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Erste Arbeit als Vollw.

diese tage dümpeln wie überall in richtung wärmer und frühling, das geschehen mitsamt seinen peripherien verschwimmt und immer, wenn geschehnisse schwimmen, dann meint man ja, alles wäre schon drei monate her, aber es sind erst drei wochen und ein paar zerquetschte tage. die rechnungen kommen jetzt und aber die generalvollmacht „über den tod hinaus“ beeindruckt die bank nicht, alle überweisungen machen sie doch bitte jetzt mit uns zusammen, man kommt sich da ja kurz vor wie ein übler nachlassräuber. aber das alles hat bestimmt seinen höheren sinn, das denk ich. es war schon alles sicher richtig in diesen jahren zuletzt, das ist viel wichtiger. in der wäscherei vom pflegeheim ist noch ein poncho aufgetaucht, sie rufen mich liebevoll extra deswegen an und was sie denn damit machen sollen oder ob ich den noch abholen will, nein sage ich, ach geben sie ihn zu den alten kleidern, worauf sie sagen „oder wir können den ja auch noch jemandem anderen geben?“, worüber ich mich freue, ja, das wäre bestimmt in ihrem, der alten dame, sinne gewesen. aber auch das leben geht ja weiter und der große frieden macht sich am horizont zu bemerken, es ist alles schon ok so und gut, wie es denn eben war. „denk‘ nur an die zeit vor einem jahr, himmel, was da alles war…“ flüstert mir die zeit von vor einem jahr ins ohr. nun gibt’s ein grab zu versorgen, ich schaue mir die vielen frischen gräber an bezüglich grabpflege, zu der ich mich vertraglich ja verpflichtet habe. also blumen besorgen oder die grabpflege an eine gärtnerei übertragen, das will ich aber nicht, also erst mal bepflanzte schalen besorgen, besser noch: sie selber bepflanzen, am besten mit blumen aus dem garten, aber wann bitte wirft man den beerdigungsgrabschmuck weg? und wohin, ohne pietätlosigkeit? die rosen des sargschmucks sehen, nach meinem geschmack, noch gut aus. sie haben sich gut gehalten wegen der feuchten kälte in den letzten zwei wochen. ich bin ja visuell angelegt und habe daher meine eigenen vorstellungen von blumen und verträglichkeit von vergänglichkeit. und was man sehen darf und was nicht. derweil ich mich durchwühle durch die archivierungsmanie der verstorbenen und dort, in kisten, folien, kladden und schränken und antiken QUELLE-pappkartons mit noch vierstelligen adresskoordinaten aus der zeit vor dem internet, allerlei entdecke, als ebenso neugieriger erstmal nichtwegwerfer. alles geschichte und geschichten. als verstorbene/verstorbener hat man ja das recht, den nachfolgenden eier ins nest zu legen. kichernde verantwortungen zu übertragen. auf dass sie grübeln und sich erinnern. und entscheiden. und manches mal auch lachen müssen und gedenken im gedenken. im großen grunde aber ja auch ein privileg: nichts ist da heutzutage fremdentschieden und so wie noch bei den altvorderen gelegentlich einfach verbrannt. wahrscheinlich – nein, eher sicher – daher diese ungezügelte bewahrungswut der vom bombenhagel geprägten alten damen und herrschaften. der treuen fusspflegerin konnte ich noch echte kernseife am stück vor die tür legen, aus tiefer dankbarkeit. die gäbe es nicht mehr heute, das meinte sie schon vor drei jahren. und diese sei so wichtig für ihre arbeit. und drei päckchen mit ggf. relevanten erinnerungen habe ich versendet mittlerweile. eines sogar nach übersee. wertvolle tonaufnahmen, sechzig jahre alt. zwischenhinen allerdings überprüft es mich und meine von mir mir gedacht zugedachte aufgabe seitens des herrgottes: sollte ich besser einfach 2 mischcontainer bestellen und alles ungesehen hineinwerfen? alt genug wäre ich ja. ich überlege noch und kenne natürlich meine antwort. und immer, wenn ich dort bin, zünde ich ein kerzchen im garten im glas an. gerade heute, heute ist vollmond, und so sehr hell. da hat sie immer die vorhänge aufgezogen gehabt wollen im schlafzimmer, damit sie ihn vom bett aus sehen konnte. „schau mal, wie schön der mond – und so hell!“. gestern abend stand ich dort, wo ihr pflegebett stand, und dachte an die unzähligen dramen da und las und sortierte ebenso-unzählige briefe, die einst an sie geschrieben worden waren. das nachtlicht über der gegend hat immer geholfen und besänftigt. vor hundert jahren hat solches licht sicherlich auch schon geholfen und besänftigt. ich muss das alles noch zu ende bringen, da mittendrin. keine wahl hab‘ ich. immerhin habe ich eine erste schnelle malerei angefertigt vor ein paar tagen mit laut musik und offener türe zum milden garten, abends. der reflektierte titel: „Erste Arbeit als Vollwaise“, oma hätte gelacht, ich tu das auch, die kirschkern würde vermutlich trocken grinsen und auf die spinnen in den waldrandecken schielen. seit ich denken und erinnern kann, war ich immer ein „Halbwaise“. insofern dieser biografische wortwitz. kauft sowieso niemand, ist mir aber egal. demnächst dann wieder so wichtige bildthemen wie „frau“ oder „mann vor abreise“, „korrektur“ oder landschaft oder auto oder „was ich jemals lernte“ und dergleichen, ganz abseits des subjektes. mit natürlich ölfarben auf pappe, auratisch beigemischt vielleicht die reste der uralten ungefähr 1962 hergestellten tuben aus aluminium, meist erdtöne. und bald will ich endlich wieder mit dem sport beginnen jenseits der handwerklichen alltagsbewegungen, man muss diese ganzen geschichten ja auch einfach irgendwann wegrennen und damit erneut und höchstendlich transformieren, und zwar am allerbesten durch den mir immerdar zu allen zeiten so wohlgesonnenen WALD. der mich schon so oft begleitet und gut beraten hat bei allerlei, in lust wie leid und allen wettern. ein jedes hat seine bühne zur richtigen zeit, [nicht-wahr?], und nun nimmt er schon wieder ab, der mond zum fasten.

Ingeborg Margarete Marie Rogler, geb. Kober, 1926-2019

Ingeborg Rogler

Am Sonntag, also heute vor zwei Wochen, war das mit dem letzten Eintrag über die alte Dame.

Am Montag drauf fuhr ich nach Stuttgart auf die düstere Baustelle. Ein seltsames Gefühl drängte mich nach Hause und ich kehrte mittags heim. Ich fuhr direkt in die Klinik, sie lag da und atmete friedlich. Begab mich in den Garten, um die letzten Reste des Beschnitts vom Gartenwochenende vorher zu schnibbeln, es war ja so schönes Wetter. Führte zwei Arzttelefonate im Garten, beide meinten, es könne zu Ende gehen, aber auch das Gegenteil könnte der Fall sein. Man könne nichts wissen. Ihre Blutwerte besserten sich von Tag zu Tag. Ich verabredete mich mit Frau Mullah für viertel nach Sieben gegen Abend im Krankenhaus. Um kurz nach Sieben kam ich in ihr Zimmer und sah, dass sie nicht mehr atmete. Ihre Hand aber war ganz warm. Sie muss also gestorben sein, als ich ins Zimmer kam. Oder kurz zuvor. Als ich einparkte oder – anders als sonst – den schnellen Aufzug nahm in den zweiten Stock.

Und auch wenn man sich vorbereitet wähnt, seit langer Zeit, auf soetwas, und dadurch vielleicht geschützt, so ist es dann doch ganz anders als gedacht.

Nun wird das Telefon nicht mehr klingeln, dass die Mutter stürbe. Denn nun ist sie gestorben. Lieber wäre mir, es könnte noch klingeln, dass sie stürbe. Aber was sind das für Überlegungen. Es ist einfach ungeheuer traurig. Diese Macht der Trauer hätte ich nicht erwartet. Dabei ist es noch nicht einmal „tragisch“: Sie wurde 92 Jahre alt. Sie hatte keine jahrelangen schlimmen Erkrankungen. Seit ihrem Sturz vor dreieinhalb Jahren war sie zwar sehr eingeschränkt, sie hatte ein Auge dabei verloren, war immobil und saß im Rollstuhl. Aber zu Hause und klaren Verstandes, welch ein Glück.

Und mit dem Umzug der Kirschkern ins heimische Dorf 2016 hatte sie Familie um sich, dazu Frau Mullah, dann Salman und Bahram – fast eine große Familie. Immer sonntags wurde im Pfarrhaus gekocht, dann alles schnell ins Auto gepackt und hoch an den Waldrand gefahren, wo dann ausführlich gegessen, gelacht, gesprochen und palavert wurde. Sehr zu ihrer Freude. „Die vielen Stimmen, ach das ist das Schönste“ sagte sie oft. Und sie konnte sehr gut hören, ungewöhnlich für ihr Alter, bis zuletzt.

Allein die Zeit seit Anfang Dezember, als sie ins Pflegeheim umzog. Oder besser, umgezogen wurde. Weil es eben alles daheim einfach nicht mehr ging. Mir bricht Herz, wenn ich daran denke. Dieses sich anbahnte, dieses Drama der ihrigen letzten sechs Monate, seit dem Ende des vergangenen Sommers. Mit Sturz, viel Blut, Kliniken, Notärzten und vorrübergehenden Verwirrtheiten. Ich bin so froh jetzt, dass ich zweimal noch diesen Umzug verschob. Im Januar jetzt fragte sie mich, beinahe noch souverän und ganz beiläufig, wann sie denn nun „entlassen“ würde von dort. Und einer Freundin erzählte sie noch vor drei Wochen, ich würde sie „ja bald nach Hause holen und alles wäre wie früher“.

Geboren wurde sie 1926 in Berlin-Tempelhof als Ingeborg Margarete Marie Kober und Älteste von 5 Geschwistern. Der Pfarrerin, die die Beerdigung abhielt, schrieb ich folgende Bruchstücke an Informationen zu ihrem Leben auf:

Vater: Waldemar Kober, Berlin / Ursprung Thürigen / Eltern Fabrikanten mit Lederwarenfabrik in Berlin-Kreuzberg, Sebastianstraße / Militärlaufbahn bei der Marine, zuletzt Konteradmiral bis 1945 / Nach dem Krieg Laufbahn bei der Deutschen BP in Hamburg. / Mutter: Gertrud Kober, geb. Nitsch, aus Pillau (heute Baltisk) in Ostpreussen am Frischen Haff, deren Vater Ludwig Nitsch war Bauunternehmer in Pillau, „angesehene Leute“, „Opa war der erste, der den Angestellten eine Firmenrente bezahlte, ohne, dass er es gemusst hätte…“ etc. / Geschwister: Rosemarie, Hans, Liselotte und Helmut / Leben: Vater bei Marine, Mutter aus Ostpreussen, Stadt Pillau, bei Königsberger Seekanal. Daher viele Kinderurlaube bei den Großeltern dort an der Ostsee; Großvater Ludwig Nitsch und Grossmutter „Oma Mika“ (muss eine sehr liebe Oma gewesen sein!) hatten ein Sommerhäuschen im Ostseebad Neuhäuser nicht weit weg von Pillau; die Ostsee war ein Herzensmeer für Ingeborg zeitlebens. Kindheit, Jugend und Schule in Kiel, Wilhelmshaven und Pillau (viele Umzüge, wegen Marine, Vater) und in Berlin-Lankwitz. 1943 in Berlin (Lankwitz) ausgebombt, alles ist verbrannt (wichtiges Ereignis, hat oft erzählt davon), Vater schickt Familie im Frühjahr1943 nach Ostpreussen ins Sommerhaus Neuhäuser, zu den Großeltern, weil dort noch alles ruhig und keine Luftangriffe. Ingeborg fährt jeden Tag von Pillau aus nach Königsberg in die Schule. Abitur in Königsberg. Abends Mienenputzen (Dienstverpflichtung) dort im Hafen bis August 1944. August 1944 organisiert Vater die Umsiedlung der Familie nach Eisleben wegen Vorrücken der Russen im Osten, dort einquartiert. In Eisleben bis März 1945. Weiterreise („nachts, mit dem Bus wegen der Fliegerangriffe, in einem „Materialtransport der Marine von Bayern nach Cuxhaven“; dort einquartiert. Kriegsende 1945 bis September 1946 in Cuxhaven. Nach dem Krieg angestrebtes Medizinstudium („als Älteste von 5 Geschwistern“) leider nicht möglich, da Kriegsende und kein Geld. Vater kurz in britischer Internierung. Ingeborg absolviert eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester/Krankenschwester in Hungen/Oberhessen und Gießen. Reger Briefkontakt mit dem Vater. Ingeborg ist „Vatertochter“, so bestätigt mir ihr jüngster Bruder vor 1 Woche. Diverse Privatpflegen von Säuglingen reicher Menschen (ich glaube, meist aus Hamburg?). Danach Laufbahn in den 1950er-Jahren als Krankenschwester, Kinderkrankenschwester und Hebamme. Stationen: 1948/49 Cuxhaven, 1949 Traben-Trabach, 1949/50 Kiel, 1950 Cuxhaven, 1950-1954 Hamburg und Bremen, auch Klinikum Eppendorf Hamburg, 1954-1956 Heidelberg, 1956-58 Hamburg, 1958-1959 Ginnheim bei Frankfurt, 1959-1960 Heidelberg, …und sogar – das war ihr immer wichtig als „wegen des Krieges und der Zeit danach als ‚Nicht-Studierte’“ – Unterrichtsschwester (Lehrbeauftragte) in Heidelberg; 1959: Begegnung mit ihrem Mann Harald Alexander (Architekt, Maler) in Stuttgart; Dezember 1959 Hochzeit in Stuttgart, Harald bringt einen Sohn (Andreas, *1956/+ 2006, Halb-Bruder von Sebastian) mit in die Ehe. Die vorherige ist gerade geschieden. Februar 1960: Aufgabe des eigenen Berufes, der eigenen beruflichen Ambitionen in Heidelberg, Umzug nach Stuttgart, Zusammenleben mit Harald in Stuttgart in der Helferichstrasse. 1961 bekommt Harald Anstellung beim Universitätsbauamt Tübingen, Umzug nach Pfäffingen/Ammerbuch. Im Dez. 1961 kommt gemeinsamer Sohn Sebastian in Tübingen zur Welt, 1962/63 Grundstückskauf in Hagelloch – damals wollte noch niemand aufs Dorf ziehen. Hausbau, dank guter finanzieller Situation: Harald hatte – als Maler – einen guten Kontakt zu einer Kölner Galerie aufbauen können und in diesem Zeitraum viele Bilder verkauft. August 1964: Einzug von Ingeborg, Harald, Andreas und Sebastian ins neue Haus in Hagelloch. Harald, aufgrund Krieg und langer Gefangenschaft angeschlagen, erkrankt schwer, die Diagnose Bauchspeicheldrüsen-Krebs, als ggf. Folge der Mangelernährung 5-jähriger russischer Kriegsgefangenschaft, Harald starb am 24.1.1966 (übrigens dem Geburtstag der Kirschkern). Ingeborg also Witwe mit 39 Jahren nach nur 6-jähriger Ehe mit Harald. In der Folge musste A., der Sohn aus früherer Ehe Haralds, binnen 3 Monaten zurück zu seiner Mutter nach Bremen übersiedeln. Schwarzes Jahr 1966, aus 4 werden 2. Ingeborg bekommt eine Halbtags-Arbeit an der Medizinischen Klinik in Tübingen in der Verwaltung einer med. Studie zum Verlauf von Bronchialkarzinomen 1967. Als Hebamme etc. hätte sie nicht alleinerziehend Sebastian großziehen können, wegen Arbeitszeiten. Der Verkauf des noch lange nicht abbezahlten Hauses konnte von ihr irgendwie abgewendet werden. So also ca. 1967 Tätigkeit als Verwaltungskraft in der medizinischen Uni-Klinik Tübingen, ca. 1970 Wechsel ins pädagogische Seminar auf dem Österberg zu Prof. Flitner, Sekretärin, Verwaltung, halbtags. Ungefähr 1975 Wechsel ins neusprachliche Institut Wilhelmstrasse Neuphilologie, in die neugegründete Medienabteilung. Verwaltungstätigkeit, halbtags. Verrentung 1986. / Danach: Reisen nach USA, nach divers, nach Ostpreussen (1993 und 2000), DDR, Türkei, USA etc.; Engagement im Frauenkreis Waldrand, im Krankenpflegeverein Waldrand, im Altentreff Hirsch in Tübingen (obgleich da war sie nie die „Alte“, sondern hat den Tisch gedeckt für die „Alten“, also die Anderen, das war oft lustig für mich…); / Hobbies: Garten, Geschichte, Zeitgeschichte, Nachbarschaft, Geistesgeschichte, Tübinger Geschehnisse (oft ein bisschen zu sehr akademisch-orientiert. Wahrscheinlich ihre große innere „Wunde“, da sie nie studieren durfte/konnte.) / Höheres Alter: Eine Aufgabe fand sie in der „Rückkehr“ des Sohnes nach dessen privaten Schieflagen für die Enkelin Kirschkern, immerhin auch eine echte Berlinerin. / Das „Nest“ Haus Waldrand, was sie immer bieten konnte. Und wofür ich ihr auch sehr dankbar bin. / Bis 2015 Rommee-Spielen mit Enkelin Olga, etc., Oma mit Betreuungsaufgaben / Das erstaunlichste für mich: Sie ist ja Zeitzeugin, kraft ihres Alters. Und jeder neuen Situation ist sie, bis ins hohe Alter, stets mit v.a. viel Herz, Gnade und energischem Verstehen-Wollen begegnet. Sie konnte, bis ins hohe Alter, immer Neu-Denken, oder Um-Denken. Ohne Vorurteile. So hat sie 2016, als erste Reaktion, und schon schwer angeschlagen, die Aufnahme von 2 afghanischen jungen Flüchtlingen völlig selbstverständlich kommentiert: „Gut, das ihr das macht, ich war ja auch mal Flüchtling!“

Sicherlich hatten wir ein spezielles Verhältnis. Mutter – Sohn. Vaterlos, alleinerziehend, Vaterersatz und Liebesfokus für die Mutter, vatervorbildlos für das Kind, dass ich damals war. Der ältere Bruder plötzlich weg, die Mutter Witwe. Was ist schon eine Witwe, wenn man 4 Jahre alt ist? Der spätsiebziger Psycho-Mainstream schoss sich denn auch ein auf mich, sicherlich erstmal wohlwollend, als vater- und geschwisterlos mütterlicherseits Alleinerzogenem. Oft hatte ich seinerzeit so eine Ahnung, ich wäre Anschauungsbeispiel für mannigfache Theorien. Ich stand unter Beobachtung. Und ich müsse deren psychologischer Zuwendung, die in eine Richtung zielte, nämlich der Verdammung der Mutter und deren innerer Ermordung, dankbar sein.

Das hat mich unbestimmt immer abgestoßen. Ich sagte auch nie „meine Alte“ zur Mutter, wie so viele andere. Ich erinnere mitleidende Augen, denen ich damals noch nicht glaubhaft mitteilen konnte, wie auch, dass es mir, hey: gut geht. Ein hervorragendes Beispiel für allerlei Dogmen der Pädagogik und Psychologie sollte ich sein. Ich denke aber mal, ich habe da meinen eigenen wahren Weg gefunden. Und schlimme Streite und Ablösungen vom Bauch her in meinen Twens alleine erledigt. Mit Ingeborg und ohne Zeugen, nur wir zwei. Jemanden, der mich begleiten hätte können zwischen Mutterliebe und Abgrenzung hatte ich selten. Bitter ein bisschen, so in der Rückschau. Um so besser aber, da umso wahrhaftiger. Sie, die Mutter, hat mich gelehrt, notfalls alleine weiterzureiten, nach Westen. Und hätte es diesen einen Moment im Jahr 1986 nicht gegeben, wo ich meine (damals) unverschämte Mutter symbolisch ohrfeigte, ich hätte all diese spätere Begleitung Ingeborgs niemals leisten können. Bis jetzt vor 13 Tagen.

Ich habe sie danach, seit 1986, einfach gern haben können. Und das Verstehen ihrer Lebenslage. Wie sie auch immer das Verstehen der Meinigen. Und wir hatten ja einen schönen kleinen Schwur, den nämlich, dass wir uns begleiten im Leben, so gut es geht. So war das eben mit uns und dem, was diesseits so passiert. Ganz einfach. Konnten ja beide nix dafür, fürs Schicksal.

Am 25.2.2019 ist sie gestorben und ich habe ihre noch warme Hand gehalten. Dafür bin ich dankbar. Dass ihre Hand noch warm war. Am 4.3.2019 ist sie auf dem Friedhof in Hagelloch beerdigt worden, nach einer Trauerfeier in der Hagellocher Kirche. Eine Windböe, sehr stürmisch, kam plötzlich auf am Grab, als die Pfarrerin die letzten Worte sprach, ich dachte an die – Ingeborgs – Ostsee und dass um Himmels Willen niemand von herabfallenden Ästen getroffen würde. Danach riss der Himmel auf und es war so barock, wie sie es sich bestimmt gewünscht hätte, ohne dass ich es jemals verstehen werde, warum sie als Preussin immer dieses Rosa mitsamt dramatischer Himmelsstrahlen so mochte. Meine verdammt glückliche Jugend, trotz totem Vater und dergleichen, die danke ich ihr.

Jetzt steht da ein Holzkreuz, auf dem sie wieder vereinigt ist mit ihrem Mann. Nach 54 Jahren. Mit beiden Namen, endlich. Das war ihr größter Wunsch immer gewesen.

Sie hat in den 1990ern ihre „Memoiren“ und ihre Geschichte, und damit auch die des 20. Jahrhunderts, handschriftlich aufgeschrieben, mit einem alten Füller, in zwei Kladden. Vielleicht werde ich diese Berichte einmal Stück für Stück abschreiben und hie und da mitteilen. Ich bin jedenfalls vor allem so sehr froh, dass ihre Enkelin, die Kirschkern, sie und ihre Art, ihren Humor und ihre Erzählungen so lange und bewusst noch erlebt hat. Und daß nun vielleicht alles Ihrige Ruhe findet.

Und oft denke ich: Meine Mutter hat mich ja auch nur rausgeworfen, aus ihrem Ding. Hineingeworfen ins Leben, in irgendeines. Damals vor langer Zeit. Dafür danke ich ihr, auch gerne ahnungslos ob dem großen Ganzen. Ich hatte schon lange kein Problem mehr, „Mutti“ zu sagen. Mutti aber ist nun gestorben. Auch wenn ich das nie für möglich gehalten hätte. Das zu begreifen wird noch dauern.

Und jetzt wächst da aus dem Nichts eine fast weisse Osterglocke vor dem Fenster ihres Schlafzimmers am Waldrand. Ohne Zutun. Auch das sicherlich kein Zufall, genauso wenig wie der Zitronenfalter, der am Morgen nach ihrem Tod genau dort in der Sonne tanzte. Was wissen wir schon. Ich bin sehr traurig, aber das kriegen wir hin. Und Deinem Wunsch, ostpreußischen Sand vom Strand aus Neuhäuser in Deinen Sarg zu streuen, dem habe ich reichlich entsprochen. Ich hab sogar noch ein paar von Dir selbst aufgelesene samländische Bernsteine dazugelegt. Und eines Deiner vor allem in den letzten Jahren von Dir so geliebten Nimm2-Bonbons, die Dich durch die langen Nächte begleitet haben.

Leb wohl, Mutti.

ehingen adD

die krankenpflegerin sagt zu mir soldatisch und vorwurfsvoll mit ihrem rollenden R „waRum haben sie ihRe mutteR gestöRt?“ und ich muss kurz an mich halten, um freundlich zu bleiben. normalerweise mag ich ja das osteuropäische. „ich wollte lediglich meine mutter besuchen, die vor drei tagen einmal wieder fast gestorben wäre!“ denke ich energisch in den himmel gerichtet und behalte aber alles für mich, denn es ist ein sehr gutes krankenhaus. bloß nichts falsches sagen und weitere unnötige baustellen oder löcher in strassen, die noch ausreichend befahrbar sind. und gegen die ich ja gar nichts habe, eigentlich.

bemerke wieder diese anhaltende latente gereiztheit bei mir. derzeit darf mir keineR… kommen. und keine. schon ein paar male bin ich aus dem nichts in dinge hineingeschlittert im vergangenen halben jahr, dessen glättungen unendliche unnötige energie verschlangen. ich bin doch gar nicht so einer, eigentlich. es ist eine anspannung, ein hin- und her mit der alten dame, sehr groß und emotional, wie feuer und wasser, die ganze zeit. und mit der sensenfrau, diesem unsäglichen sterbewesen. es ist ja eine sackgasse, vielleicht eine ganz beschauliche manches mal, aber es gibt da keine nebenwege mehr. es kommt nur darauf an, wie lang diese gasse ist, wie sie sich gestaltet und erstreckt, wie lange sie noch andauert oder wie schnell man da heineinläuft, in diesen weg ohne irgendwann mehr offenen türen an den seiten, aber mit hübschem pflaster auf dem boden und ausreichend proviant seitens sense.

wieder einmal war es das blut, es ist eben ihr thema. vielleicht ist es ja auch meines? ihre blutgerinnungswerte lagen nach einer infektion und nun wohl einer lungenentzündung bei null. auch die aufnehmende ärztin schaute mich überrascht an. übersäht mit hämatomen war sie, jede kleinste bockelei ein bluterguss, der nicht versiegt. sich nicht schließt. weshalb eine überweisung ins krankenhaus erfolgte, aus dem pflegeheim heraus, in dem sie sowieso noch nicht innerlich angekommen ist und das vielleicht auch gar nicht, niemals, will. wieder die fragen, ob noch verlegungen in andere kliniken erfolgen sollten, sollte sich ihr zustand verschlechtern. und unterschriften kraft generalvollmacht. es sind die blutverdünner, die sie all die letzten jahre vor herzgeschichten und schlaganfällen bewahrt haben.

sie fragt mich am freitag morgen mit einem klaren und kindlichen schmiss im offenen, fast schon pfiffigen blick, prothesenlos und beinahe neugierig, „muss ich denn jetzt sterben?“ was soll ich da sagen, mutter, antworte ich, ich weiss es nicht, vielleicht ja, vielleicht nein. ich weiss es einfach nicht, und füge hinzu „…aber liebe grüße von der kirschkern! du weisst doch, wer die kirschkern ist, oder?“ „na klar“ sagt sie fast empört und bemüht souverän und schmunzelt auf die ihrige norddeutsche art, (sie würde sagen: ostpreussisch), die ich so mag. nach all den jahren immer noch, immer wieder, und immer noch.

einige schwestern dort im krankenhaus kenne auch ich nun schon sehr lange. erinnerungen an das jahr 2015 kommen mir hoch, als ich überstürzt aus dem mittelmeerraum nach hause flog, da die mutter nachts gestürzt war und ungefähr „zwei liter? blut“ verloren hatte. schon damals sagten alle pflegekräfte und doktoren ebendort erstaunt und herzensgütig „wir hätten nicht unbedingt gedacht, dass sie das überlebt.“ trockenheit in wissenden und wohlwollenden auskünften ist balsam auf die seelen der angehörigen. dieses krankenhaus, wo sie nun gerade abermals liegt, ist das beste, was ich kenne. dort will ich auch mal sterben, auch wenn ich noch überhaupt keine lust drauf habe.

umso schöner am heutigen sonntag ein ausflug auf die schwäbische alb, der himmel blau, die sonne schön, das draußen schnatterkalt. der wagen schnurrt. die schwäb. alb, die ich so sehr mag. und die gegend kurz dahinter, das nördliche oberschwaben, das ich auch so sehr mag. frau mullah predigte vertretungsweise in einer sehr schönen kleinen kirche, danach gab es noch einen kirchenkaffee im gemeindehaus, auch insassen eines ländlich offenen strafvollzuges aus der ländlichen nähe waren dabei. da würde ich schon sagen, gelebtes christentum und alteuropäischer wertekanon. all die stillen, die eben machen und ihr machen nicht stets an die große glocke hängen, ein älterer landwirt leistet stets fahrdienst und holt und bringt die verhafteten, ohne mit irgendeiner wimper darüber zu zucken. jedenfalls kenn ich die wimper nicht.

danach weiter nach ehingen a.d.Donau, in die städtische galerie, wo ein sehr geschätzter kollege eine einzelausstellung eröffnete mit wunderbaren malereien. hier, in ehingen, hatte ich viele wertvolle kinderurlaube verbracht. und auch im gemeinsamen heranwachsen mit dem dort besuchten jugendfreund befinden sich einige schlüssel und markierungen meiner grundprägung. „wenn der S. barfuß auf einem weissen Schimmel zum Brötchenholen morgens ritt…“ und so weiter. auch heute habe ich dort ein paar menschen getroffen, mit deren erzählungen mich dies und das sehr verbindet. der kinderarzt, vater des jugendfreundes, munderkingen, rechtenstein. ob es tatsächlich ein weisser schimmel war, wer weiss das schon, hauptsache barfuß und auf einem pferd. im winter, zum brötchenholen für die WG, die seinerzeit platz im bauernhaus oder altenteil bekam, oft zunächst misstrauisch, aber mit eisblumen irgendwann nachts an den den einfach verglasten hundert jahre alten fenstern. /es war ein wunderschöner tag.

und nun ins bett sowie schlafen schnell. denn es könnte ja jederzeit das telefon klingeln, die mutter stürbe, wie seit dreieinhalb jahren jetzt schon.

urige weisen

Salman war beim Oberbürgermeister geladen. Offizieller Empfang für eine ausgewählte Gruppe Geflüchteter, die eine Ausbildung in der Stadt absolvieren. Die Ausbildungskosten des ersten halben Jahres übernimmt die Stadt, um den Betrieben das Risiko zu erleichtern und zu animieren. Schön. In Big-Family witzeln wir darüber: Salman als neuer Personenschützer von OB Palmer. Das wär‘ ja noch was. Schon immer haben wir gesagt, Salman wäre der geborene Bodyguard!

Den vom Oberbürgermeister angedachten „doppelten Spurwechsel“ (x) bejaht Salman vehement. Er ist schließlich Betroffener. Man kann sich natürlich innerlich winden dabei, aber auch mir erscheinen diese Vorschläge mittlerweile plausibel, zumindest deren Richtung, auch, weil ich die Jungs und die ganzen Flüchtlingsdinge ja nun seit 3 Jahren recht nah erlebe. Vor allem auch aus der Sicht von Bahram und Salman. Von Anfang an wundern sie sich, dass bei Vergehen im Grunde wenig relevante „Sanktionen“ folgen. Das schadet dann vor allem denjenigen, die sich anstrengen, die etwas wollen und sich ausserdem an die Regeln halten – sie, Salman und Bahram, wurden oft belächelt dafür von denjenigen Kumpels, die sich nicht um hiesige Gesetze und kollektives Miteinander scheren.

Oder, noch eher harmlos, das Gebot des vorgeschriebenen Schulbesuchs. Spürbare Konsequenzen in schlimmen und kriminellen Fällen (Verlegung zurück in Sammelunterkünfte und Sachleistungen anstatt Geld etc.) scheinen brauchbare Mittel zu sein. Nicht schön, aber eher und leider realistisch. Das hat nichts mit aufgeklärtem Geist zu tun, aber was und wer hat das schon noch derzeit überhaupt. Wo schwebt das? Aufklärung muss man ja auch wollen. Oder man lässt es bleiben.

Einfach, aber schade. Schade, aber einfach.

Und andererseits wäre es schön, wenn diese ganzen Anstrengungen derjenigen jungen Leute, die sich die größten Mühen geben, endlich auch einmal honoriert würden, zum Beispiel durch einen sichereren Aufenthaltsstatus. Was fair wäre, menschlich wohlwollend und auch ermutigend, weitere Schritte hierher zu gehen und anzukommen.

Bahram wird seine im September begonnene Ausbildung zum Industriekaufmann wohl leider erst einmal nicht erfolgreich weiterführen können. Wegen Sprachproblemen und schulischem Spezialwissen. Denn eigentlich spricht er hervorragend Deutsch und klug ist er auch. Es gab einen Termin, bei dem sich alle Beteiligten zusammensetzten, um zu beraten, wie es denn nun weiterginge. Jugendamt, Betreuer, die ausbildende (und nach wie vor sehr wohlwollende) Firma, eine sehr kompetente und hilfsbereite Vertreterin der IHK sowie Frau Mullah als Ex-Pflegemutter.

Schön ist, dass er den Mut nicht verliert. So scheint es jedenfalls / hoffentlich! Im Gegenteil. Auch wenn das alles so viel an Zeit braucht. Er möchte nun zwei weitere Jahre zur Schule gehen und dann seinen Realschulabschluß erlangen. Und nebenher weitere Intensivsprachkurse besuchen. Um dann, in zwei Jahren, vielleicht diese Ausbildung fortzusetzen. Es gibt nach wie vor einen guten Kontakt zu den Jungs. Ganz normal eben. Die „Kinder“ sind aus dem Haus und machen ihr Leben. Im besten Fall hat man weiter Fäden, Farben und Austauschendes. Und steht bereit, wenn es etwas zu helfen gibt. Bei der Kirschkern ist’s ja nicht anders. Und wieviele große Kinder ändern nicht nach einer ersten Zeit ihren beruflichen Fortgang? Hat man selber ja vielleicht auch getan. Eigentlich nichts ungewöhnliches. Wenn nur nicht immer noch so etwas wie „Abschiebung“ drohen würde. Wie will ein Mensch denn da sein Leben planen?

Ich hörte in der vergangenen Woche von einer Studie, wonach künftig pro Jahr ca. 250.000 Arbeitskräfte in’s Land geholt werden müssten. Kaum zu glauben, ganz schön viele. Auf jeden Fall doch bitteschön sollten unbedingt Bahram und Salman dazugehören, auch jenseits ihres derzeitigen Aufenthaltstitels: Beide sind mittlerweile so dermaßen integriert, davon können andere nur träumen. Und es wurde ja auch, mal ganz nüchtern, viel Geld erfolgreich investiert dafür bisher. Auch jenseits des Persönlichen, nämlich als Steuerzahler, werde ich mich also vehement für ein Bleiben der beiden Jungs einsetzen.

(…und dafür, dass Afghanistan endlich als ein nicht-sicheres Herkunftsland eingestuft wird. /ceterum censeo, sagte ich ja schon öfter.)

„denke schon länger, ich würde mich schnell und bald irgendwie in die – jene – wälder zurückziehen, wenn ich denn nur wüsste , wo diese wälder wären. selbst dann sogar, wenn ich das nicht wüsste, wo sie wären, würde ich mich in jene wälder zurückziehen. #“

„okay ist das, na logisch klar, so wie die jungfrau kind gebahr. doch schöner noch als unbefleckt (…)“

/auf Zetteln urige Weisen.

ich selbst habe in diesen tagen gouache-farbe angemischt zum retuschieren an den wandflächen eines treppenhauses des ausgehenden 19. jahrhunderts. da diese jedoch immer wieder unregelmäßig und unkontrollierbar in ihrer endgültigen farblichen erscheinungsform auftrocknete aufgrund der mannigfach unterschiedlichen untergründe, habe ich dann farbe auf der basis von alpinaweiß, also dispersionsfarbe, angemischt. zumal, da der ist-zustand der gefassten stuckoberflächen dispersionsfarbe der letzten maßnahme aus den 1960er-jahren zeigt. (das ist ja das problem.) in reversibel relevanten bereichen wird nun wasserlösliche temperafarbe angewandt, auf neueinputzungen und in beanspruchten partien (treppenhaus), zum beispiel direkt oberhalb des handlaufes am geländer, wird fortan farblich abgetönte dispersionsfarbe aufgebracht. normale und übliche kittungen und verspachtelungen erfolgen mittels gips/kalkglätte im verhältnis 1:1, für feine haarrisse wurde eine getönte kittmischung eigens entworfen und hergestellt, hierfür konnte das pigment TITANWEISS-NATUR der fa. kremer pigmente der gips/kalk-mischung im verhältnis 1:8 zugegeben werden. die mit H2O angemischte Melange wird händisch mit daumen oder zeigefinger in die haarrisse gewischt, nach ca. 10min werden mit einem schwamm und stets klarem wasser die ränder sorgsam versäubert. (…).

heute haben wir im garten einen jasim und zwei äpfelbäume gestutzt und geschnitten. die jungs und einer ihrer sehr netten freunde haben tatkräftig geholfen. afghanen sind weltmeister im bündel-schnüren, so dass ich mit drei fahrten zum nahen kommunalen häckselplatz alles schnittgut habe sofort entsorgen können. ein großes dankeschön für die mithilfe!

am montag ist restmüll. die tonne ist mal wieder voll vom haus. am dienstag abermals gelber sack, diesmal sind es 12 säcke voll mit haus, ein paar tetrapacks und urige weisen sind auch dabei. und heute vor acht jahren schaute ich mit frau mullah den film „Soul Kitchen“ an, was mich bis heute ganz besonders glücklich macht.

29.1.2019/Andor

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Allmählich wird eine möglicherweise gemeinte Innenarchitektur wieder sichtbar. Die Klärung der Räumlichkeiten der 1960er Jahre hat etwas Reinigendes. Sodann die Kritik der 1960er Jahre, ästhetisch, dazu subjektiv und angewandt. (…) Und aber auch der Bezug zum „Neufertschen Versuchshaus“ im kleinen Dorf Gelmeroda bei Weimar, in dem der Architekt des Waldrandhauses, mein Daddy, der sich leider allzufrüh weggemacht hat und mir nie mehr persönliche Auskunft geben konnte, einen Teil seiner Jugend verbrachte (hier: x).

Bevor er sich freiwillig meldete in den großen Krieg, sei es zur Erlangung der Hochschulreife und oder aus verklärt ideologischen Gründen. Habe Skizzen und Entwürfe gefunden über ein für heutige Verhältnisse eher kleines Waldrandhaus, das es so allerdings nicht gibt. Wahrscheinlich wäre die Realisierung vieler ursprünglicher Ideen zu teuer gewesen. Auffällig ist eine – seine – Vorliebe für wechselnd geschossübergreifende unterschiedliche Raumhöhen. Ein Kinderzimmer, kaum 3×3 Meter in der Grundfläche, aber mit Luftraum über zwei Stockwerke. Geplant, aber nicht gebaut. Direkt daneben ein kleines Zimmer für’s geplante dritte Kind, die Raumhöhe misst gerade mal 2,10m. Daneben wiederum ein noch kleineres Kämmerchen, in dem die Kinder irgendwie Nachtruhe finden sollten, im engen Doppelstockbett. Und vom 1. Stockwerk aus kann man ein Fensterchen öffnen hinunter in die Küche.

Und der jeweiligen Köchin/dem Koch ein Küsschen hinunterwerfen. Das hat was, bis heute.

Überhaupt, die unterschiedliche Größe der Räume. Ich erinnere mich an studentische Mieter in den späten 1960ern in Kleinräumen mit Waschbecken im Zimmer, oder ohne. Wo geduscht wurde, ich weiß es nicht. Damals wurde offenbar selten oder nicht zu Hause geduscht, man wusch sich am Waschbecken, zur Not über den Flur. Oder eben woanders. Alle Mieter waren meist nett zu mir und zogen irgendwann aus. Oder um oder weiter. Um zu heiraten, zu promovieren oder weil sie weg vom Waldrand wollten. Wohin, ich wusste das nie, weil es mich nicht interessierte, da ich zu klein war. Aber es war auch egal, weil zu Weihnachten stets Grüße an meine Mutter kamen, dazu den Hund und mich. Das war wichtig.

Einer der Mieter hieß „Herr Ohmeyer“, ein anderer „Herr Walker“. Herr Walker war auch Panzerfahrer, das beeindruckte mich. Mir war es aber vor allem gelegen, daß sie sich mit meinem liebsten Hund, einem Boxerrüden mit Namen ‚Andor‘ („…von Lampertsrück“, so der Stammbaum, der der alten Dame überaus wichtig war) gut verstanden. Andor, dem stolzen Boxerrüden, musste das Bellen erst mühsam beigebracht werden. „Andor“ stünde für „Andreas“ auf Ungarisch. Ich habe nie verifiziert, mir gefiel der Name, der Rest war mir egal. Es war Professor Schiwago, auch ein Mieter, der sich nicht zu schade war, sich mit dem noch jungen Hund vor die gläserne Flurtüre hinzuknien und auffordernd bellende Geräusche in Richtung der Eingangstüre zu knurren. Ich erinnere gut, wie Andor ihn belustigt von der Seite her anstarrte und ihm dann – ohne lautzugeben – freundschaftlich grinsend (Andor konnte grinsen) das Gesicht ableckte.

So ging das Wochen. Monate.

Irgendwann bellte Andor dann eben. Aber eigentlich nie wirklich böse. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass es die Menschen glücklich machte, wenn er bellte. Und dass es offenbar dazugehörte zum stolzen Rüdendasein, zumal mit Stammbaum. Am liebsten aber zerkaute er Gummistiefel, die irgendwo vor Haustüren in der Nachbarschaft abgestellt waren. Oder auf den Baustellen der Erweiterung des Neubaugebietes die Schuhe der Handwerker. Meine Mutter hatte rechtzeitig eine damals noch neue „Hunderversicherung“ abgeschlossen.

Vorschreiben ließ er sich nichts. Wenn er beschloß, sich zwei Stunden lang im Wald herumzutreiben, dann machte er das eben. Meine Mutter konnte Kopfstehen, das war ihm egal. Das gefiel mir. Er lächelte das weg, schaute einen noch kurz entschieden und frech an und verschwand mit einem Sprung über den Zaun. Nach drei Stunden war er dann wieder da, freundlich, dreckig, offenbar voller Erlebnisse und froh. Wenn er einen Hasen sah auf den Wiesen frühmorgens bei der Hunderunde übers Streuobst, dann jagte er los und er hat mich oft meterweit hinter sich her geschleift. Die Leine wollte ich nicht loslassen. Meine Kleidung war grün und nass von der Wiese und ich musste immer so lachen. Er auch (er konnte ja lachen). Meine Mutter nicht, denn ich musste mich ja noch zur Schule umziehen, wie sie meinte.

Schon lange stehen auf diesen Wiesen Häuser, die jetzt auch schon alt sind und in denen die Leute reihenweise nun sterben, nachdem sie vorher verwirrt wurden.

Bis heute bin ich Andor für Vieles unsagbar dankbar. Er hat mir eine Menge beigebracht. Ich habe viel von ihm gelernt, wie man sich als Mann verhalten muss. Als stolzes Männchen. Er war auch sehr geduldig und verständnisvoll mit mir, wenn es um die Alphatierdinge und Rangfolgen ging. Wer Chef sei, das war ihm relativ egal. Fast würde ich daher sogar sagen, er war weise. Und einfach ein Geschenk des Himmels. Für mich. Kann gut sein, er hat mir etwas über wahre Liebe und Zuneigung beigebracht. Ich bin mir darüber sogar sicher.

Am 6.1.1969 wurde er geboren. An seinem Geburtstag bekam er immer eine große runde Wurst mit rotem Schleifchen. Er ist gestorben irgendwann im frühen oder mittleren Jahr 1981. Auf seinem Grab im Garten wächst stetig eine kleine Rose, die sich bis heute nicht unterkriegen läßt vom verwilderten Rasen, anderen Gräsern und Gewächsen und auch nicht von der Zeit.

parole EMIL

15.1.2019, Waldrand / Heute die halbhohen Schlupf-Timberlands von 2010 zur Neubesohlung gebracht. Teure Schuhe kaufen lohnt sich. Vorher im Baumarkt eine weitere Aluminiumkiste gekauft zur Archivierung. Jene soeben mit einer handgeschnittenen Zinkblechschablone aus alten DDR-Armeebeständen, erstanden billig vor 12 Jahren am Arkonaplatz, besprüht/beschriftet. Trocknet bis morgen. Alte Liebesbriefordner gestapelt, ebenso Scheidungsakten von 1959, alles nicht meins. Kommt alles in die Kiste, auch die Manuskripte zu „Die Pflege des gesunden Kindes“ von 1967. Eine Kiste wird nicht genügen. Nachmittags taute es, dann kam ein Gewitter und nun ist alles wieder verschneit und gefroren. Eben noch den öffentlichen Fußweg entlang des Grundstücks gestreut für die Zeitungsfrau, die morgen früh den Nachbarn die Zeitung bringt ans Haus.

Ein sehr schönes Wochenende in Schwäbisch-Hall haben wir verbracht. Zu zweit, in einem Hotel direkt am Marktplatz. Adelshof sein Name. Ich möchte das gerne empfehlen.

Sodann nach Berlin gefahren. Alles war grau dort, nass, dunkel, kalt und dreckig. Ich mag das. Viele gute Freunde getroffen und eine Menge aushäusig gewesen. Der Kohleofen im dortigen Atelier tut gute Dinge, ich hoffe, sie lassen ihn mir noch recht lange. Fünf mal ist mir der Bus direkt vor der Nase weg. Das war fast schon eine Serie, die ich aber annehmen konnte. Völlig gelassen. Ein schönes Geburtstagsfest in Moabit habe ich besucht, zwölf Jahre ist das Kennenlernen nun her. Schön, dass sich das alles schon lange verpuppt hat, diese Zeit. Sie nimmt mir niemand und ich kann alles in eine Kiste packen. Und klar wie Glas, Kloßbrühe und Klärchen.

Bin oft froh jetzt. Sowie erleichtert. Und habe viel vor. Das gefällt mir. Die neue Wohnung ist ein Nest, in dem ich gerne bin. Reutlingen ist eine äußerst verkannte Stadt, wie so viele halbgroße Städte. Das muss sich ändern. Außerdem werde ich nun Müll-Spezialist. Auf dem Wertstoffhof könnte ich gut arbeiten. Vielleicht sollte ich einen eigenen Wertstoffhof aufmachen. Ich liebe einfach: Die Dinge. Und ihre Aura. Und ihre Unschuld. Ganz gleich, welche. Fast alle.

Das Hohenlohische ist eine wunderbare Gegend./(Ebenso die Schwäbische Alb sowie der Nordschwarzwald sowie generell der Schwarzwald. Dazu das Allgäu und sowieso Oberschwaben. Und die Weiten Brandenburgs natürlich ebenfalls.)

In der Diskussion um den Dieselmotor erstaunt mich am meisten, dass verschiedenste Argumentationen sich kaum auf geklärte oder eindeutig nachgewiesene Fakten und Erkenntnisse berufen. Das macht mir Sorge und Runzeln. Es scheint der Wiedereinzug vorschnell emotiononal gefühlter Scheintatsachen zu sein in konkrete politisch weitreichende Entscheidungen. Das war vor zwanzig oder dreißig Jahren noch anders. Ich kenne das so nicht und vieles kann ich nicht nachvollziehen. Umso weniger, je mehr ich mich hie und dort konkret informiere, wie ich das so gelernt habe in der Schule. Ähnlich bezüglich des derzeitigen Schneewetters: Die Klimawandelleugner fühlen sich bestätigt und melden sich sogleich verächtlich in Sozialmedien zu Wort. Ohne vorher gründlich zu recherchieren. Geschweige denn, erst einmal abzuwarten. Man hält da doch als halbwegs Denkender lieber kurz erstmal den Mund, oder nicht? Wenn man nichts Genaues weiß. Die Ratio ist ein wertvolles Teil. Altmodisch.

Las im Mainstream vom mainstreamendem „Hodenlifting“. Kann das unbesorgt abhaken. Dafür allerdings rauche ich noch, mein letztes Problem. Weiss aber, was gemeint ist, aus gesamtdeutscher Sauna. Bin demutsvoll dankbar, solidarisiere mich aber auch mit allen Betroffenen, da ich nichts Schlimmes an hängenden Hoden finden kann. Stets wird ja die Vulva immerneu entdeckt. Seit ich denken kann. Da habe ich auch überhaupt nichts dagegen. Aber wieso nicht endlich auch einmal das Skrotum mitsamt angrenzendem Restgenital des wohlwollend und liebevoll friedlich sinnlichen Mannes, egal wie alt?

Ich solidarisiere mich daher frech mit allerlei „alten weissen Männern“. Nicht mit allen natürlich. Es ist aber ja nun nicht alles nur Mist, was von denen so kommt. Und niemals würde ich so etwas umgekehrt zurkenntnisnehmend gutheißen. Auch nicht, als ich jung war: „Alte weiße Frauen“ – fürchterlich diese Verortungen. Was soll das. Mein Vokabular und mein Verständnis kennt das nicht und kannte das auch nie. Egal, wer sich nun hoden- oder busenhängend auf solcherlei einschwenkt. Das ist ein wenig wie beim DIESEL oder der Energiewende. Wieso ist derzeit immer alles so hässlich formuliert und Ausschließlichkeiten zugewiesen? Dazu in höchst abwertender Weise. Abgrenzung ist die allseitige Devise, anstatt Gemeinwesen. Wie im Straßenverkehr.

Empörtheit oder Schockiertheit erspare ich mir. Viel zu sehr wird es ja nicht erst neuerdings darauf angelegt, zu empören oder zu schockieren. Wenn man darüber das „Schockiert-sein“ endlich mal abstellen würde, dann wäre schon viel dafür getan, dass die provozierende Blödheit endlich aufhört, sich ewig neu zu erfinden. Ist wie auf dem Spielplatz: Das Dorf erzieht die Kinder, notfalls und sogar auch die AfD.

9.1.2019, Berlin / Salman ist offenbar gut aufgehoben in seiner Firma. So sagt er. Die Ausbildung macht ihm Spaß. Männerladen, Maschinen, mehr und mehr Verantwortung, die ihm gut tut. Und die er gerne annimmt. Er legt sich ins Zeug und bekommt Anerkennung. Das Alleinewohnen funktioniert. Auch das frühmorgentliche Aufstehen. Er kann jetzt sogar monatlich etwas Geld ansparen, worüber er sehr stolz ist. Frau Mullah hat ihm das vorgelebt und beigebracht. Und er zahlt nun regelmäßig in die Sozialsysteme ein. Zudem werden ihm – so ist die Regelung – jeden Monat vom Gehalt Beträge seitens des Amtes einbehalten. Das ist sein Beitrag zur Rückerstattung der Kosten, die für ihn in den ersten zwei Jahren nach seiner Ankunft in Deutschland angefallen sind.

Er hat Anzeige erstattet gegen zwei albanische Jungs, die ihm im Regionalzug nachts sein Telefon abnehmen wollten, was denen natürlich nicht gelungen ist. Ein bisschen Blaues Auge. Einer ist vorbestraft und nun untergetaucht. Seither häufen sich Besuche bei ihm, von Gestalten, die ihn dazu bewegen wollen, die Anzeige zurückzuziehen. Jemand hat den Besuchern verraten, wo er wohnt. Mal wird ihm eine junge minderjährige Frau als Besänftigung angeboten, mal reden die Besucher von muslimischer Brüderlichkeit. Der Untergetauchte würde natürlich bestraft, aber doch bitte nicht von der Polizei. „Die waren sehr freundlich“ sagt er. „Natürlich sind die freundlich, erstmal“ sagen wir ihm. Hoffentlich geht das alles gut und ihm stößt nichts zu. Denn eigentlich will er einfach nur seine Ruhe.

Irgendwann will er nach Hamburg gehen. Dort gäbe es ja Arbeit genug für Leute mit seinem Beruf. Hamburg ist „meine Stadt!“, sagt er mit leuchtenden Augen. Die Firma beteiligt sich vielleicht demnächst an den Kosten seines Führerscheins, denn sie brauchen Leute mit Führerschein. Vielleicht ja sogar dann irgendwann für den LKW. Von seinen Kollegen mit Migrationshintergrund sei er derjenige, der fast am besten Deutsch sprechen würde, sagt er, nicht ohne Stolz. Und das, obwohl die Anderen ja schon viel länger da seien.

Das macht natürlich auch uns ein wenig stolz. Als Ex-Pflegeeltern. Nun ist er bald seit drei Jahren hier. Schon drei Jahre. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Erst drei Jahre? Alles war neu für ihn. Eine ungeheure Leistung seinerseits, was er in dieser Zeit gelernt und vollbracht hat.

Sein kleiner Bruder hat ihn im Internet entdeckt und sich gemeldet. Große Freude! Er ist nun wohl in der Türkei. Geflüchtet aus dem Heimatort in Afghanistan mit irgendeiner von dort ebenfalls flüchtenden Familie. Die eigene Familie gibt es ja nicht mehr nach dem gewaltsamen Tod des Vaters. Sein Bruder ist jetzt ungefähr elf Jahre alt und fragt ihn, Salman, seinen größeren Bruder, ob der Geld brauche. Er arbeitete wohl zunächst in einer türkischen Fabrik, nun aber in einer Landwirtschaft. So berichtet jedenfalls Salman, der nun alsbald unbedingt irgendwie in die Türkei reisen will, um dort seinen kleinen Bruder endlich wiederzutreffen. Was derzeit für ihn natürlich kaum möglich sein sollte.

/Was sind das alles für Geschichten? Und Lebensläufe? Und wer schreibt das alles irgendwann auf?

Heute (18.1.2019) wurde im Bundestag über die Einordnung einiger Mahgreb-Länder als „sichere Herkunfts-Staaten“ debattiert. Daher, um es einmal wieder anzumerken: Wann endlich wird das im Chaos versinkende Afghanistan als „unsicheres Herkunftsland“ eingestuft?

Und immer noch verbirgt er, Salman, oft schamhaft sein Lachen hinter seiner vorgehaltenen Hand. Wie ganz am Anfang. Das ist sehr schön, anrührend und sympathisch, das mitzubekommen. Ein geschlagener Charmeur, und oft noch ein kleiner Junge, mitten drin im Großwerden. Der sich garantiert nicht jünger gemacht hat bei seiner Ankunft in Bayern, sondern eher schon älter sein wollte und cool. Der nach wie vor hanseatischen Hip-Hop hört, weil er offenbar irgendetwas von sich darin gefunden hat. Und der immer wieder grinsend sagt: „Ey Bro, ab 20/20 ist Schwein halal!“

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wie leben denn so funktioniert. die alte dame ist nun im pflegeheim. sie hat das haus angefüllt über jahre mit größtmöglicher geschichte. und ich bin größtmöglich, dummerweise, auch immer wieder empfänglich dafür. nicht nur, aber auch. eine zeitaufreibende und fressende liaison, denn nun muss ich sichten und räumen, um diese ganzen jahre größtmöglich schnell und fair zu ordnen. die eine parole EMIL jagt die nächste, auch wenn diese bereits vorhergehende jahre zurückliegen mag. gern bin ich EMIL, aber ich heiße halt nicht so.