Tageb. 11.3.22

Dom zu Königsberg / Kaliningrad, 1993

(Abb.: Dom zu Königsberg/Kaliningrad, 1993 / Handabzug SW auf PE-Papier)

ES geht ja immer um orientierung, das ist das, was wichtig ist. und um phantasie, um damit orientierungslosigkeiten vorzubeugen. dabei schlagen pendel mal heute nach dort, schon morgen hauen sie nach da. eigentlich liebe ich solche dynamischen situationen, in denen nicht alles immer so furchtbar lange dauert, sondern sich die sachen innerhalb von kurzer oder kürzester zeit grundlegend ändern können. das ist natürlich oft gefährlich, ebensooft schmerzhaft, immer aber spannend. im künstlerischen herangehen an dinge und geschehnisse kennt man sich dabei ja irgendwann aus – beispielsweise im plötzlichen (unwirsch oder lustvollen) übermalen, ändern, zerreissen, verwischen und zerstören oder verwerfen von zuvor geformten und als ewig gewerteten gedankenbildern. oder darin, falsche fährten zu legen. oder solche zu lesen. eine künstlerische ausbildung und eine jahrelange beschäftigung mit diesen subversiven umsturztechniken ist daher sicherlich hilfreich in kriegszeiten.

in friedenszeiten natürlich auch.

auf der autobahn von osten nach westen vorgestern am nachmittag eine anwachsende menge von meist vollbesetzten kleinwagen mit ukrainischen kennzeichen und tempo 90, die hinter lastwagen im windschatten herfahren. die ereignisse mitsamt folgen werden sichtbarer. beim langsamen überholen winke ich jedesmal freundlich, um solidarität zu vermitteln. etwas besseres fällt mir gerade nicht ein. später dann sogar auch, zu meinem erstaunen, zwei ukrainische sportwagen mit breitreifen und röhrendem moto-sound-system, die lichthupend langsamere verkehrsteilnehmer wegdrängeln und sodann auf der linken spur mit hundertsiebzig sachen am tempolimit von 120 vorbeiziehen. „ah, die mafia flüchtet also auch…“ ertappe ich mich beim bewegtbildlichen denken an tätowierte frauenhändler oder sportliche inkassospezialisten und diesbezüglich weiterführende klischees.

und entwickelte sogleich dann auch die befürchtung, dass die große derzeitige hilfsbereitschaft vielleicht irgendwann auch ein jähes ende finden könnte, wenn denn alles angekommen ist, sich spreu von weizen, ideal von real und innerlich wie äußerlich getrennt haben und sich das ewige GUTE, BÖSE und UNGUTE sowie HALBBÖSE abermals in sich jeweils verheddern. danach kommt bekanntlich oft der sozialneid daher.

es ist doch immer das gleiche, erst gibt es herzen, heissen tee und decken an überfüllten bahnhöfen. und dann, nach einer gewissen zeit und nachlassender empathie, werden wieder empört altersverarmte einheimische rentnerinnen bemüht, die trotz flaschensammeln ihre miete nicht mehr bezahlen können und tür an tür leben müssen neben von irgendwoher eingewanderten fremden. zum beispiel sozialbetrugserprobten „osteuropäern“ – man denke da (nicht) nur an die bis heute sehr verbreitet herabwürdigenden zuweisungen gegenüber bspw. rumänischen staatsbürgern, „den RUMÄNEN“. immigrierten neunachbarn also, welche hier bei UNS natürlich ausnahmslos in saus und braus sowieso niemals arbeiten, den ganzen tag lang vodka trinken, ein vielfaches an diversen sozialstützen beziehen und somit aufgrund tagesfreizeit auch noch tausende verwahrloste alkoholkinder mangelnder intelligenz rülpsend in die welt setzen, die dann später mal sowieso nur am bahnhof rumhängen und handtaschen klauen.

vor diesen hässlich wiederkehrenden reaktionsmustern grauts mir. die zuletzt ja nach 2015 mitzuerleben waren im wahrscheinlich ewiglich dramaturgisch festgelegten musterablauf ggf. äußerer veränderungen altmoderner welt.

die rechten werden sich dieses thema abermals nicht entgehen lassen, ich wette darauf. / andererseits: auch die rechten werden sich gewiss gerne ihre badezimmer von profis aus der ukraine schnell und v.a. günstig neu fliesen lassen wollen. bezüglich des fachkräftemangels generiert dieser krieg mit seinen fluchtbewegungen ja fast schon einen hoffnungsschimmer für die deutsche wirtschaft, denn endlich kommen welche, die noch zupacken können in berufen, die schon lange kein biodeutscher mehr ausüben möchte.

frau mullah ermahnt mich für diese herumspazierenden gedanken. es kämen doch vor allem frauen und kinder. und wenig männer, noch weniger junge männer. und ausserdem wollten diese menschen doch alle so schnell wie möglich zurück in ihre heimat. nein, so würde das nicht werden diesmal, das mit der fluchtrezeption. wahrscheinlich hat sie recht. hoffentlich hat sie recht. ich glaube, sie hat recht. und sie berichtete dann auch noch von einem in berlin lebenden freund, welcher dort in diesen tagen vor einem lokal ein schild sah mit der aufschrift: „Hunde und Russen müssen draußen bleiben!“.

es ist ekelhaft.

man sollte wohl einfach in diesen tagen nicht so viel in der gegend herumdenken, schon gar nicht zweckungebunden phantasievoll. man sollte stattdessen seiner täglichen arbeit nachgehen, den dieselpreis beobachten, für die ukrainischen menschen hoffen und beten und ebenso für die russischen. sich etwas brennholz vor die hütte lagern und um 22.00 uhr zu bett gehen, für alle fälle.

Tageb. 7.3.22

ascona

(…) Habe ja nun doch den VHS-Schnellkurs „Das Maschinengewehr – Gebrauch, Wartung und Pflege, 3-tägiger Praxiskurs für reuige Ex-Kriegsdienstverweigerer im herrlichen Schönbuch. Wir treffen uns an der Friedenslinde im Gewann Wolfenlöchle, Beginn jew. 5.45 Uhr“ abgesagt. / Auf dem Autobahnweg zur Zweitberufsbaustelle gestern Abend fiel mir deutlich eine allgemein verringerte Durchschnittsgeschwindigkeit auf, auch im Mittelklassesegment. Im Vergleich zur Vorkriegszeit. Ein Tempolimit durch die Hintertür, auch recht. Auch wenn es meinen Beutel natürlich schmerzt, dieser Liter Diesel 2 Euro. Langsam fahren als ein Beitrag gegen die Kriegskasse des Verbrechers. Solidarität durch Tempo 110, schön. Viele Fliegen, eine Patsche. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir das russische Gasheizungsgas und das russische Ölheizungsöl, angeblich ja rund 50% des bundesdeutschen Lieferbezuges, wie ich erstaunt neuerdings vernahm, ersetzen. Auf die Schnelle. Bevor er’s uns abdreht. / Das kann ja was werden. / Spinnweben – meine Güte Spinnweben. Wenn man sie wegmacht, dann sind sie sechs Wochen später wieder da. Ähnlich ist es mit dem Staub und der Asche. Und Totgeglaubten. Und leeren Kühlschränken und Tankfüllungen. / Frau Mullah hat jetzt Corona. Und obwohl wir – noch unwissend – gemeinsam und schön unterwegs waren, habe ich es nicht. Bisher. Meine Tests wollen auch nach sieben Tagen einfach keine zwei Strichlein bekommen. Ich bin nicht stolz darauf, sondern einfach nur froh. Auch das PCR für 75 Euro erteilt Absage. Eine Isolierung innerhalb einer Innigkeit ist schlimm. Das merkt man dann ganz schnell. Ich schlafe auf der Waldrandbaustelle und wir telefonieren. Übrigens – mich hat allein die Testorganisation und die dadurch nicht wahrgenommene geldwerte Arbeitszeit an einem Tag mal eben 350 Euro gekostet. Verdienstausfall bei Selbstständigen. Wenn Du nicht arbeiten kannst, dann verdienst Du eben kein Geld, ganz einfach. Dies an die Adresse von selbstverliebten C-Spezialisten im Angestelltenverhältnis. / Mir geht die derzeitige Tageskälte und der sonst so geliebte Ostwind langsam auf den Zeiger. Er kitzelt meine Schimpfbereitschaft. Klartext, oder wie früher, Titten auf den Tisch! Wir können auch anders, die Zeiten sind rauh und sie werden hart. / Zwischendrin im Atelier temperierende Übersprungsbilder in weichem Öl auf altzarter Pappe, zum Beispiel „Abend in Ascona“ oder nochmals sicherlich demnächst eine „Große Düne in Nidden“, „Winterliches Odessa“ oder ähnliches. Was hat man denn noch sonst, außer den samtenen Subjektivitäten, landregengleich, als kleine private Temporärflüchtchen ganz verinnerlich inmitten von Stahlwettern jeglicher Art. Von überall her. Im Wind sich wiegende Kornähren, der ganze Mist eben. / Dies, während andere bereits jetzt alles verloren haben und in entblößter Flucht. / Abb. zeigt: „4.3.2022Abend in Ascona“, 2022, 21x21cm, Öl/Lack/Schreibmaschine auf Pappe / © div.

erster maerz ukr

mir fällt nichts mehr ein, alle sprache ist mir perdu seit fünf tagen, die geschichte der letzten jahrzehnte, die auch die meine ist, mitsamt meiner träume besserer welten hat sich in noch nicht einmal einer woche vollständig zurückgedehnt. ein älterer mann einer anderen epoche mit problemen an den sexualhormonen hat sich zu diesem verpuffenden theater entschlossen. er will es wohl noch einmal, ein letztes mal, wissen und sollte es nicht klappen mit seinen wahnhaften vorstellungen, dann wird er eben die halbe welt tosend mit hinab in sein grab nehmen. vor 40 jahren traf ich in sehr ähnlicher situation einige für mich grundlegende entscheidungen. das ist auch der grund dafür, weshalb ich bis heute nicht weiss, wie man ein maschinengewehr bedient. wie gerne würde ich es nun wissen, nach langen jahren schmerzhafter erkenntnisse über die ewigen wiederkünfte, die nun derzeit eine endsumme formulieren. aber vielleicht ist es besser, dass ich es nicht weiss. ich wollte es erst gar nicht können. ich sollte mich besinnen. denn was ich seit damals hingegen weiss, ist, wie man querschnittgelähmte junge und alte männer kathetert, wie man ihnen ein kondom mitsamt schlauch zum ablauf der flüssigen ausscheidungen an den penis klebt, wie man ihnen tatkräftig beim abführen hilft und wie man bei all dem die schmerzhaften peinlichkeiten von gefühlen und gerüchen überspielt, wie man ihnen, egal ob mann oder frau, ihr gebiss einsetzt, weil sie es selbst nicht mehr können, wie man sie am besten füttert, egal ob sehr jung oder alt, und wie man vor allem ihr leid mitträgt, wenn sie nachts weinen, meist leise, wenn sie sich noch nicht einmal mehr alleine das leben nehmen könnten, sollten sie es wollen. und wie man sie in einen rollstuhl setzt, natürlich. aber was nützt mir das alles nunmehr, in dieser jetzigen weltsituation. vielleicht hätte ich damals, vor vierzig jahren, eben doch einfach schießen lernen sollen.