Chor der Engel erwacht

Sorge des Lebens verhallt, weisser Wein, weisser geht kaum. Der Wein, der Teewagen, Berge von Geschirr, die Kissen voller Küsse und Milben und Nachtsabber. Die alten Schaffelle, die plastenen Untersetzer für längst vergangene Pflanzentöpfe, mürbe und verbleicht, die alten Koffer für eine Übersee, die es nicht mehr gibt, aus einer Zeit, als diese noch lohnenswert schien, Koffer, die ihren Sex vor sechzig Jahren hatten, die alten Landkarten von USA und DDR, Broschüren über irgendwelche resistenten Widerstandskirchen in Ostdeutschland, Matratzen aus Rosshaar aus dem Cuxhaven von 1944, beschriftet mit „Eigentum Kober“, jede Menge Eimer aus allen Zeiten, wahrscheinlich damals im Angebot und hinuntergepreist auf Pfennige und auf Vorrat gekauft, viele am Boden zersprungen, ein kleiner Riss im Erdölprodukt, verblichenes Orange oder Hellgrün, immerhin aber mit Deckel, (wer braucht schon einen Eimer mit Deckel?), auch für diese damit keine Verwendung mehr, nicht mal fürs angedachte Vogelfutter und die Tüten mit Sonnenblumenkernen von 1971 zu zwei Mark fünfzig. Schaukelstühle, von denen die Köchin meint, sie seien jetzt als „vintage“ gut veräußerbar, ich denke eher nicht, allerhöchstens, weil die schon da waren, als Bonanza lief und die Leute von der Shilo-Ranch und Klimbim, als der Fernseher noch im Obergeschoss stand.

Klimbim, rückwärtiger Gedankensog beim Sichten, damals kam man ja nicht so leicht an Nacktbilder vom anderen Geschlecht, da war so ein Busenfoto ja schon noch was besonderes und spannend, ich erinnere mich nebelig an die Werbung für FA-Seife und „Klimbim“ oder die Seiten für Unterwäsche im Quelle-Katalog und die drei Bände Allgemeinlexikon, afrikanische Völker oben ohne. Heute klicken sie Porno, aber ob das große Geheimnis ihnen deshalb einmal leichter fällt, wage ich zu bezweifeln. Na, die werden das schon hinkriegen, so wie wir das ja auch irgendwie hingekriegt haben, zu allen Zeiten musste das ja hingekriegt werden oder es regelt sich von selbst und ehe man sichs versieht, ist der Chor der Engel erwacht.

Schreiberlingutensilien, Faserstifte aus 1976, alle gehorteten Minen vertrocknet, aber die Hüllen ok, alte Taschenkalender, hart gewordene Radiergummis, spröde Kunststofflineale, Bleistifte aus Amerika Mitte der sechziger Jahre, dazu Faber Castell, ganze Metallschachteln noch voll von den altvorderen Architekten, das sieht aus wie irgendwelche Landminen, ein wenig militärisch, aber alle eher 2h, anstatt weicher, damals wurde ja noch per Hand gezeichnet, rührend. Bänder, Lederriemen, Schnüre, Stoffe, auch solche zur Verdunklung bei nächtlichen Angriffen aus der Luft, Bettdecken, Schonunterlagen, es könnten ja Kriege und Katastrophen kommen, hässliche Kuscheltiere aus PVC, vermutlich Werbegeschenke, und immer wieder Kissen und Daunen und Rucksäcke, falls die Russen oder andere Feinde kommen, der Strom ausfällt oder irgendein anderer Krieg daherkommt und man schnell in die Schweiz flüchten muss, zu Fuß versteht sich. Gelatine originalverpackt, Kernseife und Waschmittel, alles Museumsware.

Dies Haus hier, eine einzige innere Ruine. Angefüllt immer noch mit Relikten aus Krieg, kaltem Krieg und Wirtschaftswunder, irgendwann blieb alles stehen, vor allem die Zeit, Zucker für den Schwarzmarkttausch und Vasen, hunderte, für BLÜMLE und PFLÄNZLE im Hause, wo doch der Garten ohnehin ins Haus hineinwächst und sich alles zurückholt.

Im Keller wahnwitzige Grippemedikamente, Tamiflu hieß das, gegen apokalyptische Epedemien, alle abgelaufen, dazu noch harte toxische Totenkopfsachen, die dem Vater einst das Sterben schmerzfreier machten, auch diese wären bereits was fürs Medizinmuseum, überhaupt der Totenkult hier seit sechzig Jahren, überall Bilder mit Kerzen davor und verstaubte Trockenblumenkränzchen, die ihre Farbe längst verloren haben, dazu Gebrauchsgegenstände der diversen Verstorbenen zu deren Ehre, Etuis, Handschuhe, Malkittel, Mützen, einst wichtige Schlüssel, Ordner voller Korrespondenz, Anzüge und Lieblingsjacken, alte Scheidungsvorgänge und zugehörige Schuldfotos, all die großen Wunden in alten Metallkisten, von der eigenen Säure langsam sich selbst zerfressende Dokumente, auch gemalter Nachlass, die Aquarelle bekommen teils rötlichbraune Punkte, manch expressive Schneelandschaften in Öl blättern unwiederbringlich, maltechnische Fehler, leider. Alte Handpaletten mit eingetrockneten bunten Mischfarben, an die Wand kann man die hängen und erinnern, dazu das beschworene Wissen, auf welchem Bett der Vater in welcher Nacht verstarb und wie das Wetter damals war. Und wo das genau stand, das Totenbett. Alte Lederleinen als Erinnerung an den lieben Hund, Deckchen, Näpfchen, Bürstchen, vom jungen Boxer vor fünfundvierzig Jahren angekaute hölzerne Brotmessergriffe. Weisst Du noch?

egal.

Ich könnte weitere Stunden darüber aufschreiben. Unendliche Listen. In dieser Woche war ich froh, dass die Abfallwirtschaft den jährlichen Sperrmüll abfuhr. Doch, so scheints mir, für jedes Ding, von dem ich das Haus erleichtere, tauchen irgendwo aus den Tiefen der Erinnerung des Gebäudes ZWEI neue auf. Chor der Engel erwacht. Das ist verhext.

4 Gedanken zu „Chor der Engel erwacht“

  1. henkellose tassen mit verschorfter abbruchstelle. bräunliche tupperdeckel von 1970 . erblindetes glasservice aus den 80ern. plastikkannen von 1950 mit geradezu samtig zerkratzter oberfläche. … werden wir eigentlich auch so, wir jüngeren?

    1. Oh ja, Danke – Tupper, das Zauberwort! Ich vergaß! Diese samtenen Oberflächen. Wichtig auch Kerzen und Handtücher von 1962. Und ganz besonders der Beistellherd für den Atomfall. Mir träumte es heute Nacht von einem großem güldenen Mischcontainer.

      Welche Jüngeren? Herzlich, Schneck : )

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