Quellenlagen

Die ewige Restmelancholie der westlichen Welt geht mir auf den Wecker. Manchmal. Auch ich gehe mir manchmal auf den Wecker. Andererseits hat ja der Winter das Denken hervorgebracht. Die Vorratshaltung. Andere wieder sagen, es sei die andauernde Wärme des Südens gewesen, welche die geistigen Kapazitäten jenseits eines Überlebenskampfes freisetzte. Die ältesten bekannten organisierten Stadtsiedlungen befinden sich meines Wissens im Libanon und in Syrien. Sie sind rund zwölftausend Jahre alt. Bärtige Männer gehen mir durch den Kopf. Hinterrücks. Die zwei zivile Lastkraftwagen anhalten und die Fahrer, nur weil sie Alewiten sind, am Straßenrand hinrichten, einfach so. Und das ganze dann auch noch filmen. Stolz, hinterhältig. Aber man sollte lieber nicht irgendwelche Filme ansehen im Internet, zumal spätabends, zumal das Gesehene ja auch ganz anders sich verhalten hätte können. Es fehlen ja immer auch die Verifizierungen von Quellenlagen. Vielleicht waren das Schauspieler. Bestimmt waren das nur Schauspieler. Raffiniert, perfide. Wenn ich manchmal alt werde, dann sehne ich mich nach dem völligen Zusammenbruch des Internets. Nach dem Komplettversiegen des schon lange über die Ufer getretenen Informationsflusses. Nach einem Zustand, in dem nicht jeder zu jeder Zeit alles – ob Wahrheit oder Unwahrheit – mitteilen kann aus Eigennutz. Auch ich nicht. Man würde dann bei Kerzenschein abends zusammensitzen, ein Glas Wein trinken und sich Geschichten erzählen von fremden Ländern und zwölftausend Jahre alten Siedlungen, in denen schon Hochkultur und Restmelancholie gepflegt wurde, als bei uns noch bärtige Männer in langen Gewändern andere einfach so ermordeten von hinten.

sierend

eine schraube steckte im rechten vorderreifen und als wir sie schließlich herausrauszogen, machte es pfffffft. vorher hatte es klack-klack-klack gemacht, ich dachte zunächst, es wäre ein splittsteinchen. man kann diese löcher auch stopfen und vulkanisierend verkleben, anstatt zwei neue reifen zu kaufen. das stopfen kostet zehn euro, zwei neue reifen mit aufziehen und wuchten kosten mindestens hundertsiebzig. ich habe vulkanisieren gewählt und mich erinnert, wie oft mich als kind beim fahrrad-flicken das wort mit den vulkanen beeindruckt hatte. das musste etwas aus der unbekannten vulkanwelt sein, die sicherlich viel größer und mächtiger wäre als die menschenwelt. natürlich wollen die werkstätten neue reifen verkaufen, insbesondere diejenigen unter vertrag. aber bisher ist alles dicht vorne rechts und das rad läuft ruhig und rund.

Kunsthistoriker aufgepasst #2:

Ich befinde mich zur baugeschichtlichen Untersuchung eines großen Gebäudes, zu der mich der nette Kollege W. kurzfristig dazugebeten hat zur Mithilfe, gerade hier:

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Man könnte ein ganzes Buch füllen mit Aufnahmen der Innereien des Bauwerkes und des Gesamtgeländes. Alles ist noch am Platze in den Zimmern, Großräumen und Hallen, auch die vielen kleinen Details und Spuren von einhundert Jahren Betriebsleben und den Geschäftigkeiten einer ehemaligen „Hauptwerkstatt“. Und schläft Dornröschen. Endgültig verlassen wurde alles vor zehn Jahren. Um 1944 hingegen sah es dort so aus.

Allerdings will ich eigentlich nur wissen, seit wann es Ihrer Meinung nach sog. „Dreifeldertüren“ mit drei gleichformatigen übereinander angeordneten Türblattfeldern gibt. Zum Beispiel eine solche:

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Vergessen Sie jetzt mal das Glas im oberen Feld. Könnte auch ohne Glas sein. Höhe 2,13m, Breite 94cm. Diese Türform gilt (wie Sie ja natürlich sofort erkannt haben, Baustilkunde/Grundstudium) als übliche Türform der 1930er (!) Jahre. Logisch. Aber könnte es nicht vielleicht auch sein, dass sich jene Türgestaltung bereits im ausgehenden Jugendstil anbahnte? Also zum Beispiel ab 1910? Und was war mit den 1920er Jahren, dem Art Deco oder dem Bauhaus-Stil zum Ende der 1920er Jahre hin?

Wenn diese Tür nun aber (oder eine ihrer Zwillinge) beispielsweise dann auch noch einen solchen…:

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… Türdrücker, also die Klinke, mit zugehörigem, sich nach unten verjüngendem Beschlag aufweist, dazu alles aus Messing, was ließe sich dann sagen in Bezug auf eine genauere Datierung?

Natürlich muss das Jugendstil sein. Eigentlich. Die Rillen?! Ganz typisch. Aber Vorsicht: Sah ich nicht neulich auf der Göringburg von 1939 mehrere Türklinken, dazu aus Messing, die der abgebildeten so sehr ähnlich sahen? Mit Rillen? Und könnte es vielleicht auch sein, dass Dinge und Beschläge ggf. wiederverwendet wurden, zwanzig Jahre später? (Wieso eigentlich schon zwanzig Jahre später?) Oder vielleicht nachempfunden? Oder vorempfunden?

Es geht um den Zeitraum von 1912 bis ungefähr 1935. Also vergleichbar dem von 1991 bis heute. Es ist eine knifflige Sache. Meine zentrale Frage wäre ohne Schnörkel:

Gibt es jene „Dreifeldertüren“ ab ca. 1930 oder schon vorher? Ja oder Nein.

Es ist mal wieder sehr detailspannend an einem besonderen Ort und über Ihre Einschätzungen oder ggf. Sichterfahrungen würde ich mich sehr freuen.

….

spätabends draußen schmatzen die igel, wahrscheinlich sinds die igel. ’sputnik, brother‘ – ich möchte auch mal, dass irgendwann meine sachen in einer vermüllten münchner wohnung gefunden werden. /warum muss ich eigentlich etwas malen, was ich sehen, fotographieren, ausschneiden aus magazinen, verstehen oder beschreiben kann? fragt mein chef. „across the universe“, sag‘ ich, „ist nicht das schlechteste“, ohne damit eine antwort gegeben zu haben, geschweige gedacht.

wurstebrei

Nun Schläuche abmontieren, den Rasenmäher verstauen, Quitten aufsammeln und die paar restlichen Äpfel auch. Stühle rein, Splitt holen rechtzeitig, genug Öl ist im Tank. Das Außenwasser abdrehen und die Leitungen entlüften, damit der Frost hineinkriechen kann. Frostschutz ins Wischwasch. Texte, rückwärtsgewandte, wieder entfernen, so wie gestern kurz vorm Kino. Herausnehmen aus dem Ganzen. Auf auf nach vorn, vorwärts. Egal. Wurstebrei.

Wurstebrei. Erinnert mich an den Vorharz.

Die Herbstlinie ist lang und sie gefällt mir, fühl dich nicht zu wohl am Waldrand, aber warum eigentlich nicht. Eigentlich war das hier alles doch nur vorrübergehend gedacht. Zu tun, irgendwas, hab ich immer. Endlich Farbe, Öl, Matschen. Legen, schleudern, tatschen. Ohne Denken jetzt. Sollen andere. Sowie vier Kilogramm Umbra-Natur sind bestellt für einen kleinen Putz an einem alten Haus, den es zu opfern gilt. Und rennen, rennen, rennen. Durch den tiefen schönen Wald, jetzt wieder mit Schal.

Was fängt man an in der Zeit zwischen jenseits der ungefähr endvierzig? Hat mir niemand gesagt, dass das Ableben da überall so präsent ist. Im Umland. Viel Liebe sicherlich, ganz egal, wie. Und einfach viel machen, alles. Und viel Schlafen. Und viel Lachen, wenn möglich. Heute Morgen kurz vor der Kirch’ versprach ich mich und sagte anstatt „Waldrand“ ausversehen „Waldstrand“. Mit dem Lachen hab ich kein Problem.

Am Nachmittag kamen wir per KfZ nach einem schönen und herbstlich schwäbischen Sonntagsessen ganz unvermittelt gegen 15.45 Uhr an einen Unfall heran, der sich ein paar Minuten zuvor ereignet haben musste auf einer harmlosen Landstraße unter großem Herbsthimmel mit Wind. Ließen noch das Polizeiauto mit Blaulicht vor uns dorthin einbiegen ohne schlimme Gedanken und waren einige Meter später dann die dritten in der Schlange der betroffen Anhaltenden. Die Straße war bereits gesperrt. In Sichtweite schon die wiederbelebenden Stoßbewegungen der Zeugen und Beteiligten als Ersthelfer, ein paar andere standen daneben und schauten zu und dorthin, dann erreichten von rückwärts der Notarzt- und Sanitätswagen den Platz. Wir wendeten nach ein paar Minuten, sehr wortlos, die Hände und Finger irgendwie geballt oder verschränkt in irgendeiner Tasche oder am Lenkrad, um den Ort zu verlassen, an dem alles vorhanden war an Hilfe und an dem es nichts mehr zu schauen, wohl aber zu ahnen gab, wir wollten da auch nichts mehr schauen oder ahnen.

Eine 25jährige Frau, Lenkerin eines weissen Polo, so las ich später, hatte eine offenbar völlig unachtsam aus einem Querweg in die Straße hineinfahrende Radfahrerin überfahren und noch versucht, in die Wiese gegenüber auszuweichen, vergeblich, denn die Radfahrerin verstarb noch am Unfallort.

Nach einem späten und tief traumlosen Nachmittagsschlaf dann abends den sehr sehenswerten und abermals nicht ganz unbewegenden Film „Inch Allah“ im Festivalkino* gesehen. Das auch noch. Auch das noch.

*

Meine Gedanken könnten natürlich im Film sein, aber auch v.a. bei der Polo-Fahrerin. Und sowieso natürlich bei der Radfahrerin. Sie sind es noch, jene Gedanken und wasweissich, zwei Uhr nachts ist es jetzt. Was für ein Tag, dazu ein Sonntag. Und Vorhaben: Ich muss wieder weniger aufschreiben. Weniger T-Shirts und weniger Alltagspathos in unsinniger Beobachtung, lieber eher Wurstebrei. Aber es ist schon blöd, wenn 50 Meter vor einem jemand gerade stirbt.