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(Fotographie, 23x29cm, Fundstück Flohmarkt 1997, Bildseite)
Mein Urgroßvater Johann Schneck, Kolonist, Landwirt und Lehrer, war es, der in Odessa ein stattliches Mietshaus für 26 Parteien erbaute, mit erstmals (so wird es stolz erzählt) fliessend Warmwasser und einer Zentralheizung. Das muss um 1910 gewesen sein. 1918 flohen er und seine Familie vor den Bolschewisten, zunächst nach Istanbul und dann zwei Jahre später nach Stuttgart, die Stadt der „Auslandsdeutschen“. Mein Grossvater Rudolf Schneck wurde 1898 in „Südrussland“, also der Ukraine, geboren. Auch er floh nach Stuttgart und heiratete dort meine Großmutter Johanna Schneck, die von der schwäbischen Alb stammte. 1920 wurde mein Vater Harald Alexander Schneck geboren. Den zweiten Namen „Alexander“ gaben seine Eltern ihm für den sehr ersehnten Fall, einst in die gegend um Odessa zurückzukehren. Russisch sprachen sie alle, außer meiner Großmutter, die schwäbisch sprach.
Gerüchte besagten, dass beim Einmarsch der Bolschwisten in Odessa der Hausmeister des Gebäudes liquidiert wurde mitsamt seiner Familie, weil er für den Besitzer des erwähnten Anwesens gehalten wurde.
Urgrossvater übersiedelte ein paar Jahre später nach Pommern und bewirtschaftete fortan dort ein landwirtschaftliches Gut (ich glaube, es hieß Eschenwalde), zusammen mit seiner Frau Katharina, einer geborenen Levi. Mannigfache spätere Ariernachweise seitens meines Großvaters (also ihres Sohnes) belegen seinen Wunsch, diese Herkunft in schwieriger Zeit möglichst unsichtbar zu gestalten. Das Grabmal meiner Urgrossmutter entwarf ihr Witwer selbst, es wurde später offenbar geschändet von der SS wegen des gravierten Namens „Levi“ (so wie es eine Großtante, die in Berlin, Hauptstadt der DDR, ihr Leben verbrachte, mir noch direktmündlich überlieferte nach der Wende, irgendwo in Treptow im Herbst 1999, VH 2. Stock).
Durch den Hinweis eines neuköllnischen Nachnamensvetters bekam ich, ebenfalls 2003, brieflichen Kontakt zu einem sehr alten Herrn, Viktor S., wohnhaft mittlerweile in Dormagen in Westdeutschland und spät übersiedelt aus Kasachstan. Es stellte sich heraus, dass er der Sohn der Schwester meiner Urgroßmutter war. Er bestätigte die Existenz jenes Mietshauses in Odessa bis heute und sandte Fotos, die Bekannte in seinem Auftrag auf meine Anfrage hin davon angefertigt hatten. Diese Fotos würde ich nun gerne hier teilen, aus einer Laune heraus, mitsamt anderen familiären Lichtbildern aus jener Zeit. Jedoch befinden sich diese in Süddeutschland, wo ich mich gerade nicht befinde. Ich werde das ggf. nachholen oder auch nicht.
Ich wollte mir immer schon mal diese ganze väterliche Herkunftsgegend in der südlichen Ukraine ansehen. Auch deshalb. Und in Odessa, der Hafenstadt mit diesem so wohlklingenden Namen, das alte Mietshaus suchen. Danach vielleicht einen Badeurlaub auf der Krim anhängen. Das wird nun aber wohl bis auf weiteres nicht möglich sein. Und ich dachte und hoffte, diese unvernünftigen Zeiten seien vorbei.
Das alles ist Europa. Nicht das alte und nicht das neue, sondern das, was es ist. In seiner ganzen Verwobenheit. Es scheint kaum, dass die Verantwortlichen aus Übersee darüber irgendeine Empathie haben. Insbesondere nicht diejenigen, die sich nun weltpolitisch forsch, konfliktorientiert und kriegsbereit geben. Ich würde ja auch nie auf die Idee kommen, Kalifornien den Spaniern zurückzugeben oder den Irokesen Waffen liefern.
Genausowenig allerdings auch, wie ich derzeit eine Militärparade ausgerechnet auf der Krim abzuhalten planen wollen würde.
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(Fotographie, 23x29cm, Fundstück Flohmarkt 1997, Rückseite)