiben, wie die vorhänge wehen oder die rolläden ihr licht werfen. oder, wo es einen gerade juckt ganz flüchtig (z.B. Schulter) oder über den istzustand der schuhe, und zwar, ohne sogleich zu erwähnen, wo diese schon überall mal gewesen waren (italien, bronx, belarus, ätna etc.). ansonsten wird die welt irgendwann an geschichten ersticken und das wollen wir ja grad überhaupt nicht.

18.4.2021

Moderne Zeiten

Was ja aber auch ganz schön ist, ist das Wiederlernen vom Augenlesen. Wenn der Rest der Mimik verhüllt ist, sind die Augen ja das einzige, was bleibt an Einschätzung von Kommunikation. Immer wieder fällt mir nun auf, wie sehr doch die Augen nicht lügen können, auch wenn der Rest einer Person es vielleicht gerne täte. Oder wie sehr sie, die Reste und die Augen, versuchen, in der Gegend herum mir Stiefel oder Pferde zu erzählen. Der direkte Draht ins Hirn scheint maskiert wunderbar unverbaut. Das gefällt mir sehr. Auch wenn es ja temporär traurig ist. Und wie wenig im Grunde doch die Restkörpergestik ausrichten kann gegen die Augen. An den Augen kommt keiner vorbei. Konzentrat auf’s Wesentliche, ohne seminarerlernte Schnickschnack-Strategien. Wie es Anderen wohl mit meinen Augen ergeht, frage ich mich, vor allem wenn ich vom Pferd erzähle.

Jemandem, der erblindet ist, dürfte das aber wohl eher piepegal sein.

Ich spüre das: Viele meiner mir Lieben denken ab und an, wenn sich der Schneck das C. fängt, „dann stirbt der sicher“. Weil ich immer noch Zigarretten rauche. Das berührt mich natürlich. Aber kaum einer meiner mir nichtrauchenden Liebenden kann sich vielleicht vorstellen, dass auch ich große Angst haben könnte, dass ein Nichtraucher aus meinem nächsten Liebstenkreis stürbe. Oder eine Nichtraucherin. Anstatt mir.

Und hingegen ich da, ggf. ohne großes Pipapo, aus der Sache rauslatsche. Könnte ja sein. Alles sehr spannend gerade, tagtäglich.

Es ist schon sehr verschoben und wenn das Aussen verschoben, so denke ich oft an meine frühen Jahre im großen Wald und an grundsätzlich ebenda Erlerntes. Wenn es zu rutschig war auf dem alten Baum, beispielsweise, oder dieses schon lang verstorbene Holz, das einst in irgendeinem Sturm noch vor dem Klimawandel oder der Wiederbewaffnung oder dem Zuzug von Gastarbeitern aus Jugoslawien über den tiefen Bach gefallen war und dort seit Jahren in vier Metern Höhe uns zum Hinüberbalancieren einlud, zudem moosbewachsen, zu gefährlich zum Tänzeln an das andere Ufer erschien. Dann mussten wir uns eben entscheiden. Noch vor der Abendglocke um 19 Uhr, die zum kargen Abendessen (Mehlsuppe) rief. Oft übrigens auch gemeinsam, und in einer sonderbaren frühen Vernunft noch im einstelligen Lebensalter. Um dann notfalls diesen schönen Kadaver zu umgehen, auch wenn das Umgehen sich den jungen Cowboys und Indianern grundsätzlich ja nicht ziemte.

Wie Lottospielen, so hört man, so tun viele auf den Baustellen. Wider besseres Wissen. No Abstand, no Maske, no Problem. Wahrscheinlich alle schon geimpft. Auch so kann man ja an die Dinge herangehen: „Lebe wild und gefährlich“, so eine beliebte Postkarte mit einem selbstbewussten und mit Fliege bekleideten herzlich dickbackigen Bub als Motiv in Schwarzweiss. Aus den 1980ern, gerne Berlin-Kreuzberg. Ach, Berlin.

Vor ein paar Tagen träumte ich mittags, ich sei ein netter Polizist. In Stuttgart, ausgerechnet Stuttgart. Und ausgerechnet ich. In der Stadtbahn auf dem Heimweg aber schien es mir zu gefährlich, meine hübsche Jacke mit hinten drauf „Polizei“ anzubehalten. Entledigte mich also und drehte das Futter nach außen. Lieber würde ich eigentlich von Bad Wörishofen, Amrum oder Maloja im Engadin träumen. Oder von Augen ohne Masken. Am schönsten aber blieb mir diese wärmende Jacke mit Aufschrift. Ich wär‘ gern ein guter Cowboyindianer geworden, stets bereit für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Weltfrieden.

„Jeder zahlt selber“. So heissen div. Arbeiten aus 2002, das war die „Molle mit Futschi“-Zeit, kleine Aquarelle aus Neukölln. Derzeit eine neue Serie bildnerisch „Rette Deine Seele“, entnommen einem alten Missionskreuz, die Aufschrift geschnitzt um 1893. In der Dokumentation des RBB über die Intensivstation der Charité machen sie immer ein Fenster auf, wenn jemand stirbt. Damit die Seele rauskann. Sie sei „21gr“ schwer, sagen eine namhafte Künstlerin sowie Untersuchungen diesbezüglich. Habe aber keine Lust, dem weiter nachzugehen, lieber weine ich mal leise und schau in den Himmel, Seelen beobachten.

Sie sollen doch endlich bitte die Außengastronomie aufmachen. Damit man wenigstens ein besänftigendes Bier trinken kann zum Feierabend, abends und draußen und sich all das revuepassieren lassen kann. Hand in Hand. Ohne immer an unverschämte Judensterne mit „nicht geimpft“ oder dergleichen denken zu müssen, und das auch noch nach 21 Uhr oder an abdriftende Zeitgenossen aus dem Künstlerkreis, die vorgeben, die Demokratie retten zu wollen. Die sich das alles zu Nutze machen in ihrem – pardon – verkackten Superego, aber eigentlich doch nur Schiss haben vorm Sterben. Mitunter erbärmlich.

Jeder tut halt, was er kann. Oder sie. Bei jedem Bild, das ich derzeit raushaue, denke ich, ich möcht‘ es eigentlich Frau Mullah, der Kirschkern oder den Jungs aus Afghanistan zueignen. Oft gerade expressive Wolken mit Pfiff. Ziemlich hingerotzt. Das ist gut so, der Schöpfung ganz nah. Fördert alles die Malerei, die Künste, den Herzkreislauf sowie vor allem das Weltgedächtnis.

das BÖSES

die alte dame hatte ja immer „schnibbeln“ dazu gesagt, sie, die sie ihr ganzes leben lang so oft es denn eben ging in der prallen sonne lag und dies mit zunehmenden und später auch hohen alter durch diverse zu entfernende hautsachen büßen musste, was sie aber stets in kauf nahm. „ist wieder was BÖSES“, sagte sie oft lachend. ich selbst war nie so der stundenlange strandtyp, auch nicht in kindheit und jugend, außer ich konnte, wie seinerzeit irgendmal in cuxhaven, meinem frisch entdeckten schüchternen interesse an der beobachtung von bikinis nachgehen, oder sogar dem oben-ohne, wie damals noch weit verbreitet, aber das war schon fast zuviel und ich wurde rot, auch ganz ohne sonne, im gesicht. schön war das trotzdem gewesen. / nun also hatte die hautärztin, in deren praxis ich unzählige male die alte dame bei diversen schnibbeleien begleitet hatte, auch bei mir so ein schnibbelding entdeckt. nichts schlimmes, aber man müsse es wegmachen, da es BÖSE sei und weil das eben immer größer werden würde, so über die jahre, und dann müsse man eben immer mehr wegmachen, daher lieber jetzt. sie würde das ja selbst machen, wenn es denn nicht an der unterlippe wäre und ich 30 jahre älter wäre. so schmeichelte sie mir. „wegen der kosmetik“ und lachte. „danke“ dachte ich mir, sehr nett. drei tage würde das wohl dauern, und ich fragte erstaunt nach dem warum dreier tage? / die schneiden das weg und nähen noch nicht zu, dann braucht die histologie zwanzig stunden und dann sagen die, ob alles weg ist. wenn nicht, dann müssen sie tags drauf nochmal schneiden. und so weiter. erst wenn dann alles weg ist, dann nähen sie wieder zu. / begab mich also stationär in die nahe universitäre hautklinik, um erst einmal einen C-schnelltest und einen PCR obendrein zu absolvieren. sodann ins zimmer mit einem sehr alten mobilen und obendrein netten bettnachbarn. schließlich, gegen frühen nachmittag, wurde ich ins OP beordert, wo sogleich einen routinierte örtliche narkose begann, durch mannigfaches in die mundgegend-pieksen. alles wurde darin vollgepumpt und mein gesicht und lippe immer dicker, ich dachte, ich müsse bersten. es ist nicht schön, wird man neben der unterlippe gestochen. in dieser gegend läuft ja das ganze leben quasi zusammen, geschmack, liebe, odem, dasein, wolllust und abscheu. am ohr wäre es sicherlich nicht so schmerzhaft gewesen. dachte ich mir. / der narkotiseur meinte liebevoll „schön, dass sie sich jetzt selbst nicht sehen können“. schließlich war ich also wohl bereit fürs schnibbeln und wurde in ein anderes zimmer gefahren, wo eine krankenschwester den blutdruck von 160 zu 90 an mir maß. ob ich denn vielleicht doch ein kleines „sektchen“ haben wolle, meinte sie freundlich, und ob ich wohl ein bisschen aufgeregt sei? ich bejahte vehement, sie stach mich und ich dämmerte dann, nach sektchen, so ein bisschen weg, ohne den eigentlichen operateur – einen ausgewiesenen fachmann auf seinem gebiet, wie mir mehrfach zu ohren gekommen war – überhaupt zu gesicht bekommen zu haben. / ich glaube, man könnte mir den fuß abhacken, das würde mir weniger ausmachen, als im gesicht fünfzig mal gestochen und sodann ebenda geschnibbelt zu werden. / nun dachte ich, alles wäre überstanden und ich müsse noch bis zum folgetag um die mittagszeit abwarten, um schnell wieder zu hause zu sein. am zweiten tag dann war ich wohlgemut, bis eine junge drahtige stationsärztin lächelnd als überbringerin der von ihr selbst verkündeten „schlechten“ und damit BÖSEN nachricht ins zimmer spazierte: nein, es sei noch nicht alles entfernt, sie müssten heute nochmals schnibbeln. „stellen sie sich einen kuchen vor in stundenform – zwischen 12 und 3 müssen wir noch weiter entfernen.“ das habe das dreidimensionale ergeben. / obwohl schon alles zugenäht. / allein die vorstellung einer gerade verheilen zu beginnenden wunde, die nun abermals geöffnet und bearbeitet würde, die ließ mich verzweifeln. ich war sehr unglücklich. sie würden das ja mit einem speziellen 3D-verfahren begutachten, dass es anderswo gar nicht gäbe, so dass eben punktgenau alles BÖSE entfernt werden könne, ohne zu viel wegzunehmen. wegen kosmetik, gesicht, lippe und odem, dasein, abscheu und wolllust. / und wieder lag ich im operationszimmer, ein weiterer maskierter jungnarkosearzt stach mich schwungvoll ins gesicht und verabschiedete sich mit „alles gute ihnen!“ in seine mittagspause, während das gerät vollautomatisch sein zeug abermals in mein gesicht pumpte, mir wurde kalt, niemand war da sonst außer mir und die maschine pumpte und pumpte, mehr als vortags und irgendwann dachte ich, meine lippe und das angrenzende gesicht würden gleich platzen. / im anderen zimmer, bereit zum schnibbeln, bat ich diesmal sofort um das „sektchen“, der „zugang“ lag ja noch gottlob, und diesmal sah ich den operateur, ein recht junger und wirklich netter spezialarzt. dann dämmerte ich und stellte mir mich am strand in praller sonne vor. alle waren nackt, keine bikinis oder moderne badehosen. / zurück im zimmer erzählte mir mein neuer bettnachbar, ein im strafvollzug beschäftigter endvierziger aus dem badischen, dem ähnliches an seiner augenbraue-links bevorstand und der es tagtäglich mit massenmördern zu tun hat, dass er gehört habe, dass diese prozedur des nachschnibbelns bis zu fünfzehn mal stattfinden könne. eben so lange, bis sie alles BÖSE erwischt hätten. / mir schwante übel und wurde ebenso. sollte das prinzip von operationen, demnach man zunächst den BÖSEN eingriff habe und danach der prozess der inneren und äußeren bewältigung und steten besserung beginnen würde, im besten falle mit einem happy-end, hier durchwirbelt werden? ein auf und ab, abermals wieder und wieder? ja, das scheint in diesem falle logisch. der kosmetik und begrenzung der deformation zugunsten, allerdings ein psychisch herausfordernder schmerz- und geduldsprozess, nicht unbedingt analog menschlicher grundempfindungslinien. / ich beschloss also, von nun an eher der schlimmen anstatt der guten geschehnissverlaufslinie den vorzug zu geben, ganz anders, als ich es gewohnt bin. aus schutz vor dem selbst. ich war mir also lieber sicher, auch am folgenden tag würde noch etwas BÖSES übrig geblieben sein. / um es jedoch kürzer zu betrachten: dem war nicht so. ich konnte es nun, da ich mich innerlich umgedreht hatte in meinem defektverlaufsdenken, kaum glauben. nur einmal nachschneiden. dabei hatte ich mich doch schon innerlich auf ein weiteres mal eingestellt. aß noch schnell das bereits an mein bett gestellte pürierte spezial-essen mit süppchen („Schluck2“) und verließ in windes eile das krankenhaus, so glücklich, wie lange nicht mehr ich war. / über ausreichend demut verfüge ich ja bereits selbsteinschätzend, aber dieses erlebnis gab diesbezüglich nochmals einen schub. und sowieso: es gibt ja wahrlich schlimmere dinge, als einen gutartigen knubbel an der linken unterlippe, auch wenn diese arten von knubbeln bereits als „tumor“ bezeichnet werden. / empfehle also allen, einmal im jahr ein haut-screening durchführen zu lassen. einfach so. / ein paar stunden später ließen sich frau mullah und ich ob dieses glückes in der modellstadt tübingen testen und gingen mit persilschein in außengastronomie maskenlos einen kaffee trinken. meine lippe schwillt stetig ab und im arztbrief las ich heute, wieviele subkutane nähte und ausgleichsgewebe, woher auch immer, in jenen halbstunden, da ich sektchen genoss, mikroskoisch an mir und meiner rechten unterlippe vorgenommen wurden, um 4mm tiefe und 14x14mm gesamtfläche des BÖSEN irgendwie wieder hinzubasteln. schau‘ ich in den spiegel, dann sehe ich da nicht etwa ein loch, auch keinen krater, sondern nur zwei dünne fädchen, die in acht tagen von irgendwem gezogen werden sollten. die anderen lösten sich von selbst auf, so steht da. / und das alles in COVID-zeiten. ich versteh vieles nicht mehr, hinten und vorne, oben und unten, links und rechts, diagonal und gegendiagonal. also schräg links und rechts. dabei dachte ich doch immer, man würde mehr verstehen mit zunehmendem alter. wie nah man sein kann und wie fern. zu gleicher zeit und gedehnter zeit. allein wegen des schmerzes. so einfach, so banal, so unsagbar einfach und doch immer so wichtig. das ist ein defekt. ein defekt wäre ja fast schön, besser noch, als ein prinzip. es scheint aber ein prinzip. / ach, wie gerne hätte ich fortan eine hafenkantenschlägereinarbe vor mir hergetragen, unterlippe rechts, in der fressegegend. schon einfach nur und alleine deshalb, um das BÖSE, nun meinerseits, auch mal ein bisschen zu erschrecken. / stattdessen brasilianische mutanten. ich wollte immer noch mal eigentlich nach buenos aires. (27.3.2021)