Deutsche Westsee:

Es Gibt kein schlechtes wetter, gibt nur unangemessene kleidung. Angemessene kleidung, schönes wetter. Angemessenes wetter.

Schöne Kleidung.

Die Kirschkern war ein paar tage in paris, das erste mal, seit sie dort laufen lernte. Vor allem treppensteigen. Auch dort, wo sie einst an jedem heißen sommertag im schatten in einen eimer mit wasser hineingepasst hatte, zur abkühlung. Manchmal war es witzig und schwierig gewesen, sie aus dem eimer wieder herauszubekommen. Es ist aber immer gelungen. Die düsenjäger pfurzten ihre trikolore über die stadt, das war schon groß. Ich trug kurzärmelige helle hemden und kratzte mich am busen, wann immer es mir passte.

Strandbad wannsee. Die alte dame ruderte da vor 70 jahren mit dem horst wessel lied und der ersten strophe joseph haydn. Sie freute sich sehr, dass ich sie anrief von dort. Spricht das abends extra nochmal auf band bei mir. Dass sie sich so gefreut habe. Ob ich es wohl schaffe, sie noch einmal irgendwie dorthin zu bugsieren? Der wind pfiff, die sonne schien und die konfirmationsschwippcousine ging baden. Zuletzt war ich hier vor 8 jahren gewesen, ich war mit der kirschkern unzählige male ins sommerwasser gerutscht damals, nachdem deutschland gegen italien ausgeschieden war und ich keinen espresso mehr trank, acht wochen pizza mied und venedig immer schon als grundlos überbewertet empfunden hatte.

Durch den regen nach westen über die brücke von 1963. Den kleiderbügel, diese vogelfluglinie. Auch so ein aufbruchhaftes westdeutsches sehnsuchtswort des wirtschaftswunders. Meine großmutter mit den punktekleidern, in ahrensburg im altersheim, familientreffen timmendorfer strand und scharbeutz. Und immer „schade, dass du kein soldat geworden bist.“

Der wedding regt an. Sagt der lieblingsfotograf.

Der wind hat sich gelegt, er pennt.

Und dann endlich die sonneninsel. In der tat, alle wolken mit molle ziehen weiter ans land. Ein standortvorteil. man glaubt es kaum, wenn man regen nicht allein als schlechtwetter empfindet.

Viel Sonne, keine maulwürfe. also mein plan: maulwürfe auf dieser insel heimisch werden zu lassen zu begünstigen. Ich bin ja ein biologisches monster und artengerecht aufgestellt, zudem darwingeprägt. Im abitur hatte ich 13 punkte in biologie. ausgerechnet einer naturwissenschaft.

Morgens hätte ich oft verschleierte augen. Sagt die köchin. Das stimmt. Matschige augen, sage ich. Kommt vom nichtträumen oder vom zuvielträumen. Ich mag diese verordneten ruheminuten im halben nichtsein. Ich würde mir punkte tattoowieren lassen auf die handrücken, wenn ich das toll fände. Eine der schönsten wiederkehrenden lebenszeiten ist die frühe stunde mit ihren noch unsortierten gedanken und deren endlosen welten. oder einen anker auf die hüfte mit glaube, liebe, hoffnung darunter.

Kein netz. Kein internet. Dafür DLF. Mal wieder radio hören und aufhorchen, wenn sie sagen: deutsche nordseeküste 5-6, in böen 7. Hat man im süden ja nie, dort nur hagel gleichermaßen auf schönen neuen kfz-wägen wie alten autos, das ist sehr demokratisch. mit wunderbar plastischen beulen. Das ist bildhauerei. Mein porsche wäre einer mit hagelschaden.

Das Fahrrad gegenwind, rückwärts rückenwind, wenn der wind nicht drehte zwischenzeitlich. Mein arsch tat weh, der kannte das nicht mehr. Kann gut sein, dass ich generell sogar ein fahrradtyp werden könnte. Aber niemals in radlerkleidung, vorher nackt. Strassenklamotten mit schieber gegen die sonne, satteltaschen, 3 gänge. Wenn helm, dann GI oder sturmtruppen.

Die Dreimastbark Niobe, ein denkmal erinnert. Ich muss die alte dame fragen nach ihrem vater, meinem haudegengrossvater. Die niobe, ein segelschulschiff der reichsmarine, sank nach zu viel takelage aufgrund einer einzigen starkböe im fehmarnbelt. Soviel ich weiss war das 1932. Die hälfte der besatzung, ungefähr 46 menschen, ertranken. Wieviele leute sind nicht schon in der ostsee ertrunken. Jede qualle, jede krabbe eine seele.

Die ostsee, so erfuhr ich, ist offenbar das größte brackwasser der erde. Der salzgehalt liegt im wert hälftig zu dem der nordsee. „Brackwasser“ klingt nicht schön. Aber ich mag dieses brackwasser sehr, wie sollte es auch anders sein, als kriegsenkelchen.

Marine. Meine grossmutter, soldatenfrau, hoffte, als ich das adolescente alter erreicht hatte, dass ich selbstverständlich zur marine gehe, insgeheim. meine lieblingsomi, ich sagte immer „Omi“, nicht oma. Dann habe ich sie mal besucht in ahrenburg mit 18. Wie schade, dass du kein soldat geworden bist. Ich war aber eben auch zu klein. In ihrer vorstellung hätte mir eine u-boot-karriere gut gestanden, die brauchen ja die eher kleineren. Ihren ersten kuss gab sie auf der mole in pillau mit siebzehn, heute baltisk. Der postler ermöglichte ein heimliches treffen mit ihrem geliebten späteren haudegen. Auch die beiden Lieben, Waldemar und Gertrud, schwimmen heute in der ostsee, sie wurden in der kieler förde seebestattet. Später, als man wieder konnte und durfte, warf die alte dame dort ein sträußchen ins meer, auf unserem weg nach kaliningrad.

Lustkreis. (wortwitz).

Inselfasane huschen durch die felder und rufen einem rätsel zu, rehe springen grundlos über den weg und hasen oder mutierte grosskaninchen legen die ohren an, wenn sie gas geben beim unnötigen flüchten. dabei will man denen doch gar nichts.

Und dann Jimi Hendrix. Es gibt einen gedenkstein, ich finde, der ist ganz gut gemacht, großer granit. Sein letztes konzert, 4.-6.9.1970, das „love and peace festival“ auf fehmarn. Untergebracht war er offenbar in einem hotel in puttgarden, dem „Dania Hotel-Restaurant“. Das gibt es immer noch. In diesem kleinen dorf, das die welt kennt wegen der fahrscheine der halbstündigen vogelflugfähren. Und nun planen sie, wegen 23min. ersparnis von zeit einen tunnel zu bauen. Immer dieses geldverdienen, wegen ein paar minuten oder ein paar pfennigen, die sich irgendwann zu geldhaufen auswachsen.

Es war jetzt also ein wunderbarer jahresurlaub. Zunächst berlin mit dem arbeitsamen entwerfen von konzeptplänen mit langen lieben kollegen. Including formulierungen und wortloses metaverständnis. Eine immerwährend kreative und produktive renaissance des Gewollten, angereichert mit mittlerweile viel erfahrung im ungesagten. Immer mehr. Das ist so schön.

Auch die begegnung mit dem alten stuttgarter freund und lieblingsfotografen, der schon lange eine unumstössliche größe ist in meinem dings und leben. Der nun nach B gezogen ist. In all unseren unterschieden, die wahrscheinlich so groß gar nicht sind. Ich begab mich zwei nächte zu ihm nach charlottenburg. Wir saßen im Diener und stritten eine zeit lang über politisches. Meistens sind es gegenseitige unterstellungen. Das streiten, das unterstellen mit ihm ist immer erkenntnisreich, selbst für mich, der ich doch eigentlich immer recht habe. Vielleicht machen wir gemeinsam etwas über mode. Mich würde das sehr freuen, er wurde eingeladen und er hat mich dazugeladen.

Man kann jetzt auch in steinwurfnähe hermannplatz für 90 euro und vier personen speisen. Das wusste ich noch nicht. Das ging früher nicht, das war gar nicht möglich. Umso schöner mit der Köchin, der Hohbrechterin, derer beider grosscousine (gerade frischkonfirmiert) und na klar, logisch, mir.

Dann die fahrt durch sturm und regen nach fehmarn, vorbei an einigen lieblingsstätten, so auch dem kloster cismar, wo ich im hungerwinter 98/99 ein stipendium ableben durfte. Ich sammelte damals gefrorenen sand mit zutaten (quallen, Tang) am strand, füllte die melange in gläser, verschraubte und betitelte „Küstendreck“ mit schreibmaschine. Dann wartete ich im warmen zuhause über den St.-Pauli-Nachrichten, bis die Gläser explodierten.

So etwas würde ich heute natürlich nicht mehr machen.

Ein besuch bei der kirschkerntante nächst den mädels vom immenhof (Teile 4 und 5). Hund otto, ein brauner Labrador, kirschkerns liebling, ist jetzt kein kind mehr, sondern ein mann, aber sein stofftier bringt er einem immer noch schwanzwedelnd zum kaffee an den tisch. Lütjenburg, Hohwachter Bucht, Sehlendorfer Strand, Heiligenhafen, was für schöne namen.

Dann aber wieder schnell über die windige brücke nach der insel. Weite riesige felder jenseits der süddeutschen realteilung, rauhe strände im westen, steile küste im osten. Im osten findet man durchaus einsame badeplätze. Überhaupt ist dort nichts überlaufen. Und wenig spektakulär, wie anderswo. Es ist eher einsam und unterlaufen, und alles lässt einen in ruhe. Und wenn man fussballschauen will, dann kann man das im städtchen Burg tun. Wir bejubelten das erste deutsche gruppenspiel in einer art berliner eckkneipe, sowas gibt es dort. Und wind den ganzen tag und sonne, wenn es anderswo regnet. Die luft ist so gesund, dass es schon fast wieder ungesund ist.

Und zuletzt diese wunderschöne ferienwohnung auf der insel, ein kleines, aber eigentlich gar nicht so kleines häuschen, bis in die 1970er Jahre reetgedeckt, sich in behutsamer und liebevoll wohliger Endrenovierung befindend mit schönen optionen. Orte quatschen ja immer viel über deren Bewohner, auch wenn diese das gar nicht wollen eigentlich. Eine wunderbare werkstatt im aufbau, ein garten in ebendiesem, eine kiste hinterlassenes Bier für die gäste, eine schöne offene küche, dazu sogar eine Fussbodenheizung, die untenrum lackierte nägel erröten läßt. Und vieles mehr. Ich will mich jetzt aber im verraten bremsen. Die köchin und ich jedenfalls, wir haben uns verdammt wohl gefühlt. Ganz großen Dank den lieben gastgebern dieses so guten ortes!

Todendorf, Garten

(schon wieder würzig, schon wieder herrlich.)

24 Gedanken zu „Deutsche Westsee:“

  1. Und was ich bisher nicht wusste: Nur dem beharrlichen Verhandeln eines gewissen Lord Soundso (vgl. Denkmal in Burg, neben der Kirche) ist es zu verdanken, dass die (äußerst fruchtbare) Insel 1945 nicht der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde. Muss man sich mal vorstellen. Die Innerdeutsche im Fehmarnsund. Kein Vogelflug, keine lucky’sche Kinderlandverschickung, kein Jimi Hendrix…

    (und merci!)

  2. Ein Text, so lebendig und eigentümlich still zugleich.
    Wie eine Schifffahrt über ruhges Gewässer.
    Viel zu schauen und zu fühlen.
    Nach dem Lesen sitze ich seufzend hier und blicke hinaus in den sommerlichen Garten.
    Schön.

  3. Eine Schifffahrt ist meistens schön. Eigentlich immer. Ich weiss noch, wie es war, als ich die Malerei, die Bildnerei, das Beschreiben auf Blättern für mich beschlossen hatte. Aus dem Bauch (und darunter und drüber) heraus. Die abwesenden Reglements sind es, bzw. die Möglichkeit, die, alle, Anweisungen selbst festzulegen. Man kann einfach alles abbilden. Jeden Steinwurf, jede Langweiligkeit, sämtliche Details des Wichtigen oder Unwichtigen. Und vorher alles bedenken in Tagesform und im dritten Kreise auf einem Tablett verschieben. Wie in einer kleinen Operette, in der jedes Fragment einer Formulierung zählt. Alles ist doch immer nur ein Versuch. Das Abbild eines Versuches. Mit der schönen und grausamen Ungewissheit, wohin all das führt. Das Brüllen oder Stille. /…Und in derlei Dingen und Welten sind ja nun gerade Sie (!) eine besondere Meisterin, Frau Tikerscherk!

  4. Danke.

    Das haben sie sehr schön gesagt. Ich bin ja nun keien Künstlerin, aber für das laienhafte Schreiben trifft das, was Sie beschreiben ebenso zu:
    man kann einfach alles abbilden, alles verschieben, bis es sich dem, was man zum Ausdruck bringen wollte, dem, was man fühlte und sah soweit angenähert hat, dass es für diesen Augenblick stimmt.

    (Was meinen Sie mit dem „dritten Kreis“?)

  5. (Der dritte Kreis ist der Dritte in der nach oben offenen Kreise-Scala. Kreise beschreiben die Veränderungen des Standortes und der (eigenen wie möglich-fremden oder gespielten) Blickwinkel auf das Geschehen.)

  6. Menschenskinder, Herr Kid! Das könnte ja geradezu der Beginn einer upkommenden Bewegung sein. Mit Helm, Brille, Shirt und Überwurf. Ich sehe da bereits niemals unfair geraubte Teppiche mit Biospitze und ganz ohne Vielman (sowie in der Sättigung heruntergefahren). Ganz große orangene Klasse.

  7. Warum kann man unter dem Foto mit dem Helm nicht kommentieren?
    Ich geißle das. Also nicht das Foto. Jetzt, wo es zur Massenbewegung wird und Sie der Initiator sind!

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