Nachtragsgebirge
„Anreise ab dreizehn Uhr, hundertzwanzig auf Schweizer Autobahnen, ab Tiefencastel (was für ein schöner Ortsname) hinaufwärts überholen Münchener getunte Cabriowagen mit seltsamen Geräuschen vom After her, die wohl dunkelblubbernd von null auf hundert in 6 Sekunden können. Auf der Rückfahrt obenda mal wieder 2 Grad. (…) Auf dem Fußweg nach Sils zwei SM-Wanderer im Ärmellosen mit Dildo-Rucksack, wie eine Silberdistel expressiv abstrahiert in Schwarz, die sehr nett aussahen, mit freundlichen Hunden dabei und man weiß nicht, was die Hunde schon alles gesehen haben. Ist auch egal, so gehen eben meine Gedanken manchmal, es sind alles Geschichten um die Menschen und was diese so tun und lassen unter Gottes weiten Firmamenten. (…) Abends Stechmücken, Gletschertöpfe und Krüppelkiefern (was für ein Wort für einen klugen Baum). Mobilität? Wer hat diese Bäume gefragt, wo sie leben wollen. Hier Baumgrenze, fast. Lerchen und Hochmoore. (…) Überall liegen noch sterbende Schneebretter herum. (…) Herr E., der mich mitsamt seiner Familie mitnahm seinerzeit, war damals, 1971, jünger, als ich es jetzt bin. (…) Gott so nah, denkt man in den hohen Bergen, wieso dankt und misst der Mensch denn immer nach oben? Und wenn es sich ganz anders verhielte. Morgen ist Vollmond. Die Gartenschläfer wissen das sicher auch. Lac du Cavloc schönster See, wo ich kenne. (…) Wie schön – 8 Tage kein Internet! (…) Beim Aufstieg zum Lunghinsee von einem waschechten Bayern aus Wasserburg am Inn überholt worden, der erzählte, er wolle endlich einmal wissen, auch als passionierter Angler, wo denn der Fluss seiner Heimatstadt eigentlich entspringt. Oben überall noch tauende Schneefelder, man weiß nicht, wo man da einbrechen würde und wie tief. Keine regulären Wege mehr, eher klettern hie und da, steil. Wir kehren also schweren Herzens um, vespern reichlich, genießen die Sonne und ärgern uns über offenkundig städtische over50 Bio-Kraxler, die steil oberhalb von uns über allerlei recht loses Geröll aufsteigen. Die Frau meint auf zugerufene Nachfrage „Na klar ach wo, da kommt nichts runter.“ Oben eine Herde Steinböcke. Habe ich auch noch nie so gesehen. (…) Der Fuchs latscht wieder vorbei, sie sieht genervt aus, hat aber immerhin einen großen schwarzen toten Vogel dabei für die Kinder. Abendbrot. (…) Die Köchin liest in der Abendsonne vor dem Haus, später wird sie eine Sonnenkante auf der Haut nahe Sonnengeflecht feststellen. Erhaltende Arbeiten an der oberen kleine Dachterrasse. Die Bergsonne verbrennt regelrecht das Holz, das noch gar nicht so alt ist, an der Türe. Mische noch vorhandenen Rest-Leinölfirnis mit zugekauftem Speise-Walnussöl. Kochen und Maltechniken als Weltgedächtnis. (…) An die alte Dame gedacht, das mitgeführte kleine Sargkreuz von ihr in der Hand geschmeichelt. Vor zwei Jahren hatte sie noch regen Anteil genommen an unserer Reise. Vor 48 Jahren, während meines ersten Kinderurlaubes hier, hatte sie vorbeigeschaut an diesem Ort, im Porsche mit dem geliebten Dr. Schiwago, auf dem Weg an irgendeinen Lago und gewiss mit Träumen einer allzu jungen Witwe. (…) Forno. Fünf Stunden Geröll machen schöne Beine. Wir sind mutterseelenallein. Was den Leuten alles entgeht. (…) Habe mir dort ungefähr eineinhalb Kilogramm bachgemahlenen Feinsandes, selbstgeschürft, in einem Beutel aus 2200 münN. eingepackt und im Rucksack nach Hause getragen. Später getrocknet und gesiebt. Ich muss etwas besonderes daraus machen. (…) Murmeltiere, Gartenschläfer, alles Wesen der Seelenwanderung. Auch die Preise hier haben Seele und wandern. Früher war hier Schmugglergegend. (…) Heute wird in moderner Alpenarchitektur gebaut. Viel Stein, oft Burgcharakter. Schießschartenfassaden, daneben große Rosettenfenster. Manchmal etwas zu psychologisch, auch ggf. psychopolitisch. Nicht ganz schlecht ästhetisch bzgl. „Modernes Bauen“. Gleichwohl stets sicherlich sehr hochpreisig. Und dadurch auch komisch maniriert. Beinahe lustig in Rezeption, oft wohl Architektur für Architekturmagazine. Gezeigter Reichtum und Ferienwohnungen, die Vorhänge sind geschlossen und sie zeigen sich auch so. (…) Ins Bergell hinab, kaum zu glauben immer wieder, wie man Meter um Meter die klimatischen Zonen sich verändern spürt. Nach Soglio von unten hinaufgefahren. Dort könnte man eigentlich auch einmal urlauben. Eigentlich. Aber doch lieber von oben ausflugen. Oder über den römischen Septimerpass von oben hinunterlaufen, acht Stunden lang von Maloja aus, über den Lunghin-See. 800 Meter tiefer liegt das, als die Villa. Und dann noch weiter nach Chiavenna, Italia. Es macht *pling pling*, willkommen in der EU. „Roaming“ etc. Dort war mal kurz E-Mails lesen und sehr warmes Italiengefühl mit Caffè. Später retour hinauf in endlosen Serpentinen, wo es bereits gewittert und später abends alpin empfindlich kühlt. (…) Die Rückfahrt im strömenden Regen. Seit letztem Jahr wissen wir ja, dass Regen gutes Wetter ist, allgemein und für uns alle. Früher war Regen blödes Wetter. (…) Es ist ein wunderbarer Ort, gerne würde ich dort einmal in Ruhe Berge, Barrieren und Brüste malen. Und mehr noch – alles, was für mich jemals WAR, in kleinere Pappen packen, im Bild. Expressiv, dabei überlegt und sowieso stets auratisch. Oder, wer weiß, dann eben doch, dort, ganz anderst. (…)“
Ja, die Murmeltiere und die Gartenschläfer sind, wie die Dachse, Grenzgänger, die immer um Vermittlung bemüht sind. Der wunderbare Charles Foster schreibt: „the badger carried between the world above and the world below the words that interpreted each side to the other. It enabled each side to make sense of its context and hence of itself“ („Being a Beast“, 2016)
Interessant. Wie kommt’s denn eigentlich zu dieser Einschätzung? Dachse gab es hier auch früher, im Wald einen ganzen Hügel mit Dachsbauten. Seit Jahren verwaist.
Der Grund für diese Einschätzung („ma fancy“ scheibt Foster) ist eigentlich das Interessanteste. Es gibt wohl einen keltischen Heilgott mit Namen „Moritasgus“, was übersetzt „Großer Dachs“ bedeutet. „Tasgus“ wiederrum könne man auf das Altirische Wort „tadg“ zurückführen, einer von vielen Bezeichnungen für Poet (heute noch im Englischen bADGer). Foster schreibt: „Such was the knowledge of the power of words in the world that the functions of the poet and sharman (…) tended to merge. Yet the fact that the badger was seen specifically as a word bearer, a logo-smith, an incantator, is significant.
sehr interessant. wäre noch die frage, ob dachse gelegentlich, wenn es ihnen passt, auch gartenschläfer fressen. ein weites keltisches (und schönes) feld.