In der Sylvesternacht war es drei oder vier oder eher schön später geworden, bereits aber am frühen Morgen des Neujahrtages gegen 10.10 Uhr fuhren wir, die Kirschkern, die Köchin und ich, hinab zur universitären Gotikkirche, um dort die IV. Kantate des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach zu hören, eingebettet in einen Gottesdienst. Zeitig schon waren die neugierigen Plätze gut besucht und bei der Ausschau nach einem noch möglichen Emporenplatz bot sich uns und mir (müde) das Bild einer komplett privatreservierten erstreihigen Bank auf der südlichen Empore mittels dreier auf jener Bank in einer Breite von circa sechs Metern längsgelegter fair gehandelter Schals, ohne dass sich jedoch wenigstens einer der Platzbesetzer leiblich zur Erläuterung dieses ungeheuer raumgreifenden und dreisten Besitzanspruches irgendwelcher selbsternannt Auserwählten der örtlichen Hochbildungskultur hätte mindestens freundlich physisch und mit ggf. bestechender Demut des Intellektes oder klugem Dekollté sich vor Ort erklärend und erläuternd blicken lassen.
In B hätte ich mich darüber hinweggesetzt. Vor allem auch weniger MÜDE hätte ich mich darüber hinweggesetzt. Den ganzen halben restlichen Tag ärgerte ich mich also noch, nichts unternommen zu haben in dieser Situation, hier in den Weiten Südwestdeutschlands bereits am ersten Januar. Meines wäre es gewesen, mich und uns dorthin zu setzen und weitere andere zu diesen sechs Metern einzuladen, in demonstrativ lautstarker Prekariats-Gestik oder arrogantem Millionärstum oder irgendeinem anderen pöbelndem Gegengewicht, einen Platzverweis gerne riskierend, ja herausfordernd!
Anstattdessen gingen wir friedlich murrend die kleine Wendeltreppe wieder hinunter und hatten dann, zugegeben, auch im Parterre einen durchschnittlich blicksicheren und akustisch angenehmen Platz, der mir, unsere Wagenburg flankenschützend nach rechts hin sichernd, dann allerdings eine ältere, der Vermutung nach alleinstehende, Sitznachbarin bescherte, die sich noch kurz vor Beginn der Choräle über die Neuigkeiten des jüngsten Sterbens des Geschwisters einer ihr bekannten schräg links in der Reihe vor uns platzgenommen habenden offenbar ehemaligen Mitsängerin eines wahrscheinlich sehr wichtigen lokalen Chores diagonal über meine Oberschenkel und meine 1qm Aura hinweg lautstark und ohne jegliche Hemmnisse austauschte, in mir unverständlich selbstbewusster Art und Weise und mit, wie ich feststellte, übergroßen Handtellern und daran hornigen Fingernägeln, die halbjährige Löwenjunge zu bezwingen geeignet gewesen wären. Wahrscheinlich hätte ich sie kennen müssen, als Professorenwitwe eines Fastnobelpreisträgers oder als selbst irgendwie geisteswissenschaftliche Größe oder Zuarbeiterin eines desselben (Haushalt, Bett, Nahrung?), gleichwohl als irgendwie übergriffiges soziales Monstrum, welche Tatsache aber den Status der wissenschaftlichen Leistung ja immer untermauert, wie ich es bereits in der hiesigen Schule lernen musste, der kleine Schneck immer wieder staunend, manchmal schmerzvoll.
Mit totem und daher unwichtigem Vater wurde man hier irgendwann ausgemustert von den gleichaltrig Adoleszierenden aus Professorenhaushalten. Das einzige, was man machen konnte, war, denen die ohnehin platonische Freundin auszuspannen und dann öffentlich zu knutschen. So konnte man sie ins Mark ihres Hirns treffen. Einmal wenigstens ist mir so etwas gelungen.
Bei den Gemeindegesängen dann ein Gemisch der verschiedensten Atemerfrischungsmöglichkeiten. Unbekannte Kreationen von Mint und artverwandten süßlichen Dreingaben wehten in meine Waldnase. Und dabei immer wieder assoziativ und sogar an meinen gestählten Raucherrezeptoren vorbei den Geruch alternder Menschen, die immer noch in ihrem Saft schmoren, Jahr für Jahr, in ihrem elitären Stolz, dumpf. Das ist das Schlimmste in dieser Stadt, der die Schwerindustrie fehlt. Nicht das Altern, sondern das Pflegen des eigenen Bratenfonds mit seit Generationen gleichlautend unwahr hochnäsigen Leitkulturprinzipien.
Ich wusste damals genau, weshalb ich vor langer Zeit hier dringend wegging. Und jetzt zu Neujahr wurde ich einmal wieder erinnert daran, weshalb. Ich bin froh, mich nicht inmitten dort befinden zu müssen, sondern besser im kleinen Dorf abseits und dazu noch am Waldrand, in der Peripherie der Peripherie dieses sauverlogenen Bessermenschentums. Aber mein Herz ist ja groß.
(Herr Nnier hat übrigens hier etwas sehr treffendes geschrieben, was auch damit zu tun hat. Ganz wunderbar.)
Fürs neue Jahr wünsche ich mir vor allem die Wiederkunft eines umfassend ganz grundsätzlich solidarischen Prinzips.
Waldrand isch perfekt. Visitiere Tü auch nur noch wg. Klapse, Bücherkauf und Hotelamour (Schloßberg).
Das Spießbürgertum ist eben überall, lieber Schneck, gleich ob in der eingeTÜteten Hochgeisteskultur, in der multikulturellen Weltmetropole oder im waldackerländlerischen Raum.
Wiewohl ich nicht ganz umhin komme zu gestehen,
dass Ihr Eintrag mich köstlich erheiterte,
da er mich an einen Kirchgang im „Waldheimatlichen“ Raum… i-wann in den Siebzigern erinnerte… und als ich dies eben las, mir der Mottenkugelgeruch wie Odem in die Nase zog… außerdem… ich weiß nicht warum… fiel mir der Achternbusch ein.. ich meine mich zu erinnern, dass er ähnliches in einem seiner [damals so verstandenen Enfant-terrible-]Film[e] aufarbeitete…
doch wie man bei Ihnen liest… bleibt manches zeit-los aktuell… Oder ist etwa das neue Jahr 2013 eigentlich das neue 1973 [getreu den {un}sinnigen Slogans mancher Modeschöpfer, wenn sie die Farbe „Blau“ als das „neue Schwarz“ ausrufen….;-)]
Jedenfalls: Es lebe das NEUE Jahr, lieber Schneck – schöner, solidarischer, saugesund und [weniger] senil[debil] – dafür [mit] um so re[bel]lischer [Kunst]
;-)
Già! Sei nato ai bordi di periferia… :-)
Sie vergessen die Kunst, Herr Books!
Richtig, natürlich! Tü ohne Schneckenkunscht isch wie Tell ohne Apfel! Röschti ohne Chartoffel! Silvesterrakete ohne Zisch! Wünsche ein wunderbares 2013, liebe Frau Acqua!
PS: Bloggen Sie doch mal wieder was! Es täte auch gern gelesen werden!
Dieser kleingeistige verklemmte Dünkel empört mich immer wieder auf’s Neue. Leider kann auch ich mich darüber auch einen ganzen Tag ärgern, das sollte es nicht wert sein.
Ja, das liess uns in die Ferne schweifen (die ja auch nicht überall besser war, wobei mir ein herzliches Wat kiekstn so blöde? immer noch hundertmal lieber ist als dieses gezischte Tzsss, wenn einem der Hosenarsch fehlt, um sich über gravierende Verfehlungen wie Strassediagonalüberqueren (im schlimmsten Fall NEBEN dem Zebrastreifen) oder dergleichen zu beschweren.
Aber das Abseits, der Berg und der Wald sind doch eine prima Lösung. Das haben Sie so recht. Und notfalls kann man ja noch nach Afrika.
Richtig, nicht überall ist alles besser. Und man muss sorgsam darauf achten, stets auch den eigenen Dünkel im Auge zu behalten. Und wenn das in Afrika alles genauso ist, dann kann man ja immer noch nach jenseits von Afrika.
Oh, Hotelamour? Sie meinen bestimmt das Hospiz! ;)
Ich finde ja auch unbedingt: Das Blau ist das neue Schwarz. Und würde sogar noch kühn weitergehen zu behaupten: Grün ist in Wahrheit das neue Rot! Müsste man mal einen Blinden fragen. Vom Achternbusch mag ich am meisten „Das Andechser Gefühl“, welches mich einmal zu einer Hommage anregte, die ich „Das Sebalder Gefühl“ benannte (experimentell, klar!). Ich hoffe ferner, ich wirke noch nicht allzu senil und wünsche auch Ihnen, liebe Teresa HzW, ein allerbestes neues Jahr 013!
Ah! „Du bist geboren an der Grenze vom Peripherie“. Toller Text, ich mochte diesen Adriano Ramazotti schon immer!
So ein schöner Neujahrstagstext, mit eben genau der leise knirschenden Neujahrsmorgenstimmung, die sozusagen auf dem Schoß von anmaßenden Löwenjungenbezwingerinnen berechtigterweise auch laut knirschen dürfte. – Was mir ganz sehr gut gefällt: das Wagenburgflankenschützende! Schönes neues Jahr, lieber Schneck – und reisen Sie gut!!
apropos Dünkel, ganz schöne Kolumne hier.
Fascht, lieber Schneck. Die hattet aber nix mehr frei, als.
achwo, für ein Leben reicht’s ;)
Ihnen auch noch ein schönes Neues, liebe Punctum! /(Die Wagenburg ist ja die Keimzelle der Gesellschaft. Gruppe mit Rädern, wie Blogs.)
Ich hab’s geahnt, dass das genau Ihr Tüp ist. Dass sein Deutsch nicht ganz lupenrein ist, sollten Sie ihm nachsehen.
(pssst, passen Sie auf bester Books, sonst holt sie noch der böse Onkel Thierse!)
Die goischtesverwirrenden (gefühlt) 20,5 Sekunden damals beim Erstbäckerbesuch in der Metropole des Herrn Thierse, als ich mir sicher war, ‚Berliner‘ gesagt zu haben und der Verständigung halber doch bereits mein eventuell unverstandenes eventuell dialektal gefärbtes ‚zwoi‘ zu ‚zwei‘ verdolmetscht & wiederholt hatte und mich ernsthaft fragte, was die Verkäuferin denn jetzt mit ihrem mehrfach wiederholten ‚Pfannkuchen‘ will und ob einer von uns beiden sie noch alle beisammen habe, bloß welcher? Tss!
Das ist ein guter Neujahrswunsch. Vielleicht wird’s ja was!
Aber dann wird’s eng.
Rübergekommen, halt so. Eigentlich egal ob das ein Dorf oder sonstwas, Hauptsache weg, für Kirschkerne und selbst.
Machen wir´s besser? Möglich wär´s.
Den Wünschen schließe ich mich an.
bester Herr Schneck, wünsche mir, dass wir bald wieder einen Schoppen petzen.
Herzlich
Ihr Schoss
ich mag nicht aufhören, daran-glaubenderweise festzuhalten… ;)
Möglich wär’s. (Eine schöne Werkstatt haben Sie da. Irgendwann….)
Das, lieber Schoss, steht zweifelsohne für’s neue Jahr bereits trollingerfrei fest. Wie wär’s ggf. dortens? /Wie immer einfach nur sauherzlich, Ihr Schneck