Beim Rennen durch den tiefen Wald kommt mir ein greiser Elefant entgegen. Ich frage „Wohin des Wegs?“ und er antwortet „zum Sterben.“ Etwas später passiere ich eine uralte demente Eskimofrau, ich grüße freundlich und frage „Wohin des Wegs?“, sie antwortet „zum Sterben.“ Ich kann das akzeptieren und renne weiter. Stimmt, ich hatte das vor langer Zeit schon gehört, jungendlich und staunend: Elefanten, wenn sie alt sind und bemerken, dass sie durch ihr Verbleiben bei der Herde ebenjener gegebenenfalls schaden könnten, verdrücken sich irgendwann alleine in den Wald, um dort zu sterben. Weil sie, schutzlos wie sie dann sind, wahrscheinlich im Gebrechen alsbald von anderen hungrigen Tieren gefressen werden. Ähnlich bei den alten Eskimos, wenn sie zu langsam und bedürftig geworden sind und der Sippe allzu sehr zur Last fallen bei den extremen äußeren Verhältnissen des Eskimodaseins, sie gehen irgendwann in das große Weiß hinaus im Schneesturm, um dort zu erfrieren. Ein Akt der Aufopferung zugunsten des Überlebens der Gruppe.
Dann kommen die Eisbären und es ist wie bei den Elefanten. Und man muss ja auch wissen, wann irgendwann eben Schluss ist, zumal als reflektierter Mensch. Bevor also der Opa sämtliches Erbe mit seiner Pflegebedürftigkeit durchbringt, sollte er doch nochmals überlegen, ob es nicht Zeit wäre, jetzt endlich und bestens betreut friedlich einzuschlafen. Wie die Eskimos, die Elefanten. Zumal ja ohnehin keine wirkliche Lebensfreude mehr da ist, „nicht wahr, Opa?“ Schau, Dein Enkel Lilly möchte studieren, das ist teuer, und wir haben uns so verschuldet mit unserem Haus und unserer Wohnung und wollen doch nächstes Jahr nach Mauritius.
(Und außerdem, Opa, haben wir keine Lust, Deinem bescheuerten Verfall beizuwohnen. Der uns täglich daran erinnert, wie hilflos wir doch eigentlich sind.)
Ich renne von nun an also an lauter alten Menschen und Tieren vorbei, die im Wald wahllos herumstehen. Alle wollen sich, so wie ich ja irgendwann auch, in den großen Kreislauf des Materientransfers begeben. Man hat schließlich sein ganzes Leben lang irgendwelche chemischen Zusammensetzungen in sich hinein verdrückt (Schinken, Käse, Pizza, Rosenkohl, Döner, Salat), Dinge genossen also, die einen über ihre Kalorien am Leben erhielten. Diese ließen einen rumturnen, verlieben, Vespa fahren, Sex haben, Bilder malen, heulen und abspülen oder freuen. Oder nach Westen weiterreiten. Genau dieses wollen all die Elefanten und Eskimos (mitsamt mir) dann auch irgendwann einmal an das, was denn weiterlebt und fortexistiert, retourgeben.
(Ich schweife ab.) Also weiter:
Beim Einäschern hingegen muss ja sogar noch Energie zugesetzt werden. Da stimmt aber was inhaltlich nicht bezüglich des Kreislaufs. Theoretisch muss, sollte ich mich einäschern lassen, Braunkohle oder russisches Erdgas hergenommen werden. Braunkohle ist uralter Kohlenstoff von verwesten Dinosauriern und zum Beispiel Frühzeitpetersilie. Erdgas quasi ebenso, eventuell noch etwas mehr Grünzeug dabei im Verhältnis. Also müsste mir Großechsenenergie und Kompost zugesetzt werden, damit überhaupt meine über Jahre angehäuften wertvollen Aminosäuren – vorbei an hungrigen Würmern, Pilzen und Bakterien – verkohlen könnten, und dies nur, damit von mir im Ergebnis Abwärme, Treibhausgase und Asche übrigblieben.
Nun gut. Die Abwärme diente dann Urlaubern auf Mauritius oder im Allgäu für schönes Wetter und schöne Erinnerungen. Allerdings wäre diese Abwärme ja theoretisch vorher jenen Urlaubern bzw. ihren Altvorderen entzogen worden? Egal. Jedenfalls: Der Energieverbrauch schöner Erinnerungen hingegen verzehrt einen Zusatz an Meeresfrüchten (Mauritius) und Wildschwein oder Jungreh (Allgäu), weshalb man sagen könnte, dass schöne Erinnerungen möglicherweise genauso viel Energie verzehren, wie sie produzieren.
Das gleiche gälte für schlechte.
Ich begrüßte also beim Weiterrennen die umherstehenden Untoten freundlich und gebe ein wenig Gas im Schritt, nicht ohne mich bei jenen Untoten dafür zu bedanken, da mein gasgebendes Rennen natürlich erhöht im energetischen Umsatz ist. Denn ohne all diese Untoten könnte ich nicht, niemals, rennen. Ich denke an „Soylent Green“.
Wollte ja eigentlich irgendwelche Gedanken zur Ablebeunterstützung ein wenig festhalten. Das ist sehr schwierig und verbraucht verdammt Chemie. Ich verfüge dabei über keinerlei Lösung. Allerdings:
Wie können welche nun behaupten „Mein Tod gehört mir!“? Was sollte dazu der im letzten Jahr auf der Autobahn 6 unschuldig verunfallte Vater sagen, beispielsweise, mitsamt seinen drei verbrannten Kleinkindern? Sowie der daran schuldige Lasterfahrer? Bestimmt wollte dieser niemals schuldig am Tod eines Vaters mitsamt seinen drei Kindern jemals gewesen sein. Geschweige irgendeinem oder gar seinem eigenen.
Und was sollen also dann die sogenannten Kranken sagen, die eben aus irgendeinem sich nicht erschließenden Grund an Krankheiten leiden, seis von Geburt, seis später? Sollten sie ebenso forsch behaupten sollen, gefälligst und aus Sicht der bis hierher Gesunden, „Meine Krankheit gehört mir!“?
„Meine Gesundheit gehört mir!“, das klänge noch am meisten plausibel im Mainstream. Jedenfalls im Mainstream sogenannter Gesunder. Jedenfalls, solange sie gesund sind. Ich kenne welche, die haben das Glück der ‚Gesundheit’, die leben auch gesund und sie sind felsenfest davon überzeugt, dass sie 95 Jahre alt werden. Ich erschrecke da jedesmal, wenn ich das höre. Ich wünsche es aber, wirklich, allen.
(Außer den Hitlers.)
Also das Zwei-Klassen-Leben. So nun auch das Sterben. Wie das Ding mit den Zähnen und dem Zahnersatz und überhaupt mit der Gesundheit und der Vorsorge. Nur eben in säuselnder Umkehr: Ein längeres Überleben im Sterben können sich irgendwann nur noch die Begüterten leisten. Die Ärmeren hingegen nehmen und nähmen dann die Sondertarife der Kranken- oder Pflegekassen zum wohligen Einschlafen wahr. Unter dem Deckmantel einer Humanität, in der es sich gut die Hände reiben und waschen lässt, vor allem dann, wenn man sich ohnehin schon längst von der Solidargemeinschaft verabschiedet hat.
Also doch keine Elefanten und Eskimos. Auch hier stimmt aber irgendetwas nicht, es fehlt eine stringente Argumentation im komplexen Sachverhalt. Es ist alles so verdröselt, wie ein Strang dementer Aminosäuren.
Ich las von einem üblen Kinderschänder aus Belgien, der – wenigstens am Körper gesund – Hilfe nun einklagt, um zu sterben. Vielleicht sollte man ihn zu den Eskimos oder den Elefanten in den Wald oder an den Nordpol bringen. Oder andererseits von einer alten Frau aus dem Niederländischen, die einst unbedingt und bedingungslos mitbekommen möchte, wie das ist, das Sterben, da sie ja nur einmal lebe und das Sterben ja zum Leben gehöre. Wie alle immer sagen. Vielleicht sollte sie einfach zu denjenigen Wesen sich begeben, die einmal Solidargemeinschaft waren.
Mir fehlt bei manchem einfach ein wenig der Blick auf Urknall, Lichtgeschwindigkeit und kosmisches Nichtwissen. Vor allem eine einigermaßen stille Sicht auf eine verdammt aus der Mode gekommene: Demut. Wenigstens ein bisschen. Ein Blick darauf, wie klein wir sind und wie sehr verfangen in uns.
Denn also: Ganz gewiss stimmt es nicht, dass mein Tod mir gehört. Ich behaupte auch gar nicht, zu wissen, wem er stattdessen gehört. Daher also auch nicht mein Leben. Auch nicht meine Krankheiten und auch nicht meine Gesundheit. Allenfalls mein Wunsch danach oder mein Nicht-Wunsch. Es kann stets nur ein Wunsch sein, der uns gehört.
Das wars auch schon. Wie wollt ich mehr dazu sagen. Als ich schließlich aus dem Wald kam, stand da der Lasterfahrer von der A6. Wir schlenderten ein wenig gemeinsam des Wegs und er erzählte.
November! Es drehen sich viele um das selbe derzeit. Hier im Wald, dort am Meer (bei mir letzten Monat sogar im richtigen Leben). Sie gestatten, dass ich ein bisschen verkupple?
Die Kurve zu einem lockeren Spruch darüber, wie Sie im Schritt Gas geben, kriege ich jetzt wohl nicht mehr. Dann freue ich mich halt im Stillen darüber.
Danke fürs Verkuppeln, Frau acqua. Einst ableistete ich meinen zivilen Dienst auf einer Station für Querschnittgelähmte. Als meine Fragen dort immer mehr wurden und die Antworten weniger, da war die Dienstzeit dann, wahrscheinlich mir gewogen, vorbei. Ein unendliches Achselzucken, gegen dieses hilft zum Beispiel Rennen durch den tiefen Wald.
Sehr guter Beitrag , Herr Schneck, insbesondere der Punkt mit der Demut und dem kosmischen Nichtwissen. Ich glaube, im Grunde meinen wir dasselbe, einfach nicht ganz auf die gleiche Art.
Danke Frau Frogg, bei Ihnen drüben aber genauso. Und ja, ich bin mir fast sicher, wir meinen dasselbe.
Beim Schnitzwerk all dieser Frage schaue ich ja wie in den Wald und kann jetzt so aus dem Stand wenig hineinrufen (also doch demütig), Ihr Text ist aber jedenfalls eine selten schöne Elfenbeinschnitzerei mal wieder. Sollte eigentlich schon diesseitig unter Naturschutz gestellt werden. Nationalerbe, wären Sie ein kurzhaariger weiser Japaner. Habe übrigens seit gestern ganz kurze Haare vom Vintage-Frisör hier und dachte beim Blick in den Spiegel an Sie dort im Studienstädtchen.
Ich mach das immer selber, mich zum kurzhaarigen weissen Süddeutschen. Das heisst aber auch: Aufgepasst, jetzt ist wieder Mützenzeit. (Und ach, Herr Speed, Danke.)
Besonders knifflig wird es aber, wenn man manchmal nicht einmal weiß, was man sich eigentlich wünscht. Immerhin nimmt man dann automatisch von lautstarken Erklärungen Abstand, versteht sowohl die einen, als auch die anderen, und möchte einfach nur vertrauen, daß man irgendwann die für sich richtige Entscheidung treffen kann.
Es kommt eh, wie’s kommt. Man kann ja nur antworten.
Vertrauen und Demut. Vermutlich das einzige, das einen einen Weg finden lässt, in einem Wald aus lauter Fragen.
Hm. Vielleicht sollte ich mal wieder öfters überland rennen.