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früher tran

draußen fallen die äpfel jetzt im minutentakt, die frühglocke läutet übers tal und ruft zur dörflichen mühsal. ich ahne, es schmeckt in der luft, ich weiß nur noch nicht wann: leuchtend hellblaue augen zu sehr dunklen haaren vermögen mich fast immer noch umgehend flachzulegen.

in der ferne

im „brown sugar“ gewesen, mit den stuccateurkollegen. reservierter tisch, fünf stunden lang zu laute musik, aber wenigstens die neue von AC/DC, immerhin. eine gute truppe, die baustellentruppe. der mit dem fehlenden lungenflügel ist vor fünf wochen großvater geworden (fünf kinder, drei mütter und jünger als ich, WOW!), wusste ich noch gar nicht. der cabriofahrer modelliert gerne in seiner freizeit rolling-stones-zungen. dan, der musizierende kalifornische malerhelfer, rät mir vom porsche ab und ich glaube ihm sogar kurzfristig durch seine brille, er ist der ältere. und der älteste mit den lachenden augen (er schreibt rechnungen und angebote immer noch mit hand, alle belächeln ihn deswegen) erzählt vom LSD damals in ansbach und wie er sich und ein paar desertierte amis selbst einliefern wollte ins krankenhaus (es aber dann doch gelassen hat). und dann, zwei tage später in gutmenschtown, das hundertsoundsovielte stiftungsfest, ich bin seit sechzehn jahren zum ersten mal auf dem haus in prominenter lage. bin ja ‚alter herr‘ (aber ich kann es begründen und entschuldigen!), kein normales mensurdingens, nein, eher ein aufgeklärter haufen. es ging um die drohende auflösung der ganzen sache, aber es gibt doch tatsächlich junge leute, die wieder utopien entwickeln. also keine auflösung, stattdessen sogar ausbau des verbindungshauses. akademisches prinzip sowie männerausschließlichkeit wurden bereits um neunundsechzig abgeschafft. und wir haben später den korporierten farbenträgern „kappaseckl!“ nachgerufen und manch einen wirklichen schmiss riskiert dabei, denn die echten burschenschaftler fanden das nicht witzig bei ihrem blödsinnigen mai-singen. wir haben den germanen und den schotten die fahne vom dach geklaut und albert schweitzer ist ehrenmitglied (soviel zur entschuldigung). und jetzt ist es schön zu sehen, dass nach jahrgängen von reinen geldehrgeizlern visionen nachwachsen. da macht der generationenvertrag spaß, die alten finanzieren den jungen den raum zur erprobung, leitbild oder irgendein codex werden aus prinzip nicht formuliert (schönes prinzip, nicht?). da krieg ich richtig lust, ein zweitstudium dranzuhängen oder noch eine lehre. jedenfalls, rauchen darf man jetzt nicht mehr im saal und gekocht wird vegan, um quasi den kleinsten gemeinsamen nenner für eine offene tafel zu schaffen und gleichsam auf die problematik globalisierter ernährungswirtschaftskartelle aufmerksam zu machen, oder so ähnlich. schmecken tut das nicht, kühles bier ist – anders als früher – auch schwer zu finden und den beachtenswerten begriff „permakultur“ kann mir so recht keiner erklären (ich assoziiere zunächst „sperma-kultur“), aber die zeiten dürfen sich ja auch manchmal ändern. die jungen reden von vernetzung mit selbstverwaltungsprojekten, attac-modulen (kooperation) und syndikaten von „umsonst-läden“. und sie studieren fast alle geoökologie (vormals paläontologie?). früher waren das die sozpäds, noch früher die historiker (sodann ‚politologen‘) und ganz ursprünglich die evangelischen theologen. zuletzt singen alle den KÖNIG VON THULE, das ist tradition seit ungefähr 1893, ergreifend. alle, die pastorin, der ehemalige berufsverbotler, der unternehmer, der zimmermann (jetzt geoökologie), die friseuse (jetzt geoökologie), die tontechnikerin, der psychotherapeut (vormals geoökologie) sowie die töpferin. irgendwie hat das schon was. und irgendwie ist so ein abend im „brown sugar“ zwar zunächst etwas komplett anderes, aber so ganz anders vielleicht ja dann doch nicht. aber bei dem allem, ich habe große sehnsucht nach berlin, nach dem allem, denn dort muss man über so etwas eigentlich gar nicht mehr reden (geschweige schreiben). aber das wird noch ein paar wochen dauern, denn der winter will schließlich finanziert sein aus der ferne.

fensterschreiben

diese unendlichen welten weltlicher beliebigkeiten lassen sich wohl und immer wieder am ehesten durch zeichung und papier verdeutlichen. das formale als hilfestellung eines schier gar unmöglichen vorhabens, welches noch nicht einmal als sinnvoll erscheint. selbst gemeinhin schönes, also autos, landschaft, kuben, blumen, portraits oder nacktes birgt folgeprobleme der farbwahl, des materials, der größe und vor allem der geste, ebenso übrigens mögliche verächtlichkeiten darüber. es ist wie fensterstreichen, welches manchesmal erfüllender und empathischer ist, als aufgebauschtes. selbst die ‚reihung‘ als filmisches mittel wird irgendwann problematisch bei der suche nach der wahrheit im detail. es werden die teilrepubliken bleiben, mehr scheint nicht möglich zu sein im großen ganzen, außer dem geldverdienen über mögliche reproduktionen seiner und derer selbst. nein, es sind immer wieder die zwischenräume, die erfüllen, die wahr und ‚eigentlich‘ sind und dazu vielleicht ein stück guter musik, welche ebenso denkt. weiterhin noch der moment natürlich und die eigene befindlichkeit. immer wieder also die rückkehr zum papier, zum stift und zur schere, zum gedanken an sich und dort ist auch der buchstabe dann nicht weit und das foto. der herrgott würde fotographieren, wenn er kunst machen müsste. die strapazierte subjektivität als geißel und chance in und seit jahr und tag. man kehrt dann gerne zurück zu einem strauß blumen, den es zu schultern gilt. ich muss nicht, ich will.

prof.schiwago

der dorfbüttel kommt mit seinem holder angerast, parkt rückwärts ein und ist erstmal empört, dass er mit anpacken soll. davon habe der ortsvorsteher nichts gesagt. wir also rein ins haus. im keller steht das gute stück, ein lehrerpult aus der alten dorfschule. damals haben sie das mobiliar verkauft und george schiwago hatte das seltene möbel erworben. schiwago selbst ist schon abgereist nach den USA, er wird nicht mehr ins dorf zurückkommen. er ist achtundachzig, seine frau ist gestorben, er verkauft das haus und verschenkt das alte lehrerpult an das dorfmuseum, welches der örtliche kulturverein einzurichten plant. die putzhilfe olga von nebenan hilft, weil der büttel einen bandscheibenvorfall hatte. wir heizen runter ins dorf, er parkt abermals mit dem holder rückwärts ein, obwohl das gar nicht nötig wäre, und wir schleppen das teil in die lagerscheune. schiwago war 1920 geboren worden, in st. petersburg. mit zwei jahren setzten ihn seine eltern in einen zug nach litauen, wo er bei seinen großeltern aufwuchs. seine jüngere schwester, die er nie gesehen hat, starb in den dreißiger jahren an meningitis, die eltern sind später in st. petersburg verhungert. noch während des krieges studierte er in berlin und dann in münchen chemie. er habe viel glück gehabt, sagte er mir im frühjahr beim letzten gemeinsamen tee, zu dem er mich eingeladen hatte. insbesondere, da er nicht zur wehrmacht oder gar zu weit schlimmeren einheiten eingezogen worden war. nach dem kriege promovierten er und seine kroatische frau in innsbruck, übersiedelten danach nach australien und in den sechzigern dann nach chicago, wo er eine professur bekommen hatte. ich lernte schiwago mit acht jahren kennen, als er als untermieter ins seit zwei jahren verwitwete elternhaus einzog. er war gastdozent in der nahen kleinstadt und freundete sich alsbald mit der mutter an. ich erlebte vier schöne jahre mit ihm, schön auch, weil ich spürte, wie gut es meiner mutter ging mit ihm. er war lustig, er trank gerne vodka, wurde dann immer lustiger und sang alte litauische lieder oder den doktor schiwago mit zuletzt immer irgendwie tränen in den augen. er erzählte wilde geschichten von früher. er sagte „gnädige frau!“, was mir imponierte, und die beiden bereisten auf der straße und während einiger kreuzfahrten so allerlei länder. er fuhr einen weißen porsche, er ritt und er focht und alles an ihm roch immer nach leder. er liebte meinen hund, brachte diesem das bellen bei und aus meiner sicht hätten die beiden ein gutes paar gegeben und ruhig zusammenbleiben können. irgendwann dann aber kam meine mutter einer anderen dörflichen liäson auf die spur und das verhältnis kühlte ab. schlussendlich wohnte seine inzwischen angereiste frau für ein paar monate zur untermiete im haus, während ein paar meter weiter ebenjenes entstand, welches nun verkauft wird. frau dr. schiwago hat man all die jahre nie gesehen, keiner. es heißt, sie las den ganzen tag kriminalromane und trauerte auf dem sofa der kuk-monarchie nach. und sie mochte keine kinder. ihr toilettenstuhl steht jetzt noch am bett, im regal die krimis, das grundstück ist mit den hohen bäumen sehr eingewachsen und wirkt ein wenig unheimlich. die ältere schicke nachbarin, die den schlüssel verwaltet und von der ich mir als jugendlicher immer heimlich gewünscht hatte, dass sie mir zeigt, wie der sex geht, die jedenfalls meinte, ich könne alles, was ich haben wolle, gerne mitnehmen, der rest würde ohnehin von der entrümpelung abgeholt. nach anfänglichem zögern habe ich mir also einen echten kleinen perser ausgesucht. eine reitgerte, einen reiterhelm für den kirschkern, einen eins-a zeiss/ikon-diaprojektor, eine unbenutzte nagelschere, ein salzfass von mies van der rohe, ein schönes schnapsglas. den harman-kardon röhrenverstärker habe ich dortgelassen, nicht jedoch die gut erhaltenen lederhandschuhe sowie eine neuwertige packung brillenputztücher, zur erinnerung. das also war mister schiwago, der natürlich nicht schiwago hieß, sondern anders, aber mindestens ebenso schön. möge er also noch lange leben da drüben am großen see.