Kompost

Seltsame Blüten, da gratulieren bei Zuckerberg Leute Leuten zum Geburtstag, obgleich die beglückwünschte Person vor bereits einem halben Jahr verstorben ist. Sogar „herzlich“. Oder sie wünschen schlicht „Best!“. Mit Ausrufezeichen, gar aufpoppenden Herzchen. Es sind ja oft diese kleinen Erledigungsfallen, gerne im Prominentenzusammenhang. Zeigen, wen man kennt. Auch wenn man nicht beachtet. Die Info übers Ableben ist eben durchgerutscht. Und noch schlimmer: Diese Peinlichkeit interessiert niemanden. Schön finde ich das nicht. Nicht nur, weil es sich nicht gehört.

Dazu: Alle geben ja jetzt ihre Auszeichnungen zurück, die Musiker ihre Echos und die Giftgasdiktatoren die Medaillen der Fremdenlegion. Auch ich gebe nun meine sämtlichen Preise und Medaillen hiermit alle vorbeugend zurück. Bevor sie mir noch aus irgendeinem Grund aberkannt werden. Das wäre ja noch schöner. Gegen moralische Zweitverwertung lässt sich ja nichts einwenden.

(Und wer lässt sich heute schon noch verprügeln für seine Überzeugungen.)

Am vergangenen Sonntag, nach einer langen Zugfahrt auf Gangplatz ab Südkreuz, gewollt und selbstentscheiden ohne weitere Beschäftigung über sieben Stunden, als dem reinen Nachdenken und endlich einmal ziellosem Dösen, dachte ich in mein kleines Kopftagebuch hinein:

„Imgrunde habe ich mein ganzes Leben lang meinen Bauch eingezogen.“

Egal, ob ich gerade einen kleinen hatte, oder ob ich, in anderen Jahren, aussah, als wäre ich irgendeiner Kriegsgefangenschaft frisch und mit erheblichen Mängeln entlassen.

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Der Satz mit dem Baucheinziehen gefällt mir. Weil er so schön nach Kulturtheater klingt und nach inszeniertem Lebenswerk. Wie ein Selfie voll mindestens doppelt gebrochener Weisheit. Und weil er so blöde ist. Am Ende und durchgedacht, genudelt, im Pansen. Haarscharf an einem Horizont vorbei, den ich nicht will. Und den ich nicht mag. Und andererseits, weil es stimmt. Das mit dem Bauch. Eine Art Anzug, vielleicht meinem Alter entsprechend. Kein weisses Hemd, eher vielleicht ein schlichtes Langärmchen mit V-Ausschnitt, ohne Allüre oder Linkswaschen allerdings, bitte.

Ich bin nicht reif, höchstens vielleicht gereift. Aber ein Apfel bin ich auch nicht oder eine Birne. Wenn man gereift ist, dann gehts nicht weiter, dann fällt man irgendwo runter. Im besten Fall wird man dann von Irgendjemandem eingesammelt. Zu einem Zweck, bei dem man nicht mitreden konnte. Immer, wenn ich eine Birne werden sollte, dann habe ich die kurz vorher in eine Hecke geworfen, halbgegessen. Das Kernhäuschen der kleinen Äpfel ebenso. Gematscht, gespuckt. Auch die grüne Mitte von Karotten. Ich mochte mich so ungern auflesen lassen.

Gespuckt in irgendeinen Winkel, seis Natur, seis Bolzplatzgrün oder auf Hänge von Gleisen. Wahrscheinlich lebe ich deshalb noch. Wegen der fehlenden Wertschätzung von Sinn. Meiner gesteuerten Gesamtverweigerung von Erkenntnis. Und so soll es auch bleiben. Nur so funktioniere ich. Krieg ich Luft. Im Baucheinziehen oder Rausstrecken. So einfach scheine ich geschaffen worden zu sein. Oder eben offenbar gedacht, geplant, angelegt: Irgendwas mit Kompost.

Ich verneige mich und meinen Bauch vor diesem Mulch, woher auch immer dieser rührt, für den ich nichts kann. Ich habe keine Ahnung. Selbst mutzumaßen weigere ich mich aus Demut. Zuletzt denkt man dann ja an Spirituelles. Schwamm drüber, Glück gehabt. Einfach weitermachen. Aber wenns mich mal erwischt, dann soll keiner mir mehr zum Geburtstag unter die Krume gratulieren. Und schon gleich gar nicht im Gottesacker Internet.

würd ich twittern

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(…)

Würd ich twittern, würd ich twittern: „Ist ja schon eine Hübsche, die Tochter von diesem russischen Doppelspion.“

Ich twitter aber nicht. Über Ostern pflege ich die alte Dame nun eine Woche lang. Sie wird immer schwächer. Manchmal bin ich jetzt ihr Mann, manchmal ihr Vater. Und manchmal ist meine Frau nun ihre Schwiegermutter. Aber nur manchmal. Meistens ist ihr Geist klar wie Glas und Kloßbrühe.

Sie kaut den ganzen Tag lang ungesalzene Erdnüsse, Butterkekse oder Weintrauben, die sie aus den kleinen Schälchen an ihrem Wohnzimmerplatz ertastet. Sie hat die Augen meist geschlossen, das Kauen ist eine Art Mantra für sie. Sie kaut auch, wenn sie eigentlich gar nichts im Mund hat. Und schaut dann ab und an mit ihrem verbliebenen einen Auge über die Terrasse hinüber zur blauen Mauer, den dunstig schimmernden schönen Linien der schwäbischen Alb in der Ferne. Vorbei an dem alten Vogelhäuschen, einst für sie gebaut vom Wagnermeister Gustav, der sich sogar noch erinnern konnte, dass die Leute im Dorf anfangs meinten, die Milch würde sauer und die Kälber missgebildet, wenn man die Kühe mit der neuartigen Eisenbahn transportieren würde. Das muss sehr lange her sein.

Denkt an Cuxhaven, ans Heidelberg nach dem großen Kriege, an Hamburg und an Pillau in Ostpreußen. Und an Kiel und an Berlin, dort vor allem an Lankwitz. Und wie ihr Papa, der Haudegen von der Marine, es nicht schaffte, ihre Lieblingspuppe aus dem zweiten Stock vor den Flammen zu retten nach einem vermutlich englischen Luftangriff auf die S-Bahngleise, bei dem auch das nahestehende Mietshaus abbrannte. Und wie ihm dann das Metall der vor Hitze schmelzenden Dachrinne auf die Marineschirmmütze tropfte und er nur deshalb davon kam, weil er eben diese Schirmmütze trug.

Viel später war ich oft mit der Kirschkern im Stadtbad Lankwitz, kaum zwei Steinwürfe vom damals abgebrannten Areal entfernt. Es heisst heute „Bernkastler Platz“ und ist ein Pärkchen. Früher hieß es „Im Rosengarten“. Dahinter die Bruchwitzstrasse. Man sieht noch vom Satellit aus, wo das Gebäude einst stand. Heute vielleicht ein kleiner Fussballplatz, wo einmal ein Kleinkind am Rattengift tragisch verstarb. Immer diese Orte.

Und denkt an ihren Mann, der schon seit zweiunffünfzig Jahren nicht mehr da ist. Sechs Jahre lang waren sie verheiratet gewesen. Richtige Mahlzeiten gibt es für sie nicht mehr. Höchstens, die Kirschkern und die Familie kommen hinauf zum Waldrand mit dem Essen aus dem Pfarrhaus, auf Rädern und aus Kisten. Schnell ist dann der Tisch gedeckt, damit nichts kalt wird. Sie isst auch dann kaum etwas, genießt aber die vielen Stimmen. Das ist das schönste, sagt sie, die Stimmen und das Palavern, gerne auch durcheinander.

Morgen früh fahre ich sie ins Krankenhaus, wo dann ihr Blut irgendwie aufgefrischt werden soll. Ihr Hämoglobin ließe zu wünschen übrig. Deshalb fällt mir das alles gerade wieder ein. Man weiss ja nie, was übermorgen ist. Und auch, weil es jetzt so oft so traurig ist alles. Dabei doch so reich.

Ich wiederhole mich mit diesen uralten Geschichten. Das ist nicht gut. Daher plane ich, bald auch einmal die Story dieses kleinen Glassplitters endlich aufzuschreiben, der mir seit bald einer Woche schmerzlos aus der rechten Hand wächst. Wie in fast jedem zweiten oder dritten Frühling.

Solche Vorgänge sind mir eher fremd und ungewöhnlich, weil ich ja schon als Kind, hinter der vorgehaltenen Hand einer Lieblingsnenntante ungeklärt halbadliger Herkunft, hörte, dass grausame Berichte über nach Jahren der Wanderungen im Körper wieder auftauchende Glassplitter schlicht Erfindungen von meist geheimen politischen, medizinischen oder religiösen Verschwörungen seien, die den klaren Fortgang der Welt mit solchen Erzählungen missbrauchend beeinflussen wollten.

Es war ein heisser Sommer im Ungarn von 1990, im kleinen roten Peugeot, als die Mineralwasserflaschen noch ausnahmslos aus Glas waren. Ich trug Sandalen und stolperte über eine Bordsteinkante am Donauknie mit zwei solcher Flaschen in den Händen. Würd ich twittern, ich würde jetzt also im Übersprung twittern: „Ist ja schon eine Hübsche, die Tochter von diesem russischen Doppelspion.“