RG

Die Trockenbauer stammen aus Kroatien und palavern den ganzen Tag mehr als angeregt. Ihr Chef hat den Schnauz wie Nietzsche. Ein stattlicher Mann, der Bart unterstreicht. Er ist 58 Jahre alt, erzählt er mir. „Schon Enkelkinder?“ „Ja!“ meint er stolz, und lacht. Sie bauen Brandschutzplatten ein, sogenannte F-90 Platten. Das bedeutet, dass der Aufzugbereich einem Feuer theoretisch 90 Minuten lang standhalten kann. In 90 Minuten seinen dann alle evakuiert, so heißt es. So die Planung. „Aber was sind schon 90 Minuten, was heisst schon ’sicher‘?“ fragt er. „Sicher ist nie!“ Er sei gerade in Deutschland angekommen gewesen, damals in den frühen 90ern, da ging der Krieg los in Jugoslawien. Drei Jahre lang hat er dann dort mitgemacht. „300 Granaten am Tag!“ Die ‚Drei‘ mit überaus gerolltem „R“. Einmal sei eine zwanzig Meter neben ihm explodiert. Er werde das nie vergessen. Sein Schwager, damals gerade 19 Jahre alt, ist in diesem Krieg gestorben.

„Was ist sicher?“ fragt er abermals laut und schaut mich durch seinen Bart eindringlich und sichtlich bewegt an. Seine Augen sind nass. Schnell arbeitet er weiter.

Ich frage die Köchin, ob man im RG (Reich Gottes) eigentlich auch Sex haben darf. Die Antwort via WhatsApp sogleich „Ich bin mir ziemlich sicher!“ Bin erleichtert.

Der Chef und die Chefin der Rohbauer sind auf der Rückfahrt von einem Kurzurlaub im Oberbayrischen mit dem Auto verunglückt. Sie seien beide schwerst verletzt und lägen irgendwo im Krankenhaus. Der unfallgegnerische Fahrer sei tot. Nun geht es darum, wie und ob überhaupt Gehälter weiter ausbezahlt werden können. Die Beschäftigten haben eine spontane Betriebversammlung auf der Baustelle vereinbart, keiner weiss derzeit, wie es weitergeht und ob der Senior noch Prokura hat.

Auf der anderen Baustelle erzählt mir ein schwäbischer Dachdecker lustige Witze, zum Beispiel einen, in dem ein „blinder Opa an tönernen den weiblichen Brustwarzen nachempfundenen Nippeln am Kamin saugt“. Sehr hässlich. Wieso passiert es oft ausgerechnet mir, dass die Leute ihren Kram an mir abarbeiten? Ich bin zu freundlich. Er lacht dann vor allem selber drüber. Er ist nett, gewiss, ansonsten zugewandt sogar, aber seine Witze sind mehr als nur blöde. Eigentlich scheint er mir viel zu klug für solche Witze. Es sind sicherlich Übersprungswitze, so denke ich mir. Und aber ich, ich muss weiterarbeiten. Also lächle ich Witze und Fragen halbgrimmig weg, in der Hoffnung, er möge kapieren. Und sage „Ich muss jetzt weiterarbeiten!“ Alles andere Verschwendung, von Lebenszeit.

Und Arbeitszeit. Ich bin ja nicht angestellt, sondern selbstständig. Ich kann mich auch nicht krankmelden oder zwei Stunden Mittagpause im Bauwagen machen, einfach so, in der Hoffnung, keiner merkt’s. Und das Geld rieselt weiter. Oder sinnfreie Witze erzählen unter Tag.

Beim Weiterarbeiten also fragte ich die Köchin, ob es im Reich Gottes auch eine Raucherecke gäbe. Schäme mich alsbald für diesen kleinlichen Gedanken. Ich wäre jedenfalls sehr gespannt auf’s RG.

Wie ich erst vorgestern erfuhr, hat mein Vater als 19-jähriger ein Eisernes Kreuz 2. Klasse erhalten, da er „am Brückenkopf von Amiens in stärkstem Feuer einige schwerverletzte Kameraden in die eigenen Linien holte“. Ich wühle mich so durch, muss, durch diese ganzen Hinterlassenschaften. Bin zwar immer noch den überbordenden Verblichenen wohlgesonnen, aber ich hoffe, dass ich bald alles dann auch mal ablegen kann, ordnen, verpacken, zuweisen und endlich: Wegräumen. Nach diesem Jahr. Auch dann, wenn ich lesend finde oder findend lese, die alte Dame hatte es festgehalten, daß, als der Vater an den späten Folgen der Mangelernährung während seiner russischen Kriegsgefangenschaft gestorben war, „der kleine Schneck darauf wartet, daß der liebe Gott, wenn er das große Wehweh vom Papa heile gemacht hat, ihn uns zurückschickt.“

Über all solches behauptet ja die AfD, es sei ein „Vogelschiss“ gewesen. Innerparteilich unwidersprochen.

sic.

(Ich werde diese Einschätzung mal an meinen Vater in’s RG weiterleiten.)

Die Steinmetze der anderen Baustelle haben mir ihre angefangenen Säcke vom Kalkmörtel geschenkt. „Wir schmeißen das sonst eh‘ nur weg.“ Danke. Mein Lager am Material wächst. Die schönsten Rückfahrten sind diejenigen von der schwäbischen Alb hinunter nach Hause. Erst die weiten gerauhten und leeren Gegenden, dann der steile Abbruch. In engen Windungen hinunter zu harmonischeren Kurven, bis sich die Landschaft sanft glättet zwischen den Klifflinien des Jura und dem uralten Schwarzwald in mittlerer Ferne. Noch dahinter der Rhein und die Vogesen.

Und es gibt auch schöne Hinfahrten, zum Beispiel diejenige über die A9.

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