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„7.2.1951
Sehr geehrte Frau Bauer,
da sich inzwischen meine Anschrift verändert hat, ich außerdem verreiste, verzögerte sich meine Antwort an Sie, was ich zu entschuldigen bitte.
Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Lage, habe im übrigen schon sehr viele Anfragen beantwortet, auch einiges zur Aufklärung von Kameradenschicksalen beitragen können und will mich bemühen, Ihnen nun einen aufklärenden Bericht zu geben.
Leider ist es mir nicht möglich, über das persönliche Schicksal Ihres Herrn Bruders Angaben zu machen, ich will Ihnen aber die letzten Tage unseres Regimentes schildern.
Ich kannte Ihren Herrn Bruder recht gut, hatte oft persönlich mit ihm zu tun, da ich seit September 1943 als Ordonanzoffizier beim Regimentsstab tätig war, am 25. August 1944 als Angehöriger ds. Regiments in Gefangenschaft geriet und zu den wenigen Glücklichen gehöre, die durch glückliche Fügung heimkehren durften.
Das Regiment 116 lag im Abschnitt Slobocia-Ivanistivechi, an einem ruhigen Stellungsabschnitt, einem russischen Brückenkopf am Westufer des Dnjestr gegenüber. Bis zum 19.8.44 war die Lage vollkommen ruhig. Am Mittag dieses Tages begann an der ganzen Front von Akkerman bis Jassy ein Trommelfeuer. Der Russe zog außerdem einen Nebelvorhang an der gesamten Front und griff mit starken Jagdfliegerverbänden die Infanterie- und Artilleriestellungen, danach die rückwärtigen Einheiten den ganzen Tag über an. Die Lage war bis zum Ende des Tages ungeklärt.
Am nächsten Morgen setzte das Feuer mit erneuter Heftigkeit ein und nach kurzer Zeit kam die Meldung, dass russische Panzerverbände bei Jassy, Kischinew und in unserem linken Divisionsabschnitt durchgebrochen waren. Eine Abriegelung der Einbruchstellen durch eigene Panzerverbände und Infanterie blieb, wie jegliches Verschieben von Infanteriekräften der Division sowie einiger Kompanien des Regiments ohne Erfolg.
Im Regimentsabschnitt herrschte nur geringe Kampftätigkeit. Es bestand lediglich am Abend dieses Tages noch eine Verbindung zur Division, die ich z.T. selbst per Krad aufrecht erhielt. Jegliche Verbindung zu den Nachbarn sowie zu höheren Stäben waren abgebrochen, so dass die Division praktisch in der Luft hing und nicht einmal beim Divisionsstab etwas über die wirkliche Lage bekannt war.
Die Division hielt den bisherigen Abschnitt bis zum 21.8. abends und es war auch gelungen, die Einbruchstellen inzwischen abzuriegeln. Am 21.8. nahm ich auf Befehl Verbindung mit dem Divisionsstab auf und brachte den Absetzbefehl für den Abend dieses Tages mit. In vollkommener Ordnung setzte sich das Regiment (die Division) vom Feinde ab und zog nach Westen.
Schon am 22.8. musste sich die Division durch verschiedene Einschließungsringe durchkämpfen, immer noch in vollkommener Ordnung, und nahm in dieser Zeit eine ganze Anzahl zersprengter anderer Einheiten (v.a. rumänische Einheiten) auf.
Am 23.8. wurde die Division, die inzwischen unter dauernden Kämpfen etwa 40 – 60km nach Westen in dauerndem Zickzack-Kurs zurückgelegt und bei vollkommen ungeklärter Lage Trosse und Geschütze verloren hatte, von starken Einheiten des Feindes vom Überqueren eines Flusses abgehalten. Die Division war auf kleinstem Raum ca. 3qkm in einem Talkessel zusammengedrängt und wurde von allen Seiten von starken feindlichen Kräften angegriffen. Trotzdem war die Lage noch so, dass man von größter militärischer Disziplin und Organisation sprechen konnte.
Ich kann mich verständlicherweise an einzelne Personen – bis auf den Regimentskommandeur und dessen Adjutanten, mit denen ich dauernd zu tun hatte – nicht mehr erinnern. Selbstverständlich war zu diesem Zeitpunkt jeder einzelne Mann des Regiments, ganz gleich, welche Funktion er bis dahin bekleidet hatte, im Einsatz, denn es war inzwischen jedem klargeworden, dass nur so ein Durchkommen möglich war.
Nach maßlos hartem Kampf, bis dahin kaum dagewesenen Nahkämpfen, wurden die russischen Stellungen überrannt, gerieten jedoch die eigenen Einheiten durch starkes Feuer motorisierter russ. Artillerie und von allen Seiten drückender Panzerverbände vollkommen in Unordnung.
Diese ganzen Kämpfe hatten in einem bis dahin nie erlebten Wolkenbruch stattgefunden, so dass in Folge des Schlammes unzählige Fahrzeuge stecken blieben. Jedoch wurden sämtliche Verwundete, die noch aufgefunden werden konnten, von zurückjagenden Fahrzeugen aufgenommen.
Da das Regiment vollkommen versprengt war, bemühte ich mich, trotz starker russ. Feuerüberfälle zusammen mit einem Offizier, die Reste des Regimentes zu sammeln und hatte bei Einbruch der Dunkelheit etwa ein Zehntel des Regimentes wieder beisammen. Die Lage war noch vollkommen ungeklärt, da trotz dauernder Versuche keine Verbindung mit Nachbardivisionen, geschweige denn höheren Stäben, zu bekommen war.
Inzwischen war vollkommene Ruhe eingetreten, die Division trotz Einschließung wieder geordnet. Nach eingehender Lagebesprechung, bei der sämtliche noch lebenden Offiziere zugegen waren, entschloss sich der Divisionskommandeur, mit den Resten der Division und nach Ausmachung einer Furt über den versumpften Fluss in kleinen Kampfgruppen nach Westen zu marschieren.
Ich kann Ihnen leider, und so schwer es mir fällt das zu sagen, nicht sagen, dass sich Ihr Herr Bruder zu diesem Zeitpunkt noch bei uns befand, so wenig wie ich sagen kann, dass er sich nicht mehr bei uns befunden hätte, da uns kaum Zeit blieb, uns mit Einzelnen zu befassen, geschweige denn aufgrund des Vorhergegangenen (der furchtbarsten Erlebnisse meiner fast 5-jährigen Frontzeit) zur Besinnung zu kommen.
Ein weiterer Rückmarsch war nur möglich unter Zurücklassung sämtlicher Fahrzeuge, schwerer Waffen, Pferde, und – was uns allen das Furchtbarste war – sämtlicher Schwerverwundeten, die unter dem Schutz des Roten Kreuzes und unter der Betreuung eines Stabsarztes auf einem notdürftig eingerichteten Verbandsplatz zurückblieben.
Geordnet und unter Mitnahme von Handfeuerwaffen und der leichter Verwundeten überquerten die einzelnen stark zusammengeschmolzenen Kampfverbände den Sumpf. Am anderen Ufer verabschiedete der Divisionskommandeur, Generalmajor Werner Gebb, von allen Divisionsangehörigen geliebt und verehrt, jede einzelne Kampfgruppe und schloss sich der letzten Einheit, die den Sumpf durchwatet hatte, an.
Am Morgen des 24.8.44 hatte die Kampfgruppe 116, die in vollster Disziplin und unter Umgehung von Straßen und Dörfern weiter nach Westen marschiert war, jegliche Verbindung zu den parallelmarschierenden anderen Kampfgruppen verloren. Durch Aufklärungsflugzeuge hatte uns der Feind inzwischen entdeckt, die wir uns nur mühselig infolge der vorangegangenen Strapazen, mangelnder Verpflegung und vor allem quälenden Durstes, sowie der mitgeführten Verwundeten, querfeldein nach Westen bewegten.
Nach kurzer Zeit begann eine systematische Verfolgung durch Panzer, Panzerspähwagen, bewaffneten Jeeps und mit Granatwerfern ausgerüsteten LKWs. Die Kampfgruppe zog sich weit auseinander, da sie unter dauerndem PAK- und Granatwerferbeschuss lag und wurde in dem hügeligen Gelände und bei Temperaturen von 30 – 40 Grad so stark dezimiert, dass jeglicher Zusammenhalt verloren ging.
Am frühen Nachmittag war ich infolge eines erstmaligen schweren Malariaanfalls, nachdem ich in der Zwischenzeit Maschinenpistole, Gewehr und Munition, die ich infolge meiner Schwäche nicht mehr schleppen konnte, weggeworfen hatte, auf freiem Feld zusammengebrochen. In meiner Umgebung befand sich kein Angehöriger des Regiments mehr. Nach mehreren Stunden entdeckte ich einen Angehörigen des Reiterzuges des Regiments, dessen Namen ich nicht mehr weiß und der zu Pferde daher kam.
Er sah mich vollkommen erschöpft liegen und ritt erst weiter, nachdem ich ihm den dienstlichen Befehl dazu gegeben hatte, da er nicht fortwollte, ohne mich mitzunehmen.
Nochmals traf ich einen Kameraden des Regiments, ich weiß ebenfalls nicht mehr, wer es war, der bei mir bleiben wollte, dann aber, nachdem ich ihm meine Armbanduhr, Briefe, Brieftasche und mein Tagebuch mitgegeben hatte, weiterging.
Ich muss annehmen – damals hoffte ich noch, dass beide Kameraden durchkämen – dass beide gefallen sind, denn russische Spähwagen und bestückte Jeeps durchfuhren das Gelände und schossen, bzw. nahmen alles gefangen, was sich noch bewegte.
Ich selbst hatte inzwischen mit dem Leben abgeschlossen, meine Auszeichnungen vergraben, und – dem Verdursten nahe -, das mir ein Weiterfortbewegen unmöglich machte, entschloss ich mich, beim Näherkommen russ. Soldaten meine Pistole zu verschießen. In Gefangenschaft wollte ich nicht gehen.
Einige Zeit später entdeckten mich drei herumschleichende Landser, mit denen zusammen ich dann losging. Auch sie waren so geschwächt, dass wir jeweils nach kurzem Laufen Ruhepausen einlegen mussten. Unser Ziel war lediglich in der Sonne glitzerndes Wasser, das wir in weiter Entfernung sahen. Auf dem Weg dorthin sah ich Gefallene liegen, von deren herumliegendem Gepäck wir Munition, Rauchwaren und Verpflegung mitnahmen.
Die Kameraden gehörten nicht unserem Regiment an, was ja aber unter diesen Umständen genauso wenig eine Rolle spielte, wie ihre Namen – entscheidend war, dass wir Schicksalsgenossen waren.
Nach mehrstündigem Marsch gelangten wir an den Bach, der sich als vollkommen versumpft erwies. Wir sahen nur noch Wasser und waren nicht einmal erstaunt, als wir in diesem Tümpel badende nackte Landser sahen und andere, die halbnackt an MGs liegend das friedliche Idyll schützten. Es war eine Gruppe von 30-40 Mann, fast ausschließlich Angehörige meines Regimentes, die sich unter Führung von Hauptmann Schad (Gießen), der inzwischen auch aus Gefangenschaft zurückkehrte, durchgeschlagen hatten.
Außer an ihn kann ich mich nur noch an einen ebenfalls dabei befindlichen Offizier des Regimentstabs, LT. Plazikowski, erinnern, von dessen Verbleib ich nichts weiß.
Der Sumpf war von russischen Einheiten umstellt, trotzdem marschierte die kleine Kampfgruppe unter unserer Führung nach Marschrichtungszahl bei Einbruch der Dunkelheit weiter. Immer wieder trafen wir auf kleinere andere Gruppen, die sich unserer disziplinierten, lautlos marschierenden größeren Gruppe anschlossen, so dass diese gegen Morgen des 25.8.44 stark angewachsen war.
Noch immer hofften wir und rechneten bestimmt damit, auf die deutsche Linie zu stoßen, zumal wir laufend Schießen hörten und deutsche und russische Leuchtkugeln sahen. Gegen Morgen kamen wir in die Nähe einer Bahnlinie und eines an einem Fluss liegenden Dorfes (wie sich später herausstellte war es der Ort Krassnar), einer deutschen Siedlung, in der sich früher der Pferdesammelplatz des Regimentes 116 befunden hatte und der in der Nähe der Orte Beresina, Romanesti liegt, etwa 100km westlich des Dnjestr.
Trotz Warnung und nach vorherigem sehr vorsichtigem Überqueren der Bahnlinie stürzte sich alles auf das Wasser, da wir bis dahin unseren Durst nur mit Tau und grünen Maiskolben zu löschen versucht hatten. Da uns nicht bekannt war, ob der Ort von eigenen Truppen oder Russen besetzt war, entschlossen wir uns, am Bach entlang einen freiwilligen Spähtrupp vorzuschicken. Diesem Spähtrupp gehörten Hauptmann Schad, LT. Plazikowski, ein Landser, dessen Namen ich nicht mehr weiß, und ich an.
Wir kamen bei Dunkelheit bis an das Dorf heran, wurden aber plötzlich von zwei Seiten aus kurzer Entfernung durch Scheinwerfer beleuchtet und heftig beschossen, sodass ein Zurückgehen nicht mehr möglich war.
Ich hatte, als ich in Deckung ging, die Verbindung mit den Kameraden verloren und konnte, da ich nur wenige Meter von einem russ. Doppelposten entfernt lag, nicht weiter. Das Feuer war inzwischen verstummt.
Beim Morgengrauen schlich ich mich weiter in Richtung der etwa 1km zurückgebliebenen Kampfgruppe und traf nach kurzer Zeit 2 oder 3 Landser, die m.W. nicht der Kampfgruppe angehörten, auch nicht zum Regiment gehörten, sich aber in derselben Richtung bewegten.
Nachdem uns, – inzwischen war es hell geworden, – ein rumänischer Dorfbewohner entdeckt hatte, zum Dorf lief und seine Beobachtung offensichtlich melden wollte, versteckten wir uns in einem mit Gebüsch bewachsenen Graben. Ein Weiterlaufen auf dem gänzlich unbewachsenen Feld war unmöglich. Nach etwa einer halben Stunde kam der Rumäne mit einem schwerbewaffneten Russen in unsere Nähe und forderte uns auf, uns zu ergeben, worauf der eine der beiden Landser auf Russisch antwortete, sie die Waffen wegwarfen und sich ergaben, gleichzeitig, wie ich aus ihrer Unterhaltung entnahm, den Russen darauf aufmerksam machten, dass sich noch ein Offizier (ich) versteckt habe.
Ich hatte inzwischen mit Entsetzen festgestellt, dass ich beim Robben meine Pistole verloren hatte und somit wehrlos war, trotzdem aber nicht die Absicht hatte, mich zu ergeben. Ich blieb liegen, wurde aber laufend von dem Russen mit seiner Maschinenpistole beschossen, so dass ich dann die Nutzlosigkeit meines Handelns einsah und mich ergab.
Ich wurde in das Dorf geführt und vor einem russ. Stab, dessen Kommandeur betrunken war, der mich aber verhältnismäßig anständig behandelte, abgeliefert. Wir wurden in einer bewachten Scheune untergebracht, in der sich noch etwa 15 Landser und einige gefangene Rumänen, die Hiwi, befanden. Unter den Soldaten befand sich ein Unteroffizier, den ich kannte, und der der 8. oder 12. Kompanie meines Regiments angehört hatte. Die Anderen waren mir fremd.
Ich wurde wiederholt zu Verhören geholt, jedoch geschah mir nichts, während ich verschiedenes Üble mit ansehen musste. Nach restloser Ausplünderung, Verhöhnung, nachdem ich mit noch einigen Anderen erschossen werden sollte, was jedoch in letzter Minute abgeblasen wurde, wurde ich mit den anderen Kameraden zusammen am Abend des Tages in Richtung Dnjestr geführt und landete nach furchtbaren Märschen bei notdürftigster Verpflegung, dauerndem Durst und Verhöhnung durch die bessarabische Bevölkerung im Sammellager Bachmutea (etwa 80km südwestlich Kischinew).
Dort traf ich den Ia-Schreiber des Regimentsstabs (einen Oberfeldwebel, dessen Name mir entfallen ist) sowie den Hauptfeldwebel der 13. Kompanie unseres Regiments. Ich kann mich deshalb genau daran erinnern, weil ich mich mit ihm unterhielt, von ihrem Erleben, von dem Schicksal einiger Kameraden hörte, was ich nach meiner Heimkehr sofort dem Suchdienst berichtete, und ihnen von meiner Verpflegung gab, da ich durch laufende schwere Malariaanfälle so geschwächt war, dass ich kaum etwas zu mir nehmen konnte.
Nach wenigen Tagen wurden wir getrennt, ich hörte nie wieder etwas von diesen Kameraden.
Im Lager Odessa (ehemalige Artillerieschule) traf ich dann den Adjutanten der Aufklärungsabteilung unserer Division, dessen Namen ich auch nicht mehr weiß und mit dem ich bis Frühjahr 1945 zusammen war. Weder von ihm noch mit einem anderen Leutnant des Artillerieregiments unserer Division, mit dem ich in derselben Zeit zusammen war, hörte ich jemals wieder etwas.
Einen Hauptmann Hengst, der Kompanieführer in meinem Regiment war, konnte ich persönlich nicht mehr sprechen und befragen, da er am Tage meines Eintreffens in Odessa an einer Lungenentzündung verstorben war. Auch dieses meldete ich am Tage der Rückkehr aus Gefangenschaft, am 21. April 1949, sofort dem Suchdienst, weiß allerdings nicht, ob seine Angehörigen inzwischen verständigt wurden, da mir nur bekannt war, dass er aus Hessen stammte.
Der Kamerad, der mir diese traurige Mitteilung machte, gehörte ebenfalls meinem Regiment an, jedoch weiß ich heute weder mehr seinen Namen, noch, was aus ihm wurde. Im weiteren Verlauf meiner Gefangenschaft traf ich lediglich einen jungen Soldaten, der seit 1943 dem Regiment angehörte und mich kannte, da er einer Ersatzeinheit angehörte, die ich 1943 aus dem rückwärtigen Gebiet zur Division nach vorn führen musste. Soviel mir heute bekannt noch bekannt ist, erging es ihm ähnlich wie mir und er konnte mir keine Angaben machen.
Ich habe mich natürlich in jedem Falle nach dem Verbleib und Schicksal von Kameraden erkundigt, auch das Wenige, was ich erfuhr, dem Suchdienst gemeldet.
In der Zwischenzeit hörte ich nur von einem mit mir befreundeten Unteroffizier Georg Maul (Offenbach/Main) von dessen glücklicher Heimkehr aus Gefangenschaft, erhielt jedoch auf einen ausführlichen Brief bis heute keine Antwort.
Weiterhin weiß ich von der Rückkehr unseres Divisionspfarrers, Herrn Pfarrer Schubring, der in Gießen wohnhaft ist und dessen Anschrift ich Ihnen sofort nach meiner Rückkehr nach Stuttgart schreiben werde.
Sie werden verstehen, dass es mir schwerfällt, Ihnen die in meine Antwort gesetzte Hoffnung zu zerstören und Ihnen vom Schicksal Ihres lieben Angehörigen, an den ich mich sehr gut erinnern kann und den ich sehr schätzte, nichts Näheres mitteilen zu können. Ich hoffe jedoch, Ihnen von den damaligen furchtbaren Verhältnissen ein Bild aufgezeichnet zu haben.
Ich selbst war von dem Tage meiner Gefangennahme, bzw. dem 18./19. August 1944 an bis 1946 vermisst. Auch meine Angehörigen hatten weder eine Vermissten- noch sonstige Meldung erhalten, bekamen später lediglich auf ihre Anfrage beim OKW die Nachricht, dass ich als Vermisster anzusehen sei.
Es fällt mir schwer, dass ich Ihnen sagen muss, dass der größte Prozentsatz der damals in Gefangenschaft geratenen Soldaten der Rumänienarmee an Ruhr und sonstigen Krankheiten verstorben oder den ungeheuren Strapazen dieser Zeit erlegen ist.
Einem Gerücht zufolge soll sich ein großer Teil dieser Gefangenen noch heute in Lagern der Ukraine befinden. Ich selbst befand mich die längst Zeit in einem Ural-Lager und zuletzt in der Moskauer Gegend. Der größte Teil derer, die sich in jenen Tagen über den Prut, die Donau oder die Karpaten zu retten versuchte, dürfte umgekommen sein, denn schon am 21. August 44 befanden sich russ. Panzereinheiten an der Donau, 250km westlich des Dnjestr, und es gab praktisch kein Entrinnen mehr, zumal der Verrat der rumänischen Verbündeten mit diesem Zeitpunkt zusammenfiel.
Möge Ihnen der Herrgott eine glückliche Nachricht über Ihren Bruder nicht versagen und möge es Ihnen doch eines Tages vergönnt sein, möge es vor allem Ihre Frau Mutter noch erleben, dass eines Tages der Sohn heimkehrt. Ich kann und darf Ihnen keine Hoffnung machen, aber Sie kennen selbst die eigenartigen Wege, die das Leben geht und die wir Zufall nennen.
Grüße, Ihr H.A.R.“
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Ich wollte das immer schon mal abtippen. Ein wenig Anlass waren diese Anmerkungen drüben bei TT. Dieser Bericht entstand zur Klärung des Schicksals von Wehrmachtsangehörigen und wurde von meinem Vater für die angesprochene Frau Bauer sowie den Suchdienst des Roten Kreuzes verfasst. Das Foto oben zeigt das Paar Handschuhe, die er bei seiner Heimkunft aus der Gefangenschaft trug, als er in Rechtenstein an der Donau unvermittelt an die Tür seiner Eltern klopfte.
Mein Vater hat es nicht gut erwischt. Er wurde 1920 in Stuttgart geboren und starb mit 46 Jahren im Haus am Waldrand. Zur Schule ging er in Berlin und Weimar. 1939 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, geriet im August 1944 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1949 heimkehrte. Er war klein und zierlich. In den 1950er Jahren studierte er Architektur in Stuttgart, seine letzte Arbeitsstelle hatte er an einem Universitätsbauamt nahe dem Haus am Waldrand. Er war dreimal verheiratet, die alte Dame ist seine dritte Ehefrau. Sein Krankheit sei zwingend auf die Mangelernährung in der Gefangenschaft zurückzuführen, meinten die Ärzte nach seinem Tod. Er malte und zeichnete viel, vor allem sehr große farbige Blumenaquarelle. Die alte Dame erinnert sich, er habe immer gesagt, er wolle nach dem ganzen Erlebten nur noch leuchtend schöne Bilder malen. Seine Lebenszeit von 19 bis 29 verbrachte er also in Krieg und Lager. Danach blieben ihm noch knappe 17 Jahre für ein ziviles Leben.
Mein fünf Jahre älterer Halbbruder aus seiner zweiten Ehe musste nach dem Tod des Vaters zu seiner leiblichen Mutter nach Bremen übersiedeln. Das würde heute kaum ein Jugendamt mehr gutheißen. Wo vorher 4 waren, da waren plötzlich nur noch zwei. Auch mein Bruder verstarb vor 6 Jahren 49-jährig, gut möglich, dass auch ihn – den Älteren – das alles zerrieben hat.
Ich kann nicht sagen, dass ich gelitten hätte, war ich doch zu jung und klein, um ein tatsächliches Vaterverhältnis aufgebaut zu haben. Zu jung für Trauer und für das Drama, gottlob. Es waren eher die Auswirkungen des vaterlosen Aufwachsens alleine mit der alten Dame (die damals noch jung war), die mich sicherlich geprägt haben. Diese Kämpfe aber sind lang vorbei. Heute sage und fühle ich, ich hatte eine glückliche Jugend, und das stimmt.
Lediglich in meinen Teeny-Jahren habe ich mir oft gewünscht, es sei alles ein Märchen oder wie im Film, der Vater sei nicht gestorben, sondern nach Amerika abgehauen, woher er irgendwann fröhlich und nach vielen Abenteuern zu uns zurückkehren werde, um mich ein wenig um die Mutter zu entlasten. Tatsächlich aber liegt er auf dem hiesigen Dorffriedhof und die alte Dame will irgendwann neben ihm liegen. Sie hatten sich gerade mal sechs Jahre.
Und eine Begebenheit bleibt mir auch schmerzlich unvergessen: Während der ersten Anhörung bezüglich meiner Kriegsdienstverweigerung begründete ich diesen Schritt auch mit dem Kriegs-Schicksal und dem daraus folgenden frühen Tod meines Vaters. Der Vorsitzende des Gremiums unterbrach mich an diesem Punkt und sagte abfällig lächelnd zu mir: „Nicht Ihr Vater verweigert, Herr Schneck, sondern Sie!“ Damals war ich zu jung, um diese Äußerung mir nicht die Sprache und Fassung verschlagen zu lassen. Heute würde ich ihn dafür – gewaltlos und ohne Zögern – mindestens ohrfeigen.
Der Todestag meines Vaters ist der 24. Januar 1966. Seither erwacht die alte Dame nächtens regelmäßig zu diesem Datum schweißgebadet. Und 34 Jahre später wurde dann just an diesem Januartag der Kirschkern geboren. Kein Zufall, sagt die alte Dame, und hat dann ebenso regelmäßig Tränen in den Augen. Manchmal ich dann auch ein ganz bisschen. Die Macht der Toten.
Was für ein besonderer Moment. Wenn die Väter nach ihrem Tod in einem Medium aufscheinen, das nicht ihres war. Wir haben mehr Netz, als sie je hatten. In vielerlei Hinsicht. Glaube ich.
Ich habe diese Geschichte, vor allem den vorangestellten Brief, mit angehaltenem Atem gelesen und freue mich, dass Sie sie aufgeschrieben haben.
Sehr ergreifend – das eine wie das andere.
Gut, dass Sie es hier im Netz, ins kollektive Gedächtnis sozusagen, einschreiben.
Unvergeßlich!
Die Handschuhe ein wunderbares Erinnerungsstück!
So symbolhaft! Fast wie ein Vermächtnis, lieber Schneck.
Gut, dass Sie sich diese Erinnerungen bewahren – und dass Sie uns teilhaben lassen (bitte sehr gern mehr davon). Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Und möchte/kann mir gar nicht vorstellen, was sich für furchtbare Dinge hinter einem sachlichen „die Reste der Kompanie“ verbergen. Nur 17 Jahre Zeit für ein „normales“ Leben. Aber diese dann sehr intensiv. Und die Versuchung zur Ohrfeige kann ich Ihnen sehr gut nachempfinden. (Ich las kürzlich in den Briefen meines Großvaters. Er wurde 1899 geboren, meldete sich mit 17 freiwillig für den Kriegsdienst – dieser Wahnsinn – und verlor kurz darauf ein Bein. Eigentlich hatte er einen landwirtschaftlichen Beruf gewünscht, studierte dann aber Theologie. Er wurde 83 Jahre alt und war ein wunderbarer, kluger und großmütiger Mensch.)
Danke für diesen Beitrag.
Mein Vater, ebenfalls ein Zwanzigerjahrgang, hat ziemlich ident, allerdings ein wenig nördlicher, seine frühen Jahre verbrannt.
Er ist eigentlich nie aus dem Krieg herausgekommen, auch wenn er erst 1990 im Suff davon befreit wurde.
Mein Vater war Zeichner, aber die Zeit war wenig danach.
Ich rieche noch die tuschbefleckten Finger wenn er am Küchentisch die Feder übers Papier kratzte, aber er blieb fern.
Eine Schachtel feingespitzter Stifte, manche nur zwei Zentimeter groß, sind geblieben, und eine Schachtel voll Federn.
Man kann einen Menschen, der Zivilisten eine Grube ausheben ließ um sie an deren Rand zu erschießen, einen der in den Sümpfen Finnlands Menschen ermordet hat, trotzdem lieben, weil so einfach ist das nicht wenn es dein Vater ist.
Seltsamerweise hieß das damals, also bei mir, ebenfalls Kriegsdienst (Wehrdienst war im neutralen Österreich nicht sehr gebräuchlich), was ein bisserl lächerlich war angesichts der Umstände, aber da war halt noch so ein Bodensatz vorhanden.
Ein wenig lernen daraus, weil an sich sollte Leben ein unschätzbares Gut sein, ist es doch nur einmal.
Rührender, unglaublich schöner Beitrag, mit dem Kirschkern als wunderbarer Wendung, ebenso die Kommentare. Da verschlägt es einem ja den Atem.
Ich war in meinem Freundeskreis der einzige, dessen Eltern auch noch im Krieg waren bzw. über die die Front hinwegfegte, und das ist schon deutlich eine andere Kindheit, als wenn man das 2. Generation erlebt. So weit weg sich diese Ereignisse wie im Brief oben beschrieben sind, so spielten sie doch in jeden einzelnen Tag herein. Mein Vater wurde mit q6 eingezogen und kam mit 21 zurück. Er hat nur einmal, mit meiner Mutter darüber gesprochen. Dann nie wieder, und er wurde sehr wütend, wenn man ihn fragte. Meine Mutter dagegen versuchte als Kind mit ihren über achtzigjährigen Großeltern den kleinen Hof durch den Krieg zu bringen.
Das war alles sehr allgegenwärtig, was keiner nachvollziehen kann, der nicht in einer direkten Nachkriegsfamilie aufwuchs, auch wenn es ja schon 60er und 70er war eigentlich.
Was für ein ergreifender Text, ebenso wie jener bei Kollegin Phyllis. Und ja, es ist schön, wie etliche von uns diese Plattform dazu nutzen, ihrer Väter zu gedenken und sie auf diese Weise coram publico Würdigung erfahren zu lassen. Auch mein Vater* musste als Halbwüchsiger in den Krieg ziehen und durfte erst als Erwachsener aus der Gefangenschaft zurückkehren, zudem hatte er, als Sudetendeutscher, seine Heimat verloren. Und dennoch war er nicht im mindesten verbittert, sondern ein überaus humorvoller, großherziger, großzügiger & liebenswerter Mensch. Leider starb er ebenfalls früh und lernte seine Enkelkinder nimmer kennen, er wäre ein fabelhafter Opa gewesen.
Danke für eure Texte, man liest sie mit Gewinn.
Dank für Ihre denkwürdigen Kommentare. Da spricht alles für sich selbst. Historiker sagen ja offenbar, dass jeder Krieg sechs Generationen lang dauert und meinen damit das Ereignis an sich incl. der Nachbereitung. Ich möchte nicht wissen, wieviel Tonnen an Schicksal sich in der Atmosphäre über die Jahrtausende angehäuft haben. Aber man muss ja auch am eigenen Schicksal arbeiten. Zukunft also, nicht allein Vergangenheit. Und die Gegenwart nicht zu vergessen.