Risikopuppe

Risikopuppe

Das Lachen wird spätestens dann vergehen, wenn die ersten Bekannten sterben.

Überbevölkerungen und deren Eigenreduzierung haben ja stets zu Erneuerungen und Fortkommen des Kollektivs beigetragen. Welches Kollektiv? Denke an Rattenvölker, die sich angesichts Rattenüberbevölkerung freiwillig von den Klippen ins Meer stürzen. Oder an alte weise Elefanten, die sich in den Dschungel zum Sterben verabschieden, um der Sippe nicht weiter zur Last zu fallen. Oder alte ebensoweise Eskimos, die ins Eis gehen, wenn sie spüren, dass die Zeit gekommen ist. So will ich das eigentlich auch mal machen, wenn mir die Stunde schlägt. Mir eine Flasche Schnaps greifen im Winter, dann in den Wald gehen und Lebewohl. Erfrieren, vornehmend hilfreich betrunken. Schon Jack London schrieb, erfrieren sei eigentlich ganz schön. Frau Mullah sagt mir dann immer „Sagste halt, wo im Wald Du dann bisch, gell? Damit wir Dich dann auch rechtzeitig finden.“

Das freut mich natürlich insgeheim irgendwie.

Mortalitätsmodelle, Kriegsmedizin, Darwinismusanlehnungen, Kurvendiskussionen und Evolution, dazu moderne Welten. Man stelle sich vor, dieses Virus würde v.a. die Jungen dahinraffen und die Alten blieben verschont. Das wäre dann ja noch furchtbarer.

Auf der Baustelle keine Masken. Es ist dort ohnehin nicht voll. In der Kirche (übrigens Rokkoko) arbeiten vier Menschen. Die Kirche ist groß. Und mit der M., die mich bat, ihr etwas auszuhelfen bei den anstehenden Arbeiten, saß ich sowieso schon vor einer Woche im Auto. Also was soll’s. /Da kann ich ihr dann auch die Hand geben zur Begrüßung oder wir essen ein Süppchen zu Mittag vis-a-vis, das sie mitgebracht hat. Ich habe noch nie eine Gulaschsuppe in einer Kirche gegessen. Es ist ohnehin seltsam, an der Bewahrung barocken Kulturgutes zu arbeiten, derzeit. Man möchte fragen: Welche Überlieferung soll hier stattfinden? Angesichts der jetzigen Gesamtsituation. Man könnte also eher zur inneren Ablenkung neigen. Aber trotzdem ist es gerade jetzt schön und wichtig, dass es etwas zu tun gibt. Arbeit. Die gespielte Wahrnehmung von Normalität ist ja immerhin auch evolutionär.

Alles Freiberufler, Solo-Selbstständige. Da darf nichts dazwischenkommen. Bloß keine Quarantäne. Und dann alle Anderen gleich mit in den Strudel vom Verdienstausfall. Frage mich die Tage auch jetzt öfters, wer wohl in einem Jahr noch die Wiederherstellung alter Kirchen und Gebäude finanzieren mag, wenn dann das ganze viele schöne Geld ausgegeben ist. Geschweige, wer dann noch Bilder kaufen kann und will. Da sind wir doch mal mächtig gespannt, sagt mir mein vorsichtshalber dreifach gespiegeltes Über-Ich vom Küchentisch her.

Derweil ich die Fahrten über die Schwäbische Alb in Eiseskälte durchaus genieße. Es ist wunderschön hier, dazu nochmal ein wirkliches Winterlicht. Es fallen mir dann die alten Eskimos wieder ein und mein Ärger über die langsam und ewig unüberholbar vor einem herfahrenden Kieslaster hält sich sogleich in Grenzen. Alles verlängerte Lebenszeit, ich darf einem Kieslaster hinterherkriechen. Da lass ich doch gerne den üblichen Arsch-Audi vor irgendeiner unübersichtlichen Kurve an uns vorbeijagen.

Die eigene Spontansterblichkeit trotz allseits geregelter Bahnen. Vom fast noch „Best-Ager“ zur Risikogruppe in zwo Wochen, kaum zu glauben. Angesicht zu Angesicht. Mal wieder ein bisschen Angst haben, jenseits von Tumoren oder Autobahnen. Diese Entschleunigung, die gerade stattfindet, ich finde sie gut. Ich könnte weiter so machen, wenn mich denn der Schnitter lässt. Ich könnte mir dann sogar auch überlegen, irgendetwas an irgendeiner Biegung irgendeines Flusses zu begraben. Zum Beispiel vielleicht Zigaretten und aber auch allerlei Geschichten.

Ich kenne einige wunderbare Menschen über die 80 und ebenso viele mir sehr liebe Menschen im altersübergreifenden Risiko. Was für eine Zeit. Den spriessenden und witternden Wirtschaftsdarwinisten hingegen mögen doch bitte die Haare dort ausfallen, wo sie ohnehin nie erwartet oder allzu schüttern waren und ihre hedonistischen Gemächte, ob Weib ob Mann, sollen jucken, schleimen, tropfen und kratzen bis zum jüngsten Tag, sollte immer noch keine Läuterung kraft Erkenntnis über angefüllte Hohlwelten und über Menschsein etc. eintreten.

Etwas anderes fällt mir grad nicht ein. (Wie auch.)

4 Gedanken zu „Risikopuppe“

  1. Die arglose Leserin zuerst aufheitern und dann zurechtstutzen. Schon ein bißchen grob! (Die Risikopuppe gefällt mir arg gut. Arg und gut. Man kann nicht Schlaueres verlautbaren lassen, als die nackten Fakten. Was man eben macht, um selbst da durchzukommen. War heute den ganzen Tag über beklommen ob der Nachricht, dass Till Lindemann beatmet werden muss. Beim Pinseln gebetet. Heute ist er verlegt worden, kein Corona, nur eine „normale“ Lungenentzündung. Aber das hab ich erst um Mitternacht gelesen… Sich schützen und wertschätzen, was und wen man hat. Bis es vorbei ist. Dass es vorbeigeht ist sicher, nur der Zeitpunkt steht ein wenig in den Sternen. Als Beifang hoffe ich auf Evolution. Ganz viel Evolution.

    1. Die Evolution frisst ihre Kinder, das hätte sich die gute alte Revolution sicher auch nie auszumalen erlaubt. Nun auf ins Wochenende, ich muss noch ein Faß Mörtel durchmachen. Immer gesund und herzlich, liebe Gaga, und stets zu Diensten <3

  2. Ich bin froh, dass Sie derzeit noch bezahlte Arbeit haben.

    Frage mich die Tage auch jetzt öfters, wer wohl in einem Jahr noch die Wiederherstellung alter Kirchen und Gebäude finanzieren mag, wenn dann das ganze viele schöne Geld ausgegeben ist.

    Als ich unlängst die Zeitschrift „Monumente“ der Deutschen Stiftung Denkmalschutz aus dem Briefkasten fischte, fragte ich mich auch wieder einmal, wie das in Zukunft weitergehen wird, wenn erst einmal die Generation, die noch gute Renten bekommt, nicht mehr da ist. Jetzt verschärft sich das Problem noch, denn sofern die wohlhabenderen Rentner und Pensionäre Kinder und Enkel haben, werden sie vermutlich erst einmal denen unter die Arme greifen.

    1. Ach, es wird sich daddeln, irgendwie. Und ggf. entwickeln ja auch die Enkel Vorlieben für altes bauliches Zeug oder fangen wieder an, Kunst zu sammeln. Das letzte Hemd hatte noch nie keine Taschen, oder – wie die alte Dame oft sagte – „Im Sarg gibts kein Regal“. Schlimm finde ich derzeit auch, dass uns allen (und unserer Psyche) der ersehnte Frühling geklaut wird. Das ist schändlich!

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