die alte dame hatte ja immer „schnibbeln“ dazu gesagt, sie, die sie ihr ganzes leben lang so oft es denn eben ging in der prallen sonne lag und dies mit zunehmenden und später auch hohen alter durch diverse zu entfernende hautsachen büßen musste, was sie aber stets in kauf nahm. „ist wieder was BÖSES“, sagte sie oft lachend. ich selbst war nie so der stundenlange strandtyp, auch nicht in kindheit und jugend, außer ich konnte, wie seinerzeit irgendmal in cuxhaven, meinem frisch entdeckten schüchternen interesse an der beobachtung von bikinis nachgehen, oder sogar dem oben-ohne, wie damals noch weit verbreitet, aber das war schon fast zuviel und ich wurde rot, auch ganz ohne sonne, im gesicht. schön war das trotzdem gewesen. / nun also hatte die hautärztin, in deren praxis ich unzählige male die alte dame bei diversen schnibbeleien begleitet hatte, auch bei mir so ein schnibbelding entdeckt. nichts schlimmes, aber man müsse es wegmachen, da es BÖSE sei und weil das eben immer größer werden würde, so über die jahre, und dann müsse man eben immer mehr wegmachen, daher lieber jetzt. sie würde das ja selbst machen, wenn es denn nicht an der unterlippe wäre und ich 30 jahre älter wäre. so schmeichelte sie mir. „wegen der kosmetik“ und lachte. „danke“ dachte ich mir, sehr nett. drei tage würde das wohl dauern, und ich fragte erstaunt nach dem warum dreier tage? / die schneiden das weg und nähen noch nicht zu, dann braucht die histologie zwanzig stunden und dann sagen die, ob alles weg ist. wenn nicht, dann müssen sie tags drauf nochmal schneiden. und so weiter. erst wenn dann alles weg ist, dann nähen sie wieder zu. / begab mich also stationär in die nahe universitäre hautklinik, um erst einmal einen C-schnelltest und einen PCR obendrein zu absolvieren. sodann ins zimmer mit einem sehr alten mobilen und obendrein netten bettnachbarn. schließlich, gegen frühen nachmittag, wurde ich ins OP beordert, wo sogleich einen routinierte örtliche narkose begann, durch mannigfaches in die mundgegend-pieksen. alles wurde darin vollgepumpt und mein gesicht und lippe immer dicker, ich dachte, ich müsse bersten. es ist nicht schön, wird man neben der unterlippe gestochen. in dieser gegend läuft ja das ganze leben quasi zusammen, geschmack, liebe, odem, dasein, wolllust und abscheu. am ohr wäre es sicherlich nicht so schmerzhaft gewesen. dachte ich mir. / der narkotiseur meinte liebevoll „schön, dass sie sich jetzt selbst nicht sehen können“. schließlich war ich also wohl bereit fürs schnibbeln und wurde in ein anderes zimmer gefahren, wo eine krankenschwester den blutdruck von 160 zu 90 an mir maß. ob ich denn vielleicht doch ein kleines „sektchen“ haben wolle, meinte sie freundlich, und ob ich wohl ein bisschen aufgeregt sei? ich bejahte vehement, sie stach mich und ich dämmerte dann, nach sektchen, so ein bisschen weg, ohne den eigentlichen operateur – einen ausgewiesenen fachmann auf seinem gebiet, wie mir mehrfach zu ohren gekommen war – überhaupt zu gesicht bekommen zu haben. / ich glaube, man könnte mir den fuß abhacken, das würde mir weniger ausmachen, als im gesicht fünfzig mal gestochen und sodann ebenda geschnibbelt zu werden. / nun dachte ich, alles wäre überstanden und ich müsse noch bis zum folgetag um die mittagszeit abwarten, um schnell wieder zu hause zu sein. am zweiten tag dann war ich wohlgemut, bis eine junge drahtige stationsärztin lächelnd als überbringerin der von ihr selbst verkündeten „schlechten“ und damit BÖSEN nachricht ins zimmer spazierte: nein, es sei noch nicht alles entfernt, sie müssten heute nochmals schnibbeln. „stellen sie sich einen kuchen vor in stundenform – zwischen 12 und 3 müssen wir noch weiter entfernen.“ das habe das dreidimensionale ergeben. / obwohl schon alles zugenäht. / allein die vorstellung einer gerade verheilen zu beginnenden wunde, die nun abermals geöffnet und bearbeitet würde, die ließ mich verzweifeln. ich war sehr unglücklich. sie würden das ja mit einem speziellen 3D-verfahren begutachten, dass es anderswo gar nicht gäbe, so dass eben punktgenau alles BÖSE entfernt werden könne, ohne zu viel wegzunehmen. wegen kosmetik, gesicht, lippe und odem, dasein, abscheu und wolllust. / und wieder lag ich im operationszimmer, ein weiterer maskierter jungnarkosearzt stach mich schwungvoll ins gesicht und verabschiedete sich mit „alles gute ihnen!“ in seine mittagspause, während das gerät vollautomatisch sein zeug abermals in mein gesicht pumpte, mir wurde kalt, niemand war da sonst außer mir und die maschine pumpte und pumpte, mehr als vortags und irgendwann dachte ich, meine lippe und das angrenzende gesicht würden gleich platzen. / im anderen zimmer, bereit zum schnibbeln, bat ich diesmal sofort um das „sektchen“, der „zugang“ lag ja noch gottlob, und diesmal sah ich den operateur, ein recht junger und wirklich netter spezialarzt. dann dämmerte ich und stellte mir mich am strand in praller sonne vor. alle waren nackt, keine bikinis oder moderne badehosen. / zurück im zimmer erzählte mir mein neuer bettnachbar, ein im strafvollzug beschäftigter endvierziger aus dem badischen, dem ähnliches an seiner augenbraue-links bevorstand und der es tagtäglich mit massenmördern zu tun hat, dass er gehört habe, dass diese prozedur des nachschnibbelns bis zu fünfzehn mal stattfinden könne. eben so lange, bis sie alles BÖSE erwischt hätten. / mir schwante übel und wurde ebenso. sollte das prinzip von operationen, demnach man zunächst den BÖSEN eingriff habe und danach der prozess der inneren und äußeren bewältigung und steten besserung beginnen würde, im besten falle mit einem happy-end, hier durchwirbelt werden? ein auf und ab, abermals wieder und wieder? ja, das scheint in diesem falle logisch. der kosmetik und begrenzung der deformation zugunsten, allerdings ein psychisch herausfordernder schmerz- und geduldsprozess, nicht unbedingt analog menschlicher grundempfindungslinien. / ich beschloss also, von nun an eher der schlimmen anstatt der guten geschehnissverlaufslinie den vorzug zu geben, ganz anders, als ich es gewohnt bin. aus schutz vor dem selbst. ich war mir also lieber sicher, auch am folgenden tag würde noch etwas BÖSES übrig geblieben sein. / um es jedoch kürzer zu betrachten: dem war nicht so. ich konnte es nun, da ich mich innerlich umgedreht hatte in meinem defektverlaufsdenken, kaum glauben. nur einmal nachschneiden. dabei hatte ich mich doch schon innerlich auf ein weiteres mal eingestellt. aß noch schnell das bereits an mein bett gestellte pürierte spezial-essen mit süppchen („Schluck2“) und verließ in windes eile das krankenhaus, so glücklich, wie lange nicht mehr ich war. / über ausreichend demut verfüge ich ja bereits selbsteinschätzend, aber dieses erlebnis gab diesbezüglich nochmals einen schub. und sowieso: es gibt ja wahrlich schlimmere dinge, als einen gutartigen knubbel an der linken unterlippe, auch wenn diese arten von knubbeln bereits als „tumor“ bezeichnet werden. / empfehle also allen, einmal im jahr ein haut-screening durchführen zu lassen. einfach so. / ein paar stunden später ließen sich frau mullah und ich ob dieses glückes in der modellstadt tübingen testen und gingen mit persilschein in außengastronomie maskenlos einen kaffee trinken. meine lippe schwillt stetig ab und im arztbrief las ich heute, wieviele subkutane nähte und ausgleichsgewebe, woher auch immer, in jenen halbstunden, da ich sektchen genoss, mikroskoisch an mir und meiner rechten unterlippe vorgenommen wurden, um 4mm tiefe und 14x14mm gesamtfläche des BÖSEN irgendwie wieder hinzubasteln. schau‘ ich in den spiegel, dann sehe ich da nicht etwa ein loch, auch keinen krater, sondern nur zwei dünne fädchen, die in acht tagen von irgendwem gezogen werden sollten. die anderen lösten sich von selbst auf, so steht da. / und das alles in COVID-zeiten. ich versteh vieles nicht mehr, hinten und vorne, oben und unten, links und rechts, diagonal und gegendiagonal. also schräg links und rechts. dabei dachte ich doch immer, man würde mehr verstehen mit zunehmendem alter. wie nah man sein kann und wie fern. zu gleicher zeit und gedehnter zeit. allein wegen des schmerzes. so einfach, so banal, so unsagbar einfach und doch immer so wichtig. das ist ein defekt. ein defekt wäre ja fast schön, besser noch, als ein prinzip. es scheint aber ein prinzip. / ach, wie gerne hätte ich fortan eine hafenkantenschlägereinarbe vor mir hergetragen, unterlippe rechts, in der fressegegend. schon einfach nur und alleine deshalb, um das BÖSE, nun meinerseits, auch mal ein bisschen zu erschrecken. / stattdessen brasilianische mutanten. ich wollte immer noch mal eigentlich nach buenos aires. (27.3.2021)
Noch ungefähr 8000 km, dann muss ich meinen Zahnriemen wechseln. Man darf das nicht leichtnehmen, ein kompletter Motorschaden könnte die Folge sein, wenn der Riemen unvorhergesehen reißt. Wenigstens ist diese Angelegenheit bis zum ersten April in einer wattierten Mobilitätsgarantie besänftigt. Alles ja gerade irgendetwas mit Zahn, warum also nicht auch der Wagen. Wie passend einerseits.
Die Rosenstöcke sind abgeschnitten, der Kirschbaum gefällt. Sein hauptsächlicher Stamm, mächtig, fiel – anders als mit einem tüftelten Motorkeilschnitt geplant – zu einem gehörigen Teil auf den öffentlichen Fußweg nebenan und verfehlte um kaum 5 Meter ein dort gerade entlangspazierendes Ehepaar. Ich muss ihnen unbedingt nochmals eine Entschuldigung nachreichen, sowie eine Flasche guten Zweigelts dazu. Ich war sehr bewegt, erst eine Stunde später begann mein Herz zu rasen, es war mir unheimlich, bewegend und sehr peinlich. Was für ein großes Glück, daß nichts passiert ist.
Fünfzig sei ja das neue 30, also bin ich nun knapp vierzig. Sehr schön. Ich könnte ja auch gar nichts mit mir als Risikogruppe anfangen, schon rein vom Selbstbild her. Ohnehin hat ja jetzt angeblich die Altersgruppe der „50 bis 80jährigen“ das Nachsehen. Was für eine „Altersgruppe“ soll das bitteschön sein? Ich gehöre also mit knapp vierzig nicht zu dieser nunmehr offenbar verlorenen Generation, anders, als wie mein Vater, denn damals rechnete man noch anders, auch das Erlebte und Überlebte.
Man dividierte anders.
„Too Old to Rock ’n Roll, Too Young to Die“, oder besser: zu jung zum Impfen, zu alt für leichte Verläufe. Immerhin gut genug aber, um vorher noch ordentlich Steuern zu bezahlen. So hat eben jeder sein persönliches Ovum mit dieser Geschichte, ob Henne, ob Hahn, ob männliches Küken oder Spiegelei div. mit Senf.
Die Elektriker im besten Alter in der oberschwäbischen Kirche kennen weder Angst noch Masken. Ebenso der alte Malermeister im fränkischen Schlösschen. Als wäre nichts gewesen stellt er sich neben mich und fachsimpelt. Maske trägt man halt, wenn’s staubt. Wenn’s nicht staubt, trägt man keine Maske. Ich trat discret einen Schritt zurück und er folgte mir, Himmelarsch. Wir auf dem Bau haben eben seit jeher ein gutes Immunsystem, wegen der Bewegung. Gestorben hingegen wird in den Büros, wo sie den ganzen Tag vor Bildschirmen sitzen und Schokolade fressen.
„Two Eggs medium over“, das war mein Frühstück immer gewesen in Chicago.
Zwischen Kupferzell und Neuenstein fiel mir gestern der Name desjenigen wieder ein, dem ich vor ungefähr 43 Jahren die von mir damals gerade erst vom ersparten Taschengeld gekaufte LP „Don’t shoot me I’m only the Piano Player“ ausgeborgt habe. Ein reicher langhaariger Architektensohn. Er hat sie mir nie zurückgegeben, auch auf Nachfrage vor vierzig Jahren. Das ärgert mich bis heute. Ich muss da unbedingt noch mal nachhaken, bevor er am Ende noch am Corona stirbt.
Meine Empörung braucht seit Geburt ein wenig zu lange, bevor sie sich Bahn bricht. Dafür bin ich andererseits sehr wenig nachtragend, so daß sich vieles dann in Luft auflöst, bevor es überhaupt da ist.
Die schönen handgenähten Masken habe ich jetzt in’s Altkleider gegeben für die dritte Welt.
„Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh 4,16) / so einfach ist, koennte das.