Tageb. 7.3.22

ascona

(…) Habe ja nun doch den VHS-Schnellkurs „Das Maschinengewehr – Gebrauch, Wartung und Pflege, 3-tägiger Praxiskurs für reuige Ex-Kriegsdienstverweigerer im herrlichen Schönbuch. Wir treffen uns an der Friedenslinde im Gewann Wolfenlöchle, Beginn jew. 5.45 Uhr“ abgesagt. / Auf dem Autobahnweg zur Zweitberufsbaustelle gestern Abend fiel mir deutlich eine allgemein verringerte Durchschnittsgeschwindigkeit auf, auch im Mittelklassesegment. Im Vergleich zur Vorkriegszeit. Ein Tempolimit durch die Hintertür, auch recht. Auch wenn es meinen Beutel natürlich schmerzt, dieser Liter Diesel 2 Euro. Langsam fahren als ein Beitrag gegen die Kriegskasse des Verbrechers. Solidarität durch Tempo 110, schön. Viele Fliegen, eine Patsche. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir das russische Gasheizungsgas und das russische Ölheizungsöl, angeblich ja rund 50% des bundesdeutschen Lieferbezuges, wie ich erstaunt neuerdings vernahm, ersetzen. Auf die Schnelle. Bevor er’s uns abdreht. / Das kann ja was werden. / Spinnweben – meine Güte Spinnweben. Wenn man sie wegmacht, dann sind sie sechs Wochen später wieder da. Ähnlich ist es mit dem Staub und der Asche. Und Totgeglaubten. Und leeren Kühlschränken und Tankfüllungen. / Frau Mullah hat jetzt Corona. Und obwohl wir – noch unwissend – gemeinsam und schön unterwegs waren, habe ich es nicht. Bisher. Meine Tests wollen auch nach sieben Tagen einfach keine zwei Strichlein bekommen. Ich bin nicht stolz darauf, sondern einfach nur froh. Auch das PCR für 75 Euro erteilt Absage. Eine Isolierung innerhalb einer Innigkeit ist schlimm. Das merkt man dann ganz schnell. Ich schlafe auf der Waldrandbaustelle und wir telefonieren. Übrigens – mich hat allein die Testorganisation und die dadurch nicht wahrgenommene geldwerte Arbeitszeit an einem Tag mal eben 350 Euro gekostet. Verdienstausfall bei Selbstständigen. Wenn Du nicht arbeiten kannst, dann verdienst Du eben kein Geld, ganz einfach. Dies an die Adresse von selbstverliebten C-Spezialisten im Angestelltenverhältnis. / Mir geht die derzeitige Tageskälte und der sonst so geliebte Ostwind langsam auf den Zeiger. Er kitzelt meine Schimpfbereitschaft. Klartext, oder wie früher, Titten auf den Tisch! Wir können auch anders, die Zeiten sind rauh und sie werden hart. / Zwischendrin im Atelier temperierende Übersprungsbilder in weichem Öl auf altzarter Pappe, zum Beispiel „Abend in Ascona“ oder nochmals sicherlich demnächst eine „Große Düne in Nidden“, „Winterliches Odessa“ oder ähnliches. Was hat man denn noch sonst, außer den samtenen Subjektivitäten, landregengleich, als kleine private Temporärflüchtchen ganz verinnerlich inmitten von Stahlwettern jeglicher Art. Von überall her. Im Wind sich wiegende Kornähren, der ganze Mist eben. / Dies, während andere bereits jetzt alles verloren haben und in entblößter Flucht. / Abb. zeigt: „4.3.2022Abend in Ascona“, 2022, 21x21cm, Öl/Lack/Schreibmaschine auf Pappe / © div.

erster maerz ukr

mir fällt nichts mehr ein, alle sprache ist mir perdu seit fünf tagen, die geschichte der letzten jahrzehnte, die auch die meine ist, mitsamt meiner träume besserer welten hat sich in noch nicht einmal einer woche vollständig zurückgedehnt. ein älterer mann einer anderen epoche mit problemen an den sexualhormonen hat sich zu diesem verpuffenden theater entschlossen. er will es wohl noch einmal, ein letztes mal, wissen und sollte es nicht klappen mit seinen wahnhaften vorstellungen, dann wird er eben die halbe welt tosend mit hinab in sein grab nehmen. vor 40 jahren traf ich in sehr ähnlicher situation einige für mich grundlegende entscheidungen. das ist auch der grund dafür, weshalb ich bis heute nicht weiss, wie man ein maschinengewehr bedient. wie gerne würde ich es nun wissen, nach langen jahren schmerzhafter erkenntnisse über die ewigen wiederkünfte, die nun derzeit eine endsumme formulieren. aber vielleicht ist es besser, dass ich es nicht weiss. ich wollte es erst gar nicht können. ich sollte mich besinnen. denn was ich seit damals hingegen weiss, ist, wie man querschnittgelähmte junge und alte männer kathetert, wie man ihnen ein kondom mitsamt schlauch zum ablauf der flüssigen ausscheidungen an den penis klebt, wie man ihnen tatkräftig beim abführen hilft und wie man bei all dem die schmerzhaften peinlichkeiten von gefühlen und gerüchen überspielt, wie man ihnen, egal ob mann oder frau, ihr gebiss einsetzt, weil sie es selbst nicht mehr können, wie man sie am besten füttert, egal ob sehr jung oder alt, und wie man vor allem ihr leid mitträgt, wenn sie nachts weinen, meist leise, wenn sie sich noch nicht einmal mehr alleine das leben nehmen könnten, sollten sie es wollen. und wie man sie in einen rollstuhl setzt, natürlich. aber was nützt mir das alles nunmehr, in dieser jetzigen weltsituation. vielleicht hätte ich damals, vor vierzig jahren, eben doch einfach schießen lernen sollen.

Rückbau ’22

schlacke 1
schlacke 2
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Abb.: Selbst als Kumpel (*Glück auf!), 16.2.2022, nach Rückbau/Bergung div. radioaktiver Schlackeverfüllungen der Zwischenböden OG/EG während Gesichtsreinigung mit Neutralseife im UG/Atelier. Draußen weht Sturm, dort auch die Ost-Süd-Ecke ist nun gerodet und die Eibe gefällt, sie wurde ca. 38 Jahre alt, vgl. Jahresringe. Man kann das Haus nun auch von außen wieder erkennen, nur der Efeu muss noch, der klammert immer so. Das fossile Zeitalter der Gebäudewarmhaltung in Öl ist seit bereits drei Wochen endgültig demontiert und damit eine Epoche beendet, der alte Erdtank ist stillgelegt und gereinigt, man könnte da jetzt wer weiß was lagern. Und wenn nicht das Virus zur unvorhergesehenen Baupause der Heizung/Sanitär seinen Beitrag geleistet hätte, dann könnte man. Denken und Hoffen. Dass es bald mal wieder warm werden würde im Gebäude, so auch v.a. im Atelier. Bevor zu Bett dort stets eine randvolle Wärmflasche derzeit, den Püster (elektro) noch so lange wie möglich in Richtung Bürotisch. Ölmalen und sonstiges unmöglich, zu kalt ist es einfach, sieben Grad, eher sechs. Später einen Termin mit Zimmermann und Architekt wegen baldiger Änderungen von Raumhöhen und damit Neuschaffung eines wunderschön bewohnbaren Dachraumes. Mit dann herrlicher Aussicht auf blaue Mauer. Mir gefallen die Fotos, endlich mal wieder lustig. Renovierung ist Skulptur, WIR ja ohnehin meist auch. Es gibt wenig, was sich nicht lohnt oder gelohnt hätte, mindestens skulptural oder wenigstens gedanklich verinnert, nachschaulich.

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und sonst: WAR auf loge, sah paar opern, schöne musiken im öhrchen über tiefen tälern, die nicht meine sind, jedoch ich verstehe. gut angezogen war ich längst lange zeit. immer noch nehmen besucher ganze hände nach kleinfingern. ich muss da, ebensogleich, noch weiterüben. im rückbau, mit meinen kleinen händen. dies verärgert alter ego mitsamt mir sowie meinen naiven restkörper. schön aber, dieser neuartige gruß: handknöchel gegen handknöchel mit blick in augen. sehr männlich. am besten die augen über glänzender schwarzmaske FFPzwo. wie zorro. fehlender schnee verhindert Z-pinkeln, aber es gibt ja alternativen, kunstschnee, gute mienen und böse spiele. mir sind echter schnee lieber, ebenso echte böse mienen und gleichschöne spiele. die zweite hälfte meines neunten jahrsiebtes stellt sich überfällig ein, ich sollte daher nicht mehr alles mitkaspern vielleicht, geschweige muss, auch wenn gut angezogen, oft aus tiefer überzeugung freundlich und allem möglichen unfug durchaus empathisch grundsätzlich und von herzgegend her mitfühlend zunächst zugewandt und sogar humorbereit veröffnet ich sein mag. in meinen vorstellungen vom an-, un- und schlichtem erzogensein. die maskierungen könnte man meinetwegen gerne beibehalten künftig, auch wenn diese spezielle grippewelle vorrüber ist und alle medizinischen problemgruppen vom tisch.

manchmal dauert schpontan längger.

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ich war noch nie in lissabon, in rijeka, in glasgow, in madrid, auf sizilien, in warschau, bratislava oder prag, auch noch nie in brüssel, brügge oder gent, geschweige antwerpen, nicht in oslo oder helsinki, noch nie in der camargue, nicht in marseille oder nizza oder monaco, auch nicht in der arena von verona, nie in montenegro oder dem kosovo (obwohl: vielleicht mal nachts jugoslawisch durchgefahren autoput 1979 mit VW bus „bully“?), in slowenien nur mal ganz kurz, nie aber in graz oder in budapest, auch nicht bukarest oder sofia, auch nie in istanbul oder ankara, weder auf zypern noch ibiza, auf jersey auch nicht, nicht in bordeaux oder lille, weder in der bretagne noch auf mt. saint michel oder am D-day-strand, durch genf nur durchgefahren, auch noch nie in turin oder odessa oder kiew, nicht in st. petersburg und nicht in moskau, weder in süd- noch mittelamerika, auf kuba nicht, auf teneriffa nicht, nie auf malta oder in marokko, auch in ägypten oder kanada war ich nie nicht, ebensowenig hawaii, kiribati, neuseeland oder australien, auch kein indien oder thailand, in schottland auch noch nicht und auch nicht in japan oder china oder südafrika.

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stattdessen diese inneren reisen. seit ich denken kann. / die kirschkern sagte als kleines kind oft vor ihrem einschlafen, wenn man noch gemütlich neben ihr gelegen war und ein wenig vorgelesen oder erzählt hatte, „…und jetzt, JETZT mach‘ ich mir noch eine geschichte…“. dann drehte sie sich zur wand und zu sich selbst, man kroch leise aus dem bett, löschte das licht und dann schlief sie irgendwann ein. für mich waren dies momente voll schwergewichtigem glück, stillständig beinahe spiritueller ruhe, beruhigtheit und allumfassenden geborgensein, wie ich es bis dahin oder auch später danach fast niemals jemals nochmals oder vormals erlebt hatte und habe.

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MAN muss sich ja jetzt stemmen gegen diese pandemische vereinzelung und die rückzüge allerorten. ich bin nicht frei davon. der spiegelsaal des vorhergehenden masken- und testlosen lebens kommt nieder mit blitzen. diese anstrengungen, damals bis vor zwei jahren, immer, diese aufwände, diese geselligen haftigkeiten, oft halbzwang. ich könnte derzeit jederzeit im wald verschwinden mit einem kleinen köcher voll von strohhalmen, mir wär‘ so danach. keine unsäglichen ausstellungen mehr, weder machen noch ansehen, keine schwierigen dialoge, oft angestrengt, berechtigt, kompliziert, bemüht, schwer und fällig. natürlich auch schön, aber stattdessen nun die füße hoch im gras, schnee oder wald oder am bergtal. und einfach die wand oder ein regal oder einen haufen von zeug und komischen dingen ansehen. es könnten auch blödsinnige dinge sein, sehr gerne. oder den wald, oder die bilder an einer wand, von bergen, tälern, schnee oder obstwiesen oder sonstigem inhalt. alles ist immer so inhalt. es gibt einfach zuviel inhalt. dazu noch überall. das überfordert mich. viel lieber wollte ich eine kleine sexy wolke sein, auf dem rücken liegend, ein weisses nackidei kleinwölkchen mit halm im mundwinkel, und um die inhalte dann sollen sich die anderen kümmern und scheren. und diese dann aufgeregt abregnen, wo auch immer.

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die kaiserburg zu nürnberg wurde im letzten großen krieg zu siebzig prozent zerstört. also gibt es auch in der kemenate, den beheizbaren frauenzimmern, oberhalb des EG, nichts mehr zu finden, was älter als siebzig, eher fünfzig jahre alt sein könnte. / und viktor, der ungefähr dreiundsechzigjährige russlanddeutsche mesner der orthodoxen kirche, er mit den tätowierungen auf den fingerrücken und dem silbermetallic tiefergelegten coupé „BMW-performance“, erklärte offenbar mit einer körpersprache seines zeitlos entspannten bedauerns immer dann, wenn sich das ende des gottesdienstes mitsamt der möglichkeit der bewahrenden arbeiten einmal wieder verzögernd nach hinten verschiebt: „Manchmal dauert schpontan längger…“ / kollege F. hat mir das eingehend und dankenswert beschrieben. ein sehr schönes und zeitbezifferndes zitat und äußerungsfragment, passend irgendwie zur gegenwart. und geeignet nebenbei auch zur allübertragenen und durchaus auch völlig profanen generalanwendung von gelassenheit per se. /(probieren Sie’s aus.)

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als erstes will ich, so glaub‘ ich, nach scottland. danach buenos-aires. aber manchmal dauert spontan länger.

vaccine pussy

vaccine pussy

Die zweite Mulde steht nun unten an der Straße. Neulich wurden bereits 1,06 Tonnen mit Altholz A I-III abgefahren. Jetzt sogenannter „Baumischabfall, schwer“. Ich frage mich, was geschieht, wenn es regnet oder schneit. Würde eine Durchnässung dann mitgewogen und abgerechnet? Das Altholz hatte ich alleine vom Zwischenlager im Vordergarten – auf dem damals eigens für die wasserfeste Tischtennisplatte aus Eternit mit Betonplatten geschaffenen Podest – in den Container geschafft. Es macht Spaß und befriedet sehr, wenn man die Sachen über die Brüstung der Gartenmauer in den tiefer unten auf dem Parkplatz an der Straße stehenden Behälter schmeißen kann. Oder auch werfen. Manchmal auch Pfeffern, mit Schwung und Zielübungen. Bestimmt haben die Menschen auch schon vor 10.000 Jahren gerne Sachen in der Gegend herum geworfen und sich dabei einfach so gefreut.

Die schweren Wannen mit Schutt und zerbrochenen Fliesen allerdings musste ich heute mit Sack- und Schubkarre den Gartenweg hinunter schaffen und dann über den Rand in die Mulde wuchten. Das ist recht anstrengend, aber ich sage mir immer, es hält mich dann vielleicht ja wenigstens fit und gesund. Im Baumischcontainer sind auch Kabel und Metall erlaubt. Seltsam. Und Kaffeebecher und Pizzaschachteln, ich kenne das vom Zweitberuf. Irgendjemand freut sich immer, auch Passanten, wenn sie ihren Müll in ein solches Behältnis entsorgen können, gerne auch nachts und notfalls mit Transporter. Ich bin gespannt.

Ich weiss auch immer nicht, wie ich mir das Trennen der verschiedenen Stoffe und Materialien dann vorstellen soll. In großen endzeitlichen Hallen werden wahrscheinlich diese Mulden rund um die Uhr angefahren und dann nachts unter Flutlicht von prekären vermummten Arbeitnehmern parallelweltlich handverlesen, die durch große blechern klingende Megaphone von einem in einem erhöhten Glaskarten sitzenden dicken unrasierten Vorarbeiter angetrieben werden, der sein Leben lang schon nach Bier stinkt und seine Feinripp-Unterhosen zweimal im Jahr wechselt. Und wenn eine der armen Seelen unten in der Halle einmal ein asbestbelastetes Stück übersieht und dem normalen Bauschutt zuordnet, dann wird gepeitscht, gekündigt oder abgeschoben.

Oder es wird überhaupt nicht getrennt. So, wie beim gelben Sack. Früher dachten wir ja, moderne Parkbänke würden aus Joghurtbechern und Milchtüten hergestellt. Stattdessen schwimmt alles im Meer vor Malaysia.

In der kommenden Woche fangen die Sanitär- und Heizungsbauer an. Dann geht es richtig los. Mit schwerem Gerät, Bohrhammer, Flex. Alle Heizkörper werden erneuert. Und die Leitungen für Wasser und Wärme auch, wenn sie alt und schwach sind oder nichts mehr hindurchlassen. Ich kann das verstehen, manche Sachen lasse ja auch ich nicht mehr durch mich hindurch. Frau Mullah und ich haben nun die künftigen Armaturen und das Weißzeug ausgewählt, endgültig, bei einem zweiten Termin beim Sanitärausstatter. Man glaubt es ja kaum, welche Fülle an Produkten sich zur Auswahl anbieten. Es ist fast schon beschämend, dieser übervolle Ressourcenluxus. Wie soll man diesen Möglichkeitsreichtum Leuten aus anderen Weltgegenden erklären, deren Rohstoffe hier jenen anhäufen? Ein Wasserhahn ist ein Wasserhahn, sollte man denken. Dachte ich immer. Oder ein Waschbecken ist ein Waschbecken.

Ein Wasserhahn sind heutzutage aber 150 Wasserhähne. Ebenso die Waschbecken.

Und Kloschüsseln auch.

Die Tage des gemauerten Klinkerofens im künftig ehemaligen Esszimmer, den die alte Dame vor vierzig Jahren aus Angst vor einem sowjetischen Einmarsch (wahlweise Atomkrieg etc.) einbauen hatte lassen, sind gezählt. Bis die neue Heizung installiert ist, kann man damit noch gegen ein Einfrieren heizen. Derzeit sehr praktisch: die rückgebauten Nut-und-Feder-Wandbekleidungen können sofort zersägt und umgehend verschürt werden. Ein wunderbarer Kreislauf, ganz nach meinem Geschmack.

Fast alle Angebote sind jetzt da, bis auf das der Trockenbauer. Eine noch ganz unbekannte Größe. Bei Dingen unbekannter Größen und sowieso in dieser Jahreszeit denke ich oft und aber recht süddeutsch-gelöst an den Lauf der Welt so im Gesamten. Vielleicht spielt auch die derzeitige Seuche ein Rolle, das mag sein. Ich finde es jedenfalls immer wieder ganz grundsätzlich erstaunlich, dass man selbst einmal irgendwann geboren wurde. Und damit die Zwangsläufigkeit einer Seele zugewiesen bekam. Sowohl Bürde wie Gelegenheit. Im Grunde jedoch eine Zumutung seitens derer, die einen einst ins Leben warfen, ohne groß zu fragen, in einem Moment ihrer Lust.

Bei den Fliesen sind wir uns sehr einig. Urlaub wäre schön.

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Abb.: Atelier/ o.T., sans titre („vaccine-pussy“), 04.01.2022, Lapislazuli, Gum. Arabicum / Oil on Cardboard, 19×25,5cm / ©

23.12.2021

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Diesen berührenden Brief bekam ich vor ein paar Tagen zugeschickt. Ich habe mich sehr gefreut. Und ich dachte, was, wenn nicht ein solcher Brief, ist doch etwas zum Teilen in einem Weblog. Gerade jetzt, zu Weihnachten. Ich habe nachgefragt, ob ich das darf. Ich darf. Großen Dank an A.B.! / Ich wünsche herzlich frohe Weihnachten und immer eine Handbreit Zuversicht unterm Kiel.

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„Bonjour cher S.R.,

sehr berührt habe ich, auf der Suche nach „anderen“ Bildern Ihres Vaters – oder Spuren seines Lebens – Ihren Blog gelesen. Zu ihm und ihrer Mutter. „Anderen“ Bildern, da ich selbst ein Bild mit mir durch das Leben führe, weitere mir gut vertraut sind. Ebenso wie der Name ihrer Eltern. Sie waren Freunde meiner Eltern. Mein Vater war Kurt Maschmann, ein Hamburger Journalist… seine Frau Judith. Sie ist in diesem Jahr 98 geworden… Mein Vater ist leider schon 1981 verstorben. Laut meiner Mutter, haben sie Ihre Eltern „wann immer es ging“ auf (Dienst)reisen in den Süden besucht. Mein Vater war damals stellvertretender Chefredakteur der Hamburger Morgenpost.

Das Bild ist aus meinem Elternhaus in Hamburg mit nach Berlin, und dann viel weiter mit mir nach Südfrankreich, in die Cevennes gezogen. Es ist kein heiteres Bild. Sehr mysteriös, sehr feurig, mal beängstigend. Mal sehr beruhigend… vielleicht, weil ich es aus so vielen Lebenssituationen kenne. In Hamburg hing es Jahrzehnte im Wohnzimmer meiner Eltern. Neben seinem „Schwesterbild“ (nur wg. dem Format), drei grosse aufspringende „Blüten“ in hellen Blautönen… auch gibt es ein kleineres Bild mit Sonnenblumen. Eines zeigt Stiefmütterchen.

Oft habe ich es schon als Kind von der Couch aus betrachtet… es hat alle Stimmungen mitbestimmt. Die heiteren und entspannten, z.B. wenn meine Eltern am Abend ihr Glas Whiskey (mit Wasser) genossen nach einem langen Redaktionstag, die Sonntage mit Frühschoppen mittags im Fernsehen, die klappernde Schreibmaschine – der Schreibtisch stand auch mit im Wohnzimmer. Im Grunde war es auch das Esszimmer. Wir hatten eine Haus. Aber es war eng. Mit Grossmutter und drei Kindern.
Die beschwertesten Tage waren die, als mein Vater krank lag. Viele Magenleiden. Und ein Gehirntumor hat ihn aus dem Leben gerissen. Mit 61. Mein Alter heute. Ein seltsamer Gedanke. Mein Vater wurde im gleichen Jahr geboren wie Ihr Vater. 1920. Er hat sich ebenfalls ohne Zurückhaltung zur Wehrmacht gemeldet. Er war zuletzt in Berlin stationiert. Im Wachregiment Grossdeutschland. Er war stolz darauf. Nicht schön zu lesen in alten Briefen. Aber er war wie viele, die es dann bereuten. Wie furchtbar. Wie blind.

Er ist in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Im Ural. So schrieb er dann, das er dies nicht bereut hat… sondern das es ihm die Augen geöffnet hat. Er hat überlebt. Er hat viel Entsetzen gesehen. Von dem er aber nie viel sprach. Er ist 1948 nach Hause gekommen. Er hat sein ganzes fortdauerndes Leben seine Blindheit bereut, dem System gefolgt zu sein. Er hat sich nie verziehen eine Gruppe junger Soldaten, so sagte er (wenn ich mich recht erinnere) direkt in die Hände der Russen geführt zu haben. In die Gefangenschaft, in den Tod…

Er war nicht gläubig. Aber in seiner Weise spirituel. Er hat einen Seelenfrieden (wenn er ihn denn je hatte) durch die Arbeiten als Freimaurer gefunden. Und in der Anleitung junger Journalisten, immer die Meinungsfreiheit zu verteidigen, Kritikfähigkeit zu lehren und zu bewahren, … er gründete 1972 in Hamburg die Akademie für Publizistik, deren Leiter er bis 1980 sein konnte.

Er hat die Krankheit am Ende auch als eine Art Bestrafung für seinen falschen Weg, Hitler zu folgen, empfunden. Er hat am Ende seines Lebens mit dem Pastor unserer Gemeinde gesprochen (den er trotz seiner atheistischen Haltung schätzte), auch mit dem Neurologen, der sein Freund war, ja mit allen Brüdern der Loge. Er war Humanist. Er hat das Theater geliebt. Er wollte Regisseur werden. Das war sein Traum. Zerstört durch den Krieg. Seine zweite Leidenschaft war das Schreiben. Zurück in Hamburg begann er schnell für den Wandsbeker Boten zu schreiben. Meine Schwester wurde 1949 geboren. Es musste schnell Geld verdient werde. In Russland soweit ich es weiss, und das ist nicht viel, hat er mit Mitgefangenen eine Theatergruppe gegründet, sie haben „bunte“ Abende gestaltet. Sie haben geschrieben, Schach gespielt (ich habe ein wunderbares Schachspiel, das ein Mitgefangener gedrechselt hat. Mit meinem Vater spielte ich oft an Sonntagen). Mein Grossvater hat ihm Theaterstücke ins Lager geschickt, als es möglich war.

Das alles nur kurz (naja), zur Beschreibung seiner Persönlichkeit. Ich habe meinen Vater nicht so früh verloren, wie Sie den Ihren. Und doch gibt es so viel Unbekanntes. Nie Gefragtes. Nie Beantwortetes. Nie Erzähltes. Typisch auch für die 50ziger-70ziger Jahre in Deutschland. Viel Tabu, viel Verdrängen. Vielleicht hätte er wohl geantwortet. Aber ich war auch zu jung für die richtigen Fragen. Vielleicht habe ich auch gefragt. Aber einige Antworten vergessen?

Meine Mutter lebt noch. Sie hat in ihrem hohen Alter zunehmend Lücken, vorsichtig gesagt. Sie ist müde. Zu müde für manche Fragen. Es muss nicht mehr sein. Und auch sie kennt die Antworten nicht. Sie hat viel verdrängt. Das Leben hat es verdrängt. Sicher ist, sie kannte Ihre Mutter… wie gut vermag ich nicht zu sagen…

Und war es das, war es die Kriegsgefangenschaft, die unsere Väter zusammengebracht hat? Oder kannten sich unser Mütter zuvor? Aus Hamburg? Aus Thüringen? Heute Abend stelle ich mir diese Frage. Antworten meiner Mutter sind nun leider heute nicht mehr zweifelsfrei „richtige“ Antworten. Es überfordert ihr Gedächtnis… es nicht mehr zu wissen, macht sie traurig und verwirrt. So bedränge ich sie nicht mehr.

Meine Mutter ist in Thüringen in Apolda aufgewachsen. 1923 geboren. Sie war Kinderpflegerin. Ist 1943 von Berlin nach Wangerooge (einer ihrer Brüder war dort verheiratet und stationiert) … dort traf sie auf meinen Grossvater, der sie wiederum so charmant fand, das er die Brieffreundschaft zwischen ihr und meinen Vater initiierte (!) … was schnell in Verliebtheit und zur Heirat noch 1945 führte. Mein Vater brachte sie nach Hamburg-Volksdorf in sein Elternhaus… und dort lebte sie zwischen Bangen und Hoffen, die Jahre bis zu seiner Rückkehr. Dort lebt sie noch heute. Mit meinem Bruder, seiner Familie. Sie war lange autonom. Nun pflegt sie mein Bruder aufopfernd. Sie kann leider nur noch sehr schlecht sehen. Sie hat früher leidenschaftlich gerne gezeichnet und gebastelt. Sie hatte Talent. Sie hat uns Ostern und Weihnachten mit Karten beschenkt. Sehr fein bemalte Ostereier. Ostern und Weihnachten, Geburtstage, das waren ihre Fixpunkte im Jahr. Und der grosse Garten. Den sie „jetzt“ meinem Bruder übergeben hat. In Wahrheit ja schon vor ein paar Jahren…

Warum schreib ich das alles? Zum einen, weil mich der Text zu Ihrer Mutter so berührt hat. Ich war … ja, tatsächlich bestürzt zu lesen, das sie nicht mehr lebt. Ich kannte sie ja gar nicht. Und doch, da ist diese Verbindung zu meiner Mutter. Ich nenne meine Mutter auch übrigens immer noch „Mutti“. Während mein Bruder längst zu „Oma“ übergegangen ist. Wegen der Kinder. Sie ist „Oma Ju“ geworden.

Im zweiten Moment war ich froh, das ihre Mutter ein schönes Alter nach einem reichen Leben erreicht hat. Im dritten Moment dachte ich, wie sage ich es nun Judith, das Ingeborg nicht mehr auf dieser Welt ist? Aber das ist nur mein Problem, Judith hat schon lange gelernt damit zu leben, die „letzte“ zu sein… auch wenn sie es seltsam und kaum verständlich findet, wie sie immer wieder betont. Ich habe es ihr am Telefon erzählt, und da hat sie sich gerne erinnert. An die Reisen, Begegnungen … auch ihr Haus. Irgendwie kamen Bilder in ihr zurück.

Ich schreibe, weil ich denke, das es Sie vielleicht freut – ich hoffe es – zu hören, das das „Schreiben des Namens Harald Alexander Rogler im Internet“ tatsächlich nun dazu führte, das durch „Zufall“ Gedanken zu ihm gehen und seine Bilder ganz und gar nicht in Vergessenheit in einer Kiste gelandet und verschwunden sind. Im Gegenteil. Und auch ein Teil der Geschichte, die Menschen verbindet, nicht einfach sich ins Nichts auflöst. Dank dieser Bilder.

Und auch dank einer Kiste… noch dazu! Ja, dies nun noch am Schluss dieser Zeilen: Eine wahrhafte Erinnerungskiste! Ich besuchte meine Schwester Angela, die ebenfalls hier in Südfrankreich lebt. Ich erzählte ihr von meinen Fundstücken im Internet. Las mit ihr noch einmal den Text zu ihrem Vater. Und sie erinnerte mich an das, was ich vergessen hatte: sie hat von unserem Vater, als sie noch auf die Werkkunstschule in Hamburg ging, der Armgartstrasse, eine grosse schöne Holzkiste mit Ölfarben geschenkt bekommen. Es waren die Farben Ihres Vaters! Sie weiss nicht mehr, in welchem Jahr es war. Sie weiss nur, das unsere Eltern sie von einer Reise mitgebracht haben. Sie hat die Kiste noch heute. Meine Schwester ist eine Hüterin. Sie bewahrt sie. Es riecht gut, wenn man den Deckel öffnet… und die vielen Tuben betrachtet … (Ölmalerei hat sie nie richtig erlernt). / Beide waren wir der Meinung, das alles sollten sie erfahren! Wir schicken ihnen mit Freude die Fotos : )))

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inzwischen – seit diesem Gedanken – ist leider Zeit vergangen, viel zu viel, ein paar Wochen. Das tägliche Leben hat zu sehr gefordert und abgelenkt. Es ärgert mich… zumal ich es noch nicht geschafft habe, ein gutes Foto des Bildes, das mich begleitet, aufzunehmen. … wir haben in unserem Haus im Herbst alles auf den Kopf gestellt, die Wände isoliert und renoviert … so wurde das Bild abgehängt und wartet auf dem mezzanine noch auf seinen neuen Platz. Heute von diesem Bild nur ein Foto in unserem Salon… entfernt sieht man es wie es noch am alten Platz über einem Kamin hing. Actuellement bin ich gerade noch ein paar Tage in Hamburg … meinem Bruder, der Familie ein wenig bei der Pflege meiner Mutter zu helfen, ….so finde ich auch endlich die Zeit und Ruhe diesen Brief zu Ende zu schreiben … und auch Fotos der Bilder hier im Hause dazuzugeben … ich schicke ihnen das alles mit großer Freude und hoffe, das es ihnen eine ebensolche bereitet. Ein bisschen wie Weihnachten vielleicht …

Herzlichst,
Annette Bonnefont (Maschmann)“

Advent

A.Hm.Rogler 1956-2006

man könnte so langsam ja nun auch mal auf die strasse gehen, zum demonstrieren. kinder, alles kinder. halten mama für schuldig, wenn baden am see ausfällt wegen gewitter. schrieb ich ja schon mal, vor 1,5 jahren. kollege erzählte von einem jüngst C-toten in der familie. der war im krankenhaus wegen einer anderen kleinen sache, neben ihm der bettnachbar hustete die ganze erste nacht. woraufhin er dem personal bescheid gab, die jenen dann morgentlich C-positiv testeten. vier tage später hustete auch er und neun tage später war er tot. oder dieses fränkische kaufhaus, in dem ein arzt einen von ihm am vortage als erkrankt getesteten menschen erkannte, der sich ganz offenbar nicht in quarantäne begeben hatte, und daraufhin dem personal bescheid gab, welches dann eine durchsage veranlasste, alle positiv getesteten anwesenden sollten sich bitte unverzüglich melden. es meldeten sich, so lautet die geschichte, gleich sieben und nicht nur der eine. unsere demokratie ist in gefahr. das zu sagen ist in etwa so, wie nach vorerkrankungen zu fragen. ganz in arztmanier. und dann bedauernd zu nicken am grab und vaterunser. neulich im herbst tranken wir im hause zu dreien maskenlos kaffee, privat und näher aneinander als empfohlen, warum auch nicht, kein wort übers thema. schön der kaffee und das gespräch, auch vor allem das aus alten zeiten vertraute vertrauen. weniger neulich erfuhr ich zufällig vom impfstatus desselben besuchers, nämlich dem fehlenden. es hätte ja nun auch sein können, ich wäre vorerkrankt oder die dritte am tisch hätte dies sein können. hätte. für mich folgt, es war gastseits egal. man muss ja nicht gleich auseinandergehen, sollte man die dinge, wenigstens kurz, ansprechen. so würde ich das handhaben. „du hast ja nicht gefragt“ könnte der damalig bewirtete natürlich sagen. recht hätte er. ich habe nicht gefragt, allein ich hätte kurz ggf. erwartet. viele haben jetzt in diesen zeiten wohl eine kitzelige lust am schicksalspielen, so scheints. oder ein brummendes unterbauchverlangen am endlich mal wieder unvorhersagbaren, sofern es sie nicht selber trifft. oder gar schmeißt. wie religion, nur ohne ritual und institut und steuer und sakralraum. lust auf darwin, wenn man sich hinter ihm ohn‘ schuld verstecken kann. die kranken und schwachen und alten müssen weg, die mit schlechten genen. natur eben. wie die katze, die mir vors auto läuft – entweder, sie war alt, zu langsam, zu schwach oder zu dumm. der herr richtets und es spielt dann auch keine rolle mehr, ob ich ausgetreten bin oder buddhist oder rudolf steiner oder afd. oder einfach naturfreund oder retter von demokratie. natur, bio, alles. „ach du, wir sind da auf einer anderen spur…“ berichtete mir freundlich vor ein paar wochen eine innerlich jugendlich stets sich gebende frau knapp über die sechzig, die mit ihrer 95-jährigen anthroposophischen mutter zusammenlebt. auf meine besorgte nebenbeifrage bezüglich wohlergehen, schneeschippen, allgemeinzustand und „schon geimpft?“. wie naiv ich doch bin. und lisa fitz, eine frühere kabarrettistin, versucht vor ein paar tagen im TV zu hinterfragen old scool allen ernstes, wie viel doch „die impfhersteller verdienen würden“. ich erinnere also spontan meine lebensbedrohliche blinddarm-operation vor sechsundvierzig jahren und frage mich empört, was wohl jener arzt seinerzeit verdient haben mag. old scool. /das helle am ganzen desaster ist wenigstens, alles tritt nun erodiert hervor, was tatsache ist und ja sowieso schon immer da war, nur unter krumen und tand. endlich. die allesverächter, die demokratiebewahrer, die stets-warnenden, die ewigen kinder und besserwisser und diejenigen, die es jetzt so langsam einfach nicht mehr ohne schuldfrage aushalten. kunst und viren haben ja eines gemeinsam, beide sind nicht emotionsdemokratisch. dann also monarchie, spiritualität, gehorsam und demzufolge zu guter letzt: strafe. als rettung. man könnte ja fast schon symphatisieren mit diesem virus, denn dem ist das alles wurscht, wie wir gelernt haben. es therapiert schlicht einfach nur durch sein keinerlei willen untergeordnetem agieren, dazu noch emotionslos supergratis. die demokratie, die undemokratie, die vorerkrankungen und sogar das unvorhersagbare.

ziemt Oberkampf

Oberkampf

frage den elektrikermeister, was eigentlich passiert, wenn man einen eingeschalteten kühlschrank im winter bei minus 8 grad auf den balkon stellt. „nein“, sagt er, „der fängt dann nicht etwa an zu heizen. der schaltet einfach ab.“ er grinst ein bisschen, ich auch.

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ach, ich wär so gerne nach island, san marino oder in irgendeinen fernöstlichen kleinstaat ohne große internationale wichtigkeit hinein geboren worden. dann hätte ich eben andere augen, vermutlich. und hätte vielleicht kein abitur und weder latinum noch graecum, ich hätte keinen zivildienst anstatt dem militär gemacht, weil es vielleicht keine großtragischen kriegsenkelgeschichten in jüngeren vergangenheiten mit mord und totschlag gegeben hätte, mein papa wäre vielleicht erst vor 7 jahren gestorben, anstatt schon vor 55 jahren an den spätfolgen der von der heutigen AFD als vogelschisszeit bezeichneten jahre, ich hätte mich auch nicht um die psyche meiner mich leider sodann alleinerziehenden mama kümmern müssen, wegen ihrer verlorenen ostgebiete und gefühlten rittergüter und ihrer frühen verwitwung und ich würde auch nicht bis heute die wolldecke von oma mika aus pillau/opr. aufzubewahren mich bedingt fühlen, obwohl ich die ja nie kannte und nur meine fluchttraumatisierte alte dame immer so verliebt verklärt von ihrer oma mika sprach. ich würde auch keine geschichten über am kapitulationstag hastig weggeworfene wehrmachts-kleinpistolen im watt hinterm deich bei cuxhaven mich weiterzureichen bemüßigt fühlen, zum gedächtnis, „dies tut zu meinem gedächtnis!“, geschweige wäre ich vor nun beinahe schon 30 jahren mit der alten dame von kiel aus mit dem schiff nach OPR gereist, um den OPR-himmeln wieder die farbe einzutüten, für die allseits traumatisierten wirtschaftswunderer.

was ist das denn ewig mit diesem koloss namens „Deutschland“, kolosse mag ich nicht, nein, ich wäre gerne ein autistischer nordwestgrieche oder stiller südostfranzose geworden, oder in einem vorort von triest geboren oder auf einem unbedeutenden schäreninselchen, welches bald vom klimawandel verschluckt werden wird. wie gerne würde ich mich verkriechen, einfach mal so als abseitiger weltbürger, und nicht allein schon aufgrund meines passports verantwortlich sein für die genesung der welt, die menschenrechtliche humanisierung ebendieser, diese ewigen verantwortlichkeiten und vorbildfunktionen auch gegenüber denjenigen dies ewig missbrauchenden. wo doch sowieso die schurken siegen werden, so wie es aussieht.

wie oft habe ich „verbrecher“ irgendwo druntergeschrieben, künstlerischerseits, einen busen dazu gemalt aus schlichtem protest und sonniger lebensfreude, gar einen schweif oder schwanz obendrein mitsamt weiblicher vulven zur geneigten kleinprovokation, ach wo, wie billig, und es ZIEMT sich ja auch nun nicht mehr, soetwas, für mich. ich bin ja jetzt ein alter hase, dazu seit gestern ein alter mann, dazu noch weiß. mir bleibt eigentlich nur landschaft als malerisches motiv, oder tiere. ich könnte ab jetzt ja auch kreise oder elipsen malen, in den ausgefuchsten farben sublimierter lustbarkeiten. keine geschlechtsteile mehr und um gottes willen keine primärstrapse, dildoähnliche gebildlichkeiten oder gar nachtwäsche mit ggf. darunter verborgenen lustgrotten.

ein asexueller erzählonkel aber wollte ich eigentlich nie sein, noch werden. und auf die üblichen charmant altersgerechten versteckecken will ich auch künftig verzichten. vielleicht wäre ich ja auch gern schweizer geworden, in irgendeinem entlegenen bergtal, dem wallis zum beispiel. stattdessen muss ich seit gestern ein weiser und milder mensch geworden sein, dem die vernunft aus jeder pore, jeder silbe und jedem strich quillt. und der keine blöden witze mehr machen darf, um nicht als typologietoxisch rüberzukommen.

himmel, hilf. ich muss noch finden die neue rolle. und stelle. in einer wohlwollenden geburtstagsmail meinte eine tolle endsechzigerin liebevoll, ich würde locker als „endvierziger“ durchgehen. ach wo, liebe M. – aber danke von herzen! nein, ich nehme dies alles nass und forsch an. und bin froh und dankbar, überhaupt jetzt schon mal wenigstens so alt geworden zu sein, gestern. es ist nämlich vor allem immer eines, alles ein großes geschenk.

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zwei tage paris waren wunderschön!

/um 24 Uhr zu Bett.

Sowas gibts ja heute gar nicht mehr!

Heute die Badwände von den restlichen Fliesen befreit. Sowie die Bad-Decke von den Nut- und Federbrettern. Das Wasch- und das Zahnputzbecken haben Salman und ich schon neulich abgebaut. Der große Badspiegel steht in der Garage, die Lampen habe ich heute ebenfalls entfernt. Vormittags war der Elektriker hier, um ein paar heikle Dinge abzuklemmen. Es soll ja niemand beim Rückbau ums Leben kommen. Das noch verbliebene Türfutter der Küchentüre ist ebenfalls entfernt. Die schöne Durchreiche mit den Riffelglasscheiben zum Verschieben steht schon seit Wochen beim Bauschutthaufen bzw. beim Holzabfuhrberg im Vordergarten. Den alten Herd habe ich in den Garten gestellt, in die Ecke für die Elektroabfuhr. Der Kühlschrank steht seit heute Abend auf der Terrasse. Was noch ausgebaut werden muss, ist die Spüle aus deutschem (und noch nicht chinesischem) Edelstahl. Schon bei der Wertschätzung des Hauses vor anderthalb Jahren staunte einer der drei sachverständigen Gutachter, ein alter erfahrener schwäbischer Haudegeningenieur, hinter seiner Erstwellen-Maske nicht schlecht über die Ausmaße dieses Stückes Metall, „… Mensch, eine Metallspüle, so lang, und an einem Stück! So was gibts heute gar nicht mehr!“

In jenem Badspiegel habe ich mir einst meine irgendwann sprießenden Achsel- und sonstig plötzlichen Haare leicht verschämt und geheimneugierig angeschaut. Deshalb heißen sie ja auch „Schamhaare“, sie könnten aber genauso gut auch „Neugierhaare“ heißen. Und den ebenfalls flaumenden rotblonden Bart. Mit dann ersten Gesichtsrasurversuchen unter der Anleitung eines lieben Onkels, der Vater war ja nicht da zum Zeigen, da gestorben. In dieser Badewanne, die demnächst mit Schwergerät ausgebaut werden wird, saß ich einst auch mit der G., als die alte Dame einmal länger verreist war. Wir lachten die ganze Zeit etwas schüchtern im Übersprung und rauchten, bis der Aschenbecher ins schon nur noch lauwarme Badewasser fiel. Wir mussten noch viel mehr lachen, zogen uns daraufhin schnell an und fuhren mit der Vespa in die Stadt, um ein gemeinsames Bier zu trinken, was uns viel vertrauter war, als nackt gemeinsam in irgendeiner Badewanne zu sitzen. Im Bad war es auch, wo in der Vorsterbezeit der alten Dame, noch nicht allzulange her, ungeheuerlich schlimme Dinge sich abspielten, die man nicht mehr erzählen mag und muss, noch geschweige an sie denken oder erinnern. Der alten Dame würden diese ganzen Aktivitäten jetzt bestimmt gefallen in ihrer zeitlebigen Neugier. In ein paar Tagen schauen Frau Mullah und ich uns moderne Badarmaturen und zeitlose Keramiken an und treffen Auswahl. Was aber bleiben wird, ist der schöne Kunststeinboden von 1964, über den der künftige Fliesenleger ja bereits sagte, ähnlich dem Sachverständigen in der Küche: „Mensch, den haut ihr aber nicht raus, oder? Den müsst ihr lassen, sowas gibts heute ja gar nicht mehr!“

Durch die Durchreiche der Küche ins Esszimmer, deren Schiebefenster aus Riffelglas nicht stets beidseits geschlossen war, sprang auch einst der liebenswerte Boxer Andor von Lampertsrück (1968 – 1981) in einem hohen sehr virtuosen Satz, nachdem es ein versuchter Brauch geworden war, die Aktivitäten des jungen Rüden vormittags, wenigstens während der Halbtagsbrotarbeit der alten alleinerziehenden Dame und meines Grundschulbesuches, für vier Stunden lang in der Küche zu bannen und zügeln. Nie vergessen werde ich seine – Andors – Freude über diese Überlistung seines Frauchens und mir, als er dann, wir wollten gerade das Haus morgentlich verlassen, schwanzwedelnd uns bestgelaunt hinterher rannte. Ich mag Boxerhunde wirklich sehr. Einige dieser gelben Fliesen werde ich bergen und zur ggf. zeitnahen Neuverwendung lagern. Vielleicht ja partiell schon bald in der neuen Küche. Auch die architektonisch begutachtende Sachverständige aus dem vereidigten Bewertungsteam meinte vor anderthalb Jahren übrigens, noch mit handgenähter Stoffmaske, wenn ich mich recht erinnere, über die gelben Küchenfliesen: „Mensch, diese Fliesen, diese Farbe! Dass es sowas noch gibt! Sowas gibts ja heute gar nicht mehr!“