(Alexanderplatz, 4einhalb Jahre, nachdem einer tot dalag.)
WIR haben jetzt herausbekommen, wie das früher wohl aussah, zuerst waren nur die Rundstäbe an den Fenstern im Gewölbebereich, die kleinen runden Säulchen in der oberen Kämpferzone – übrigens allesamt hohl – sowie die Rundsäulen an den Triphorien der Obergadenwände und die Schlusssteine im Gewölbe in „rheinischem Schiefergrau“ (vgl. Hofmann, 1903-06) gefasst. Möglicherweise dazu die oberen Kapitelle in Weiß. Wahrscheinlich schon kurze Zeit später – um 1293 – wurde alles in hellem Grau gestrichen und ein Fugennetz aufgemalt. Teils wurde diese Raumfassung weiß grundiert, in anderen Bereichen, unterhalb der Fenster, wurde das Grau direkt auf den Stein gestrichen. Die Unterschiede in der handwerklichen Arbeitsweise lassen sich nur durch Unterschiede in der Auffassung handwerklicher Arbeitsweise (um 1290) erklären. Die Kapitelle der oberen Kämpferzone dazu in leuchtendem Rot, ebenso eine schmale Hinterschneidung der Untersicht des Hauptgesimses oberhalb der im Mittelschiff aufgestellten Figuren. Allgemein lassen sich in allen Gebäudebereichen ca. sieben Raumfassungen bis zur letzten Maßnahme um 1830 feststellen. In dieser Zeit wurden auch die Emporen entfernt.
Auch wenn es kaum interessieren mag, es ist alles hochspannend, ebenso weitere Erkenntnisse zur Baugeschichte, die sich allein durch augenscheinliche Beobachtungen am Bestand und anschließend kollektivem Nachdenken ergeben. Zum Beispiel im Bereich der vermutlich ehemaligen Schwalbennestorgel aus dem 13. Jahrhundert.
Die nette Bettlerin, die vor der Kirche hockt, schaut mich inzwischen streng an, wenn ich wieder einmal eine kleine Pause vor dem Portal einlege. Das denke ich mir jedenfalls so. Heute gab ich ihr daher zum griechischen Euro noch einen Kinderschokoladenriegel, den sie „Grazie!“ freundlichdankend annahm und mir einen wunderschönen Feierabend wünschte (das dachte ich mir jedenfalls so).
Beim Weltgeschehen süd/südöstlich wird mir sonstig. Im Grunde bleibt ja nur misanthroper Zynismus. Sollen die doch selber machen und sich meucheln und ihr Ding alleine ausdaddeln über die nächsten 50 Jahre. Resignation über die Endlosschleifen des Schlachtens. Ich wüsste nicht, wo ein Hebel noch ist. Ich weiß nur, dass einem gewaltsamen Toten noch fünf Generationen lang gedacht wird. Die Informationsflut macht es nicht besser. Ich wüsste nicht, wie ich mich verhalten soll. Außer mich herauszuhalten. Welche zynischen Interessen hier und dort hinter großen oder kleinen böhmischen Städten lagern, liegen. Dazu Komplettverrohung in den Mitteln, wie formal. Da würde auch kein Tattoo mit Schießgewehr helfen. Auch kein abgeklärt westintellektuelles Meta-Gebaren mit Mundwinkelgrinsen, was mir in unserer Breite mehr und mehr auf den Senkel geht. (Das ist ein bisschen wie Marcel Duchamp. Dessen Beschwörung geht mir auch, und nicht erst heute, auf den Senkel.)
Anders bei den Whistleblowern. Da wächst mir nun die Hand auf den Zorn, 35 Jahre für den einen, zur Ergreifung des Anderen werden souveräne Flugzeuge zum Landen in souveränen Staaten gezwungen, der souveräne Freund des dritten wird über Stunden illegal verhört und der nochmal andere, der schöne Blonde, sitzt in einer Botschaft fest, in einem Land, wo es stets regnet und welches ja ohnehin selber machen will und auch schon einmal ein gemeinsames Reich des Wohlseins hatte. Das empfinde ich – spätestens seit heute, seit diesen „35 Jahren“ Aburteilung – als einen jetzt unverschämt frechen Krieg, dessen oberster Feldherr zudem den Friedensnobelpreis bereits erhielt. Die Macht des weißen Mannes. Man möchte sich separieren. Ich glaube, das wäre nicht schlecht. Man möchte es den Anderen gleich tun und sich endlich auch tätowieren lassen, sich bewaffnen und in der Wildnis, weit ab, leben und von dort aus Strippen und Fallen ziehen. Seinen Empörungen durch Holzfällen oder dem Essen von Igeln oder Verwandten Luft machen. Man möchte endlich auch: Verrohen.
In zwei Wochen bin ich seit vier Jahren Ferienpapa. Als ich also Ferienpapa wurde, saß Gustl Mollath bereits seit drei Jahren in der Psychiatrie. Rechne ich nach, dann wurde Gustl Mollath just in die Psychiatrie eingewiesen, als meine Exfrau sich sozusagen neu verliebte. In etwa also die Zeit, als ich mein Weblog einrichtete und begann, hinein- und hinauszuschreiben. Das verbindet mich mit Gust Mollath. Ferienpapa bin ich geworden zudem 730 Jahre nach Weihung der Basilika des heiligen Sebaldus. Das verbindet mich mit dem Hl. Sebald. Und mit dem Kirschkern.